Giraffe, Nashorn, Dachs und Freesie

Zum elften Mal gibt die Internationale Jugendbibliothek ihren Kinderkalender heraus

Von Susanne MarschallRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Marschall

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich werde es nicht ausprobieren. Schon allein der Gedanke, am Frühstückstisch zu sitzen und von einer nackten Wand angestarrt zu werden, ist mir ein Graus. Meinen schlotzigen Ziegenmilchkaffee mit einem angegrauten Gegenüber zu schlürfen, mittendrin ein akkurates, weißes Rechteck, das sich womöglich auch noch selbst über seine Leere schämt? Nein, das ist schlichtweg inakzeptabel: Ich kann nicht auf diesen Kalender verzichten – will es auch gar nicht. Und dieser Platz an der Wand schreit förmlich nach ihm und seinem witzigen, originellen, humorigen, hintergründigen, lustigen, klangfarbigen, tiefsinnigen, perlenglitzerig prallem Gebunte…

Sie ist groß, die braungefleckte Giraffe – wolkenkratzergroß. Kann den beiden bizarren Bäumen mit dem Fingergeäst auf ihr grünes Gebausche spucken. Selbst die zwei weißen Reiher mit den langen knallroten Schnäbeln, die es sich auf dem Baumgrün gemütlich gemacht haben, sind perplex ob solch einer Riesenhaftigkeit. Irrsinnig lang ist ihr Hals, und sie schaut ein bisschen treudoof den Vögeln nach, weit oben im blauen Himmel. „Und der Rücken der Giraffe ist schräg. Sie lässt niemanden drauf sitzen.“ Wie wahr, ein Reittier ist sie bestimmt nicht. Dafür etwas anderes: „Für den Wind eine sanfte Rutschbahn.“

Kristallklar ist das kurze Gedicht der Japanerin Etsuko Bushika und gleichzeitig verspielt in seiner entwaffnenden Einfachheit. Und der Schalk sitzt dem kleinen Text im Nacken. Lässt ihn einen vergnüglichen Haken schlagen mit dem schelmischen letzten Satz, der alles auf den Kopf stellt. Und so endet die unanfechtbare Tatsache, dass die Giraffe einen schrägen Rücken hat, in einer phantasievollen Laune. Von Jun Takabatake mit seiner grafisch-malerischen Illustration kongenial in Szene gesetzt: Wir dürfen nämlich dem Wind – vier zart hingehauchte Pinselstriche – beim Rutschen zuschauen. Und wenn man die Ohren spitzt, hört man auch sein säuselndes Gekicher dabei…

Wundervoll ist er wieder, der Kinderkalender, den die Internationale Jugendbibliothek nun schon zum elften Mal herausgibt. Wirklich der schönste aller Kinderkalender: Prall gefüllt und märchenhaft durchwebt mit regenbogenfarbigen Gedichten und Geschichten aus aller Herren Länder: klangvoll illustriert, bezaubernd komponiert. Und so enthüllt jedes der 52 Wochenblätter einen neuen Kosmos, ein betörendes Geglitzer aus Wort und Bild, dem der Grafiker Max Bartholl mit seinem feinsinnigen Gespür das letzte Quäntchen Leben einhaucht. Der jedes Kalenderblatt beseelt, japanische, koreanische, französische Originaltexte, russische, arabische und italienische, türkische, ungarische, irische, die in Fon oder Farsi mit der deutschen Übersetzung und den Illustrationen so arrangiert, dass ein schillerndes Gesamtkunstwerk entsteht.

Vom schlafwandelnden Dachs wird erzählt, der nachts auf den Kränen der Stadt balanciert: „Er klettert, krabbelt, springt und tingelt, kommt heim, noch eh der Wecker klingelt, wo er im Bett müde erwacht. Dasselbe Lied so jede Nacht.“ Auch der Bär im Zoo ist nicht gerade glücklich: „Ein trauriger Kerl, dazu weiß. Die Sonne ist heiß und Kinder mit Eis schauen ihn tagsüber an, und auch mehr.“ Einsam ist er, hat schreckliches Heimweh: „Ihm fehlen Kühle und Eis. Er kann in der Hitze bloß schwitzen, denn sein Mantel geht einfach nicht auf.“ Und der Pilot – sorry – „der Kapitän“ – der in seinem buntgestiftelten Flugzeug von Anno dazumal sitzt, „schwitzt, er steuert recht verwirrt, von Dutzenden Fliegen umschwirrt.“ Fast hört man es knattern und – ohwe: Es schwankt und torkelt. Da hat sich nämlich ganz frech eines dieser langrüsseligen Flattertiere direkt auf seiner Fliegerbrille platziert…

Theresie, die gefräßige Freesie, „ist ein Exemplar der breitblättrigen Art. Knirscht gerne mit den Zähnen und ist hellrot behaart. Der Speiseplan: variabel. Ihr Appetit: echt groß. Frisst Fliegen, Spinnen, Schaben und auch mal einen Kloß.“ Verschwunden ist sie, hat nur ein paar Knöchelchen im Treppenhaus liegenlassen – die Polizei tappt im Dunkeln. Aber es gibt da jemanden, der mehr weiß: „Ihr braucht sie nicht zu suchen im Garten und im Park. Ich weiß, wo man sie findet: Sie ist im Supermarkt!“ Die Schnecke ist da bescheidener: „Ich bin auf der Reise. Wenn ich alles durchgeschleckt habe, werde ich dir sagen, wie es ist. Ein Teller voll Geschmack der Erde.“

Das Meer sucht vergebens sein Kind, die Muschel, weiß nicht, dass Menschen sie mitgenommen haben. Das Nashorn dagegen ist plötzlich „nicht mehr allein, hatte deutlich das Gefühl, umflattert zu sein.“ Ein Getrippel und Getrappel und „das Gefühl so ungefähr, als spazierte jemand auf meinem Kopf hin und her.“ Lamentiert, „ich bin doch kein Hotel“, aber als die bunte Vogelfamilie dann weg ist, bedauert das Nashorn das doch sehr. Und Magla, „sollte sie sich für ein einziges Geräusch entscheiden, es wäre, sagt sie, das von Seifenblasen, wenn sie platzen.“

Es rauscht und wogt, haucht und tobt, klingt und singt aus dem Kinderkalender, dass es eine wahre Freude ist. Es gibt witzigspritzige Gedichte und eilig zappelige, blumenumrankte und breit erzählende. Manche lärmen, andere flüstern, wieder andere musizieren. Sie sind arabesk und scharfsinnig, poetisch, philosophisch, politisch. Tönen sonnig und wonnig, traurig und schaurig, sind augenzwinkernd und geheimnisvoll, kicherig, hintergründig, skurril, verblüffend…. Werden durch die malerischen, flauschigen, traumverspielten – die geradlinigen, sachlichen, akkuraten – die wilden, schrillen, abstrusen und märchenhaften Aquarelle, Zeichnungen, Collagen, Graphiken, Malereien zu einem funkelnden Kaleidoskop. Jedes Blatt ist ein Feuerwerk für die Sinne, das charmant zum Weiterspinnen der Geschichten verführt…

Kein Bild

Der Kinder Kalender 2021. Mit 52 Bildern und Gedichten aus der ganzen Welt.
edition momente, Hamburg 2020.
60 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783036050218

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