Wenn der Mensch in seiner Qual verstummt

Peter Handke erzählt das Drama des „Zdeněk Adamec“

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Hand halte ich etwa 70 Seiten in einem übergroßen Taschenbuchformat. Dem eigentlichen Text stehen eineinhalb Seiten kursiv gesetzte Regiebemerkung voran, in der die Art des Stückes bezeichnet – Eine Szene –, der Raum als „öffentlicher Ort“ beschrieben wird, „möglicherweise ein ehemaliges Klosterrefektorium in der spanischen Provinz Ávila, oder wo, oder der Kleinstadt-Tanz-und-Festsaal, mit einer (leeren) Thekenecke, von Humpolec in Böhmen, oder wo, Zeit: jetzt oder sonstwann“. Es geht also um eine Art immerwährendes Geschehen, eine conditio humana, die über Zeiten und Kulturen hinweg beobachtbar ist. Thematisch abgehandelt wird schließlich, was in der Strophe, die Peter Handke dem Text als Motto aus der Ballade Čest, pravda, talent des tschechischen Folksängers Josef „Pepa“ Nos auf Tschechisch und Deutsch vorangestellt hat, so erzählt wird:

Ehre, Wahrheit, Talent und
Gottesgaben,
zahlen, Mädchen, in dieser Welt sich nicht aus.
Wer sie hat, wie Zdeněk Adamec,
verliert am Ende alles“.

„Die Geschichte vom Zdeněk Adamec ist keine typisch tschechische. Und außerdem nicht aktuell“, meint gleich zu Beginn eine der Stimmen, die gemeinsam und gegeneinander, zustimmend und ablehnend, melancholisch und nüchtern, heiter-ironisch und apriorisch-moralisierend, anekdotisch-abschweifend und kritisch-nachfragend das Geschehen vorstellen. Auch das ein Hinweis auf den perennialen Charakter des Dramas, des Laufs der Geschichte.

Im März 2003 hat sich der 18-jährige Zdeněk Adamec aus Humpolec auf dem Wenzelsplatz in Prag vor dem Nationalmuseum mit fünf Litern Benzin übergossen und dann ein Streichholz entzündet. Er starb 40 Minuten später auf dem Weg ins Krankenhaus. An derselben Stelle hatte sich 1969 Jan Palach wegen der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings das Leben genommen. Was hat Zdeněk Adamec in den Abgrund des Suizids geführt?

In einem Abschiedsbrief – „Der Inhalt steht auch im Internet, sein Leiden sucht einen Sinn.“ – nennt sich Zdeněk (ich zitiere daraus) ein Opfer „des sogenannten demokratischen Systems, in dem aber nicht die Menschen entscheiden, sondern Geld und Macht.“ Viele Fragen: Wollte er berühmt werden? Wollte er sich „weghieven, weglupfen“, war es Flucht? Fühlte er sich als Kreuzritter für die richtige Sache? „Wie kann man bloß solch einen Blödsinn sagen!“

Handkes Figuren sind beunruhigt, berührt, gelassen, zornig auch und suchend optimistisch. Sie fragen, behaupten, deuten an. Wünschte sich Zdeněk das Wunder einer neuen Ordnung der Welt?

„Wünschte der es denn, das Wunder?“
„Ja doch: bis zum letzten Moment, und besonders da.“

Die Szene Handkes lässt alle Antworten offen, zeigt, was gewonnen werden kann, wenn man einmal nach dem „Immerwährenden“ und nicht nach dem „Aktuellen“ fragt, ist angreifbar und bewegt Leser und Zuschauer. Ein kleines Kunststück, das Publikum und Leserin/Leser herausfordert selbst zum Dichter zu werden. Vor etwa zweihundert Jahren hat man das so ausgedrückt: Die Welt muss romantisiert werden.

Titelbild

Peter Handke: Zdeněk Adamec. Eine Szene.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
71 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429204

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