Grenzen

Alexander Demandt verfolgt die Geschichte des Trennens und Verbindens quer durch die Jahrtausende

Von Rolf ParrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Parr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise


I. 

Wenn man vor sich ein Auto mit Aufklebern sieht wie, sagen wir, ‚Fußball ist toll‘, ‚Ich bin Harry-Potter-Fan‘ oder ‚I love New York‘, dann gerät man schnell ins Nachdenken darüber, ob das jetzt eine an die anderen Teilnehmer der Fußball-, Harry-Potter- oder New York-Gemeinschaft adressierte, also nach innen gerichtete Botschaft ist, oder den Nicht-Fußballspieler:innen, Nicht-Harry-Potter-Fans und Nicht-New Yorker:innen sagen will, dass sie eben nicht dazugehören. Was hier im Alltag sichtbar wird, lässt sich verallgemeinern: Grenzziehungen schließen – wie Norbert Wokart es formuliert hat – „einerseits ein, was zur jeweiligen Sache gehört, und sie“ schließen „andererseits aus, was nicht dazu gehört“.

Für Ernst Cassirer ist die „Kunst des Trennens und Verknüpfens“ – wie er in seinem Aufsatz Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum zeigt – geradezu eine „Grundform“ der symbolischen Konstitution abgegrenzter Räume, und auch Georg Simmel hebt in Brücke und Tür auf die dialektische Verschränkung von Trennen und Verbinden ab, in der er eine anthropologisch verankerte und kulturraumbegründende Aktivität par excellence sieht. Konsequenz aus solchen Überlegungen ist es, Grenzen nicht nur in ihrer Funktion des Trennens zu betrachten, sondern sie auch als privilegierte Zonen der Begegnung zu begreifen. So weist Simmel in seinen raumsoziologischen Studien darauf hin, dass Grenzen ursprünglich nicht als abstrakte Linien aufgefasst wurden, sondern umfangreiche Zonen leeren oder wüsten Landes markierten. Dieses Niemandsland erfüllte zum einen eine Schutzfunktion der Trennung: Der bedrohliche Andere sollte auf Abstand gehalten werden. Es diente aber auch der Verbindung: Der leere Raum ‚dazwischen‘ bot eine Zone der Unparteilichkeit, der Streitenden die Möglichkeit eröffnete, unabhängig vom Erwartungsdruck der jeweils eigenen Herkunftskultur zu einem Ausgleich zu gelangen, einen Raum der Begegnung und Verständigung mithin. Diesen Typus von Grenze hat Roland Girtler eine „‚lockere‘“ Grenze „zweiten Grades“ genannt. Grenzen ersten Grades wären dagegen alle nur schwer passierbaren Kontrollinstanzen, Grenzen dritten Grades solche, bei denen die Kontrolle nahezu verschwunden ist.

Allerdings scheint es so, als seien neutrale Zonen, die sich zwischen soziale Gruppen (Nationen, Kulturen, Klassen) schieben, in einer einerseits nationalstaatlich territorialisierten, andererseits aber zugleich auch globalisierten Welt (Beispiel ‚Schengen-Raum‘ mit seinen ‚Außengrenzen‘) rar geworden. Die Geschichte der Modernisierung ließe sich daher einerseits als eine des Verschwindens von Übergangszonen beschreiben, also als sukzessive Ersetzung liminaler Räume durch abstrakte Grenzlinien, welche die Territorien scharf voneinander sondern. Andererseits kann sie aber auch als die Geschichte der Entstehung neuer Übergangsräume erzählt werden, die bislang unbekannte Möglichkeiten des Konflikts, aber eben auch der Begegnung eröffnen. Man denke etwa an die ‚Contact Zone‘ zwischen europäischen Kolonisatoren und nicht-europäischen Kolonisierten, die diversen ‚dritten Räume‘ postkolonialer Prägung, in denen hybride kulturelle Identitäten ausgehandelt werden, oder an die sogenannten ‚offenen‘ Seegebiete (symptomatisch ist hier aktuell der griechisch-türkische Konflikt um die Nutzung von Erdgasvorkommen im Mittelmeer).

Deutlich wird bereits mit diesen wenigen Überlegungen, dass Räume und die sie konstituierenden Grenzen nicht nur geographische Gegebenheiten einer empirischen Wirklichkeit sind, sondern stets auch kulturell, politisch und sozial bedingt sind. Eine Grenze ist – wie es im Grimm’schen Wörterbuch heißt – eine (eben nur!) „gedachte linie […] zur scheidung von gebieten der erdoberfläche“. Schon das biblische Diktum „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ lässt sich in diesem Sinne als Akt der Etablierung zweier Räume und einer daraus resultierenden Grenze zwischen ihnen verstehen. Dies ist, wenn man so will, der Genotyp aller Semantisierungen und Diskursivierungen von Räumen einschließlich der sie unterscheidenden Grenzen zwischen hier und dort, Eigenem und Fremdem, Innen und Außen, Begegnung und Konfrontation, Identität und Alterität.

  

II.

Es sind solche gleichsam Urszenarien der Grenzziehung und ebenso der Grenzerfahrung, die Alexander Demandt in seiner großen Studie vom janusköpfigen Gesicht aller Grenzen sprechen lassen, denen er quer durch die Geschichte und zugleich rund um den Globus in Form einer ‚Weltgeschichte der Grenzen‘ von der Antike bis heute in großen Erzählbögen („Der alte Orient“, „Die Griechen“, „Rom“, „Germanen und Mittelalter“, „Die Neuzeit“, „Kriegs- und Nachkriegszeit“), innerhalb dieser großen Bögen dann aber auch durchaus im Detail, nachgegangen ist (so etwa im Abschnitt zur von Rom geplanten Elbgrenze).

Diesem historischen Durchgang vorangestellt ist ein bereits rund 150 Seiten umfassendes Großkapitel, welches die „Grenze als Grundkategorie“, aber gleichermaßen auch ‚Grundkategorien der Bestimmung von Grenzen‘ in den Blick nimmt. So wird einleitend der Etymologie des Wortes und Begriffs ‚Grenze‘ nachgegangen, worauf vier weitere umfangreiche Abschnitte zu Grundelementen von Raum- und Zeitgrenzen, von kosmischen und schließlich sachlichen Grenzen folgen. Seinen Leser:innen führt dieser handbuchartige Teil vor allem eines vor Augen, nämlich wie vielfältig das Phänomen ‚Grenze‘ wird, wenn man auch nur etwas genauer hinschaut und sich darauf einlässt, auch nur etwas eingehender darüber nachzudenken. Nicht unbedingt zu erwarten ist beispielsweise, dass bei den Raumgrenzen ‚Rahmen‘ und ‚Rahmungen‘ abgehandelt werden; bei den Zeitgrenzen solche des Lebensalters und der eine Punktgrenze setzende Begriff der ‚Gegenwart‘; bei den kosmischen Grenzen Urknall und Wärmetod; bei den sachlichen Grenzen Superlative und Rekorde; allesamt nicht unbedingt Aspekte, die einem bei der Rede von Grenzen als erstes in den Sinn kommen. Trotz des Umfangs eines eigenen Bandes ist die Darstellung in diesem Kapitel stark komprimiert. Nur wenige prominente Primärquellen werden genannt, auf das Nachzeichnen von Forschungswegen und die Diskussion einzelner Positionen wird nahezu ganz verzichtet. Ihrerseits komprimiert und pointiert zugespitzt wird Demandts an sich schon enorm dichte Darstellung hier und da zudem in Form von ‚Merksätzen‘, über die man gerne einmal eine Woche weiter nachdenken würde („Grenzen ermöglichen Raumerfassung und Raumbestimmung.“; „Räumliche Grenzen erscheinen in drei Grundformen: als Punkte, Linien oder Flächen.“), einschließlich der in der „Vorrede“ gemachten Bemerkung, dass sich die „Kenntnisse […] auf dem Papier schneller“ mehren „als in den Köpfen“. Um es auch einmal mit einer zugespitzten Formulierung zu versuchen: Demandt beschränkt sich in seiner Darstellung auf das, was in den ‚Köpfen‘ zu finden ist, und spart die mäandrierenden Fort- und Rückschritte auf ‚Papier‘ aus.

Insgesamt betrachtet hat Demandt ein im besten Sinne gelehrtes, von breiter Materialkenntnis nur so strotzendes Kompendium zur historischen Erforschung von Grenzen vorgelegt, in dem fündig wird, wer auch nur irgendein historisches Detail zu Grenzen und Grenzbefestigungen quer durch die Geschichte und rund um den Globus sucht. Dieses in kleine Unterkapitel aufgegliederte, additiv angelegte Kompendium ist jedoch auch eines, dessen untertitelgebende ‚Gegenwart‘ mit der Auflösung der Sowjetunion, dem Fall der Mauer und der Idee eines „Paneuropa“ von heute aus betrachtet ein wenig früh endet. Insofern ist der Untertitel nicht unbedingt glücklich gewählt. In früheren Zeiten hätte es wahrscheinlich etwas vorsichtiger geheißen ‚Von den Anfängen bis auf die jüngere Zeit‘.

Was man bei all den vorgestellten Formen von Grenzen quer durch die Jahrhunderte und Erdteile vermisst (und was das Fazit am Ende des Bandes nicht auffangen kann), das sind Bezüge zwischen den einzelnen Teilen, Kapiteln und Unterabschnitten sowie der – zugegeben schwierige – Versuch, größere Entwicklungslinien aufzuzeigen. Dennoch ist Demandts Weltgeschichte der Grenze(n) ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur historischen Raumforschung, von dem auch die Kulturwissenschaften und Philologien profitieren werden. Irritierend sind dabei aber einzelne, bei genauerer Betrachtung recht weitreichende, manchmal auch apodiktisch oder – wenn man es positiver formulieren will – aphoristisch wirkende Merksätze vom Typ: „Alles was Form hat, gewinnt diese durch seine Grenzen.“; „Wo die Eigenverantwortung für die Staatsgrenzen gemindert oder gar aufgegeben wird, stehen die drei Elemente der Staatlichkeit, stehen Staatshoheit, Staatsgebiet und Staatsvolk zur Disposition.“; „Versagt die Staatsgewalt, so obsiegt die Willkür.“ Sätze, ja fast schon Sentenzen wie diese konsequent zu Ende zu denken, würde nicht nur in die ‚neueste Gegenwart‘, die Aktualgeschichte, führen, sondern auch zu kontroversen Diskussionen.

Demandts Buch endet gleich dreifach: erstens mit dem Schluss des Abschnitts zu Paneuropa und dem pathetisch vorgetragenen Wunsch, die Regierungen mögen mit „Einsicht und Kraft“ durchführen, „was sie für richtig halten, um Schäden für den Staat, dem zu dienen sie sich verpflichtet haben, nach dem Maß des Möglichen abzuwehren“; zweitens endet das Buch mit einem „Fazit“, das zunächst den Tod als absolute zeitliche Grenzsetzung zur Bedingung der „Möglichkeiten alles Handeln[s]“ erklärt, um dann (wenig systematisch) noch einmal einzelne Fragen gegenwärtiger Grenzpolitiken (teils in Kombination mit Sentenzen von Seneca, Habakuk, Horaz und anderen mehr) Revue passieren zu lassen. Dabei wird die aktuelle politische Situation als „generelle[s] Grenzproblem“ gefasst: „Sollen wir die Durchlässe der Grenzen im Interesse von Wirtschaft und Wohlstand ausweiten oder eher im Interesse von Schutz und Sicherheit einengen?“ Drittens schließlich endet das Buch mit einem halbseitigen „Nachtrag aus gegebenem Anlass“, mit dem die Corona-Pandemie gemeint ist. Mit ihr sei die „Bereitschaft, die Grenzen zugunsten der Fremden zu öffnen“, „zurückgetreten hinter das Erfordernis, die Grenzen zugunsten der Einheimischen zu schließen“. Das damit gleichsam in der Luft liegende Kapitel zu „Pandemischen Grenzziehungen“ hat Demandt nicht mehr geschrieben; man wird sein Buch aber zu Rate ziehen müssen, wenn dies im historischen Rückblick möglich geworden ist.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Alexander Demandt: Grenzen. Geschichte und Gegenwart.
Propyläen Verlag, Berlin 2020.
656 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783549074985

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