Alle zwei Stunden höchstens zehn Minuten Pause

Anna Woltz schreibt von Haifischzähnen und der Umrundung des Ijsselmeers

Von Susanne MarschallRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Marschall

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was ich heute tun muss, das geht nicht zu zweit. Vielleicht kann ich es nicht mal allein.“ Sie radelt schnell weiter, hoch auf den Deich, dreht sich nicht nach dem Jungen um: Diesem Blödmann, der grundlos gebremst hat, sodass sie mit Karacho in ihn reingerauscht ist, all ihre Sachen aus der Fahrradkiste geflogen sind und sie die Straße geknutscht hat: Ihr Ellbogen ist ordentlich aufgeschrammt, blutet, tut weh. „Wenn man an Schmerzen denkt, tut es sofort extra weh. Genau darum bin ich hier.“ Aber sie ist keine Heulsuse, braucht niemandem leidzutun, erst recht nicht diesem Jungen. Mitleid bekommt sie nämlich schon im Überfluss: von der ganzen Schule, allen Verwandten, den Nachbarn, ihrem Fußballteam. Aber er besteht darauf, sie zu verarzten und zaubert ein Pflaster aus dem Täschchen unter seinem Sattel hervor.

Letzte Nacht hat sie einen Plan gemacht: Alle zwei Stunden darf sie höchstens zehn Minuten Pause machen, sonst schafft sie es nicht. Sie muss sich sputen, die verlorene Zeit einholen. Sie rast auf dem Deich entlang, kann endlich atmen: „Sonst wäre es ja genau wie zu Hause. Da hocken Papa und Mama und warten. Was immer sie auch tun, so feste sie auch staubsaugen oder Gemüse schnippeln oder auf die Tastatur einhämmern, eigentlich halten sie nur den Atem an und warten.“ Und plötzlich ist dieser nervige Junge wieder da, streckt ihr angeekelt einen Ast entgegen, an dem ihre „Nachtzahnspange“ baumelt – hat sie wohl beim Crash verloren. „Eigentlich ist das völliger Unsinn, weil ich diese Nacht ja überhaupt nicht schlafen werde. Aber heute Morgen, beim Packen, dachte ich: Warum nicht. Und was immer danach passiert – morgen, später… Dann habe ich auf jeden Fall gerade Zähne.“

Er lässt sich nicht abschütteln, plappert drauf los. Erzählt, dass er Finley heißt und 33 Finley-Jahre alt ist: „Wie Hundejahre, aber eben für mich gerechnet.“ Und erwartet eine Antwort. Widerwillig sagt sie ihren Namen: „Atlanta? Echt? So heißt niemand!“ Ihre Eltern wollten über den Atlantischen Ozean von Europa nach Amerika segeln: „Drei Monate auf dem Meer, das war ihr Plan. Aber bevor es losging, bekamen sie mich. Und dann war ich eben der Plan.“ Finley kann‘s nicht glauben, findet Eltern sowieso blöd: „Deine auch, so viel steht fest. Wer entscheidet sich denn bloß für ein Baby, wenn er einen Ozean kriegen kann?“ Dann bohrt er auch noch in ihrer frischen Wunde herum: „Überall sehe ich diese Segelfamilien. Lauter lachende Väter mit lachenden Müttern und glänzenden Booten ohne einen einzigen Kratzer.“ Und Atlanta „mit ihren schiefen Zähnen“ zwischendrin. Das tut ihr so richtig weh, weil es so wahr ist, denkt sie: „Zu hundert Prozent. Ein lachender Vater mit einer lachenden Mutter und einem Mädchen, das dachte, es seien immer Ferien. Bis plötzlich keine Ferien mehr waren.“

Schon nach den ersten Zeilen ist es um einen geschehen: die Haifischzähne haben zugebissen, lassen nicht mehr los: Anna Woltz ist eine brillante Erzählerin, die mit wenigen Worten einen unwiderstehlichen Sog zaubern kann und den Leser mitten ins Geschehen katapultiert. Ihre liebevoll gezeichneten Teenie-Protagonisten strahlen von Anfang an eine quirliglebhafte Präsenz aus, dass man ihnen ganz nah kommt – ihren Gedanken, Gefühlen, ihrer Geschichte. Die Woltz aber nur häppchenweise oder vage preisgibt, in einer bildermalenden Sprache mit zarten Untertönen und humorvollen Situationen, bis sich die Puzzleteilchen zu einem großen Ganzen zusammensetzen:

Finley ist abgehauen, weil seine Mutter ihm im Streit gesagt hat, dass sie bereut, ihn bekommen zu haben. Er stiehlt dann – mehr aus Verletztheit als aus Rache – ihren Haifischzähne-Glücksbringer. Atlanta, die Ich-Erzählerin, ist eigentlich weich und sensibel, versteckt unter ihrer Ruppigkeit die schreckliche Angst, ihre Mutter an den Krebs zu verlieren. Für ihn ist das Ganze nur ein spielerisches Abenteuer, deshalb hat er auch im Gegensatz zu Atlanta weder Proviant noch Klamotten noch einen Schlafsack dabei. Finley hat auch kein Ziel, nur weg, sie weiß ganz genau, was sie macht. Bis endlich auch er kapiert, warum Atlanta um das Ijsselmeer radeln muss, 360 Kilometer nonstop an einem Tag: „Darum wolltest du weiterfahren, obwohl du nicht mehr konntest? Weil du gehofft hast, dass deine Mutter wieder gesund wird, wenn du…“ Beide haben etwas verstanden, über sich, den anderen, das Leben, sind ein bisschen reifer geworden. Und Atlanta, die Finley am Anfang unbedingt loswerden wollte, will absolut nicht mehr ohne den neuen Freund sein: Schließlich haben sie es geschafft – und das ging nur zu zweit.

Titelbild

Anna Woltz: Haifischzähne.
Mit Vignetten von Alexandra Hei.
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann.
Carlsen Verlag, Hamburg 2020.
89 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783551555151

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch