Erprobung des Menschenmöglichen

Gerhard Oberlins schreibt mit „Klettern am Limit“ eine Ode an den Extremsport

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Grundvokabular des Extremsports gehört naturgemäß die Wasserscheide von „möglich“ und „noch-nicht-möglich“. Demgegenüber scheint das Adjektiv „unmöglich“ aus dem Wortschatz verbannt. Es spielt nur insofern eine Rolle, als das denkbar Unmögliche eben gedacht wird, um es dann ins Reale zu übersetzen. Im Zentrum des Extremsports stehen diese Transferleistungen.

In seinem kulturphilosophischen Essay stellt Gerhard Oberlin zwar keine Gleichungen dieser Art auf, doch er geht mehrfach von zentralen Gedanken aus und entfaltet diese exemplarisch. Als zentrale Epigonen fungieren Pioniere wie Reinhold Messner, Ueli Steck, David Lama und Alex Honnold. Sie sind als Rebellen des Extremen zudem Erzrivalen einer sicherheitsbetonten Gesellschaft. Auf einen nüchternen Betrachter können ihre montanen Kraftakte nur übermenschlich wirken. Die Frage, die sich für die Betrachter solcher Leistungen stellt, lautet, wie das möglich ist. Wie kann jemand ohne Sicherungsmaßnahmen eine vertikale Bergwand hochklettern? Nicht nur das Können, sondern auch der Mut stoßen in unserer hochversicherten Alltagswelt auf Unverständnis. Mit einigem Recht argumentiert Oberlin, dass diese Abenteurer die Stimme der Vernunft ignorieren und in den Augenblicken höchster Gefahr instinktsicher handeln.

Mit der Frage, was diese Sportler zu Ausnahmemenschen macht, begibt sich Oberlin in den sozialen Diskurs. Mit einigem Recht negieren solche Errungenschaften das gesellschaftliche Mittelmaß. Eine breitere argumentative Entfaltung lässt jedoch auf sich warten. Dabei hätten sich zahlreiche Denker angeboten. Mit Max Scheler ließe sich von einem ekstatischen Gefühlsdrang sprechen. Vielleicht hätte man an diesem Punkt sogar mit Helmuth Plessner den cartesianischen Dualismus durchbrechen und den Gedanken entfalten können, dass diese Ausnahmemenschen ihre exzentrische Positionalität stellenweise aufgeben, weil sie die Distanz zum erlebenden Zentrum auf ein Minimum reduzieren. Hier hätte die philosophische Anthropologie durchaus weitere Möglichkeiten geboten, doch der Verfasser verweist bei der Negation des Durchschnitts einfach auf den „Heldenkomplex“. Hinsichtlich der Philosophischen Botschaften, die der Untertitel verspricht, wäre mehr Tiefgang wünschenswert. Diese werden zwar mit Blick auf den Höhendiskurs ausgesendet, doch eine stärkere Einbettung in den Höhendiskurs entfällt.

Darin liegen zugleich Stärke und Schwäche des Büchleins. Denn die knapp angedeuteten Argumentationslinien enden zwar mitunter abrupt, sind aber thesenstark. Insofern ließe sich diese Schwäche auch mit dem Umstand und Untertitel erklären, dass der Autor keine philosophische Abhandlung darlegen möchte, sondern mit essayistischer Verve über sein Thema begeistert. Genau darin besteht die Wucht des Buches: Der Autor schreckt nicht davor zurück, „ich“ zu sagen und nietzscheanisch manches zu entkräften: „In Bergsteigerbüchern lese ich immer wieder […].“ Mit einigem Pathos holt er dann zu adversativen Wendungen aus und geht kräftigen Assoziationen dagegen an. Das Assoziationsfeld reicht von Nietzsches Philosophie über Goethes Literatur, Ven Genneps ethnologische Überlegungen hin zur Psychologie Freuds. Es ist somit eine weite Theorielandschaft, die Gerhard Oberlin vor seinen Lesern ausbreitet. Bei manchen theoretischen Einsätzen hätte man sich durchaus ausführlichere Überlegungen gewünscht oder auch nur tiefere und dichtere Interdependenzen von Theorie und jenen Exempeln, die statuiert werden. Insgesamt besticht dieses Buch jedoch mit vielfältigen Anregungen, die letztlich zu einem Vorstoß an die Grenzen des Realen ermutigen.

Titelbild

Gerhard Oberlin: Klettern am Limit. Philosophische Botschaften.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
152 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783826069093

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