Amerikas letzter großer Literaturstar

Benjamin Mosers preisgekrönte Biografie über Susan Sontag schildert ein Leben zwischen Glanz und Elend

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Susan Sontag (1933–2004) war mehr als eine brillante Essayistin, eine prämierte Schriftstellerin oder eine Regisseurin experimenteller Filme. Sie war ein Star und eine Pop-Ikone, eine Stimme, die sich einmischte, in die Politik, die Kultur, den Krieg, kurz: in alles, was das Leben ausmacht. Ihr Thema war das komplexe Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit: Texte wie Against Interpretation, zu Camp und über Fotografie oder Krankheit machten sie zu einer führenden Theoretikerin und Praktikerin der Postmoderne und zweifellos zu einer der einflussreichsten Intellektuellen des letzten Jahrhunderts. Ihr starkes politisches Engagement führte sie während des Vietnam-Kriegs mehrfach nach Hanoi und Anfang der neunziger Jahre in die Kriegsgebiete des ehemaligen Jugoslawiens. Nicht nur intellektuell und klug, sondern auch schön und fotogen, war Sontag nicht zuletzt auch eine glamouröse Prominente, die Herbert Marcuse in ihrer Wohnung aufnahm, mit Leonard Bernstein und Jacky Kennedy dinierte oder in Andy Warhols Factory Amphetamine nahm.

Benjamin Mosers in diesem Jahr mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete Biografie widmet sich nun auf knapp 1000 Seiten dem aufregenden Leben Sontags und befreit die Autorin „mit dem Verstand eines europäischen Philosophen und dem Aussehen eines Musketiers“ von sämtlichen Star-Allüren. Er schildert ein Leben voller Ecken und Kanten, was bleibt, ist eine extrem widersprüchliche, launige, phasenweise drogenabhängige, kranke, meist unglückliche Frau, über die wir intime Details en masse erfahren, die wir in diesem Ausmaß vielleicht gar nicht wissen wollen. Das merkwürdige Verhältnis zu ihrer Mutter und ihre Kindheit, ihre ebenso zahlreichen wie komplizierten Beziehungen und Affären sowie ihr Karrierestart als Autorin werden ebenso thematisiert wie ihre Launen, ihre kulinarischen Präferenzen (Vorliebe für Hühnerfüße und „kotähnliches Essen“) oder ihr Problem mit der Körperpflege (die sie gern vergaß). Detailversessen berichtet Moser auch, wie sie zu ihrer legendären Frisur kam oder wie lange es dauerte, bis sie ihren ersten Orgasmus mit einer Frau und einem Mann hatte.

Die Biografie beginnt mit der Liebesgeschichte von Sontags Eltern, die ständig reisten – nach China, Bermuda, Hawaii, Kuba und Europa –, und schildert das angeblich erotische Verhältnis Sontags zu ihrer ebenso exzentrischen wie charismatischen Mutter Mildred, die die junge Susan gerne bei anderen abgab und Moser zufolge damit ein Kennzeichen ihrer Persönlichkeit prägte: nämlich die Furcht vor dem Verlassenwerden – und als Folge davon der Drang, die Menschen zu verlassen, von denen verlassen zu werden sie sich fürchtete. Eine Kindheit an verschiedenen Adressen sorgte schließlich für eine „Entwurzelung“. Auch von dem legendären, aber „peinlichen“ Besuch bei Thomas Mann in Pacific Palisades der frühreifen Jugendlichen wird berichtet, ebenso wie von den ersten prägenden Lektüren wie zum Beispiel Martin Eden von Jack London. Die 16-jährige Susan beginnt ein Studium in Berkeley, vertieft sich in Lektüren, liest v.a. Thomas Mann, Christopher Marlowe, Hermann Hesse, Aristoteles, Yeats, Hardy und Henry James, außerdem Djuna Barnes‘ Nightwood (1936), eines der wenigen Bücher dieser Zeit, das sich mit weiblicher Homosexualität auseinandersetzt. In einem Buchladen trifft sie auf Harriet Sohmers, die sie in die Homosexuellen-Szene in San Francisco einführt. Ein Dokument mit dem Titel „Fortschritte in Bisexualität“ listet sämtliche Sexualpartner*innen auf, mit denen Sontag in ihrem zweiten Collegejahr verkehrte. Es waren 36.

An der Universität lernt sie den Soziologen Philipp Rieff kennen – Moser unterzieht auch die Rieff’sche Familie einer detailgespickten Beschreibung –, der ihr nur eine Woche später einen Antrag macht. In einem unveröffentlichten Erinnerungstext hält die 17-jährige Sontag in der dritten Person fest: „Sie blieben den größten Teil ihrer Ehemonate im Bett, hatten vier bis fünf Mal am Tag Sex und unterhielten sich in den Pausen endlos über Kunst und Politik und Moral.“ Philipp Rieffs Buch The Mind of the Moralist, das 1959 erscheint und eine Abhandlung über Freuds Psychoanalyse ist, soll angeblich Sontag verfasst haben.

Als sie ungewollt schwanger wird, entscheidet sie sich für eine damals noch illegale Abtreibung, doch als sie kurze Zeit darauf wieder schwanger wird, verweigert Philipp seine Zustimmung, aus Angst, dass ein erneuter Eingriff sie umbringen würde. 1952 kommt ihr Sohn David Rieff auf die Welt, der bereits im zarten Alter von drei Jahren profunde Einblicke in Höhenkammliteratur erhält und – Sontag zufolge – „Hegel, Bagel. Hegel, Bagel“ rief, während er um den Frühstückstisch rannte. Zu ihrem Sohn hat sie ihr Leben lang ein enges Verhältnis, vielleicht ein zu enges und vor allem egoistisches, denn ihre Bedürfnisse stellt sie über seine und versucht einen gleichgesinnten Partner aus ihm zu machen. 1954 beginnt Sontag ein Studium am Fachbereich Englisch der Harvard Universität, doch die Ehe mit Philipp erstickt sie. Als ihr Sohn fünf Jahre ist, verlässt sie Mann und Sohn, um in Oxford zu studieren und dann nach Frankreich zu reisen, wo sie erst einmal bleibt.

1959 beginnt mit einer Stelle bei der Zeitschrift Commentary ein neuer Lebensabschnitt in New York. Notes on Camp erscheint 1964 in der Partisan Review, zu einer Zeit als Homosexualität als „krank, verrückt und pervertiert“ galt, und wurde von einem Tag auf den anderen „zum Konsumartikel für eine breite Leserschaft“. Damit war der Grundstein für eine steile Schriftsteller-Karriere gelegt. Nur zwei Jahre später erscheint Against Interpretation (1966) und die programmatische Forderung nach einer „Erotik der Kunst“. Sontag spricht sich gegen die Tradition der Hermeneutik aus und richtet den Blick auf die Machart des Kunstwerks. Neben der Beschreibung der Form interessiert sie ein unmittelbares sinnliches Erleben. Zwischen 1973 und 1977 publiziert sie eine Reihe von Essays in der New York Review of Books, die auch in dem Essayband On Photography erscheinen, und schließlich die Essays Illness as metaphor (1978) und Aids and its metaphors (1988), in denen Sontag, die drei Mal an Krebs erkrankte, darüber reflektiert, wie über Krankheiten gesprochen wird. Sontag zufolge ist Aids die Metapher der Differenz, der Abgrenzung gegen das Andere, das Fremde. Krankheit als Metapher entlarvt die soziale Wahrnehmung von epidemisch auftretenden Krankheiten aus historischer Perspektive: Diese wurden als Strafen und Sanktionen angesehen, die – in vormodernen Zeiten – eine „von Sünde“ geprägte Gemeinschaft treffen sollten.

Trotz ihrer brillanten Essays, an denen sie mit Hilfe von Amphetaminen manchmal wochenlang ohne Schlaf durcharbeitete, wollte Sontag lieber als Romanschriftstellerin wahrgenommen werden. Ihr erster Roman The Benefactor erschien bereits 1963 und ist eine Reaktion auf, aber auch ein Widerstand gegen Freud. Er handelt von einem Protagonisten, der dem Leben entsagt, um sich – anknüpfend an Descartes – seinen Träumen zu widmen. Nach seiner Veröffentlichung fand er Bewunderer*innen wie Joseph Cornell, Hannah Arendt oder Jacques Derrida, heute sind positive Einschätzungen des Romans jedoch rar: Es ist ein Werk, das im Kontext seiner Zeit und der Entwicklung seiner Autorin zu lesen ist. Sontags letzter Roman In America (1999), der die Geschichte einer polnischen Schauspielerin und ihrer Übersiedlung in die USA im 19. Jahrhundert erzählt, erhielt 2000 den National Book Award.

Die Biografie bietet zweifellos eine Fülle an Material und Anekdoten aus dem Leben einer vielfältig interessierten und tätigen Künstlerin, doch vieles hätte man besser machen können: Eine Vorstellung und Einordnung von Sontags Werk kommt definitiv zu kurz, dafür spart Moser nicht an unbedeutenden Details. Der heterogene Schreibstil ist verwirrend: Einige Passagen lesen sich erstaunlich gut, andere sind holprig und abschweifend, so dass man sie am liebsten überspringen möchte. Einerseits streng wissenschaftlich anmutend mit Zitaten und Fußnoten driftet der Text andererseits immer wieder ins Boulevardeske ab und greift gerne mal auf eine pathetisch überhöhte Ausdrucksweise zurück. Zitate sind manchmal etwas lieblos aneinandergereiht, vor allem wenn Zeitzeug*innen befragt werden und die Biografie ins Dokumentarische abzurutschen scheint. Ärgerlicherweise fehlen dann an entscheidenden Stellen die Nachweise.

Bei dem Umfang des Werks von knapp 1000 Seiten ist sowieso fraglich, ob es nicht auch etwas knapper hätte ausfallen können. Man bekommt fast den Eindruck, Moser sei von der Fülle des Materials aus u.a. privaten Aufzeichnungen und Gesprächen mit David Rieff oder Annie Leibovitz so überwältigt, dass er sich an einigen Stellen detailverliebt verrennt. Dabei scheint er seine Protagonistin auch gerne zu Gunsten der Nebenfiguren aus den Augen zu verlieren, um sich zum Beispiel Susans Mutter Mildred oder Annie Leibovitz über Seiten hinweg zuzuwenden. Besonders leserunfreundlich sind allerdings die Zeitsprünge: Eigentlich chronologisch angelegt springt die Biografie gerne mal nach vorne oder zurück, so dass es nicht immer leicht ist, den Überblick über Sontags ereignisreiches Leben zu bewahren. Immerhin skizziert Moser mit der Biografie ein Stück US-amerikanische-europäische Kulturgeschichte: Von den Anfängen der 1960er Jahre bis zum Fall der Berliner Mauer, über den Kosovokrieg zu 9/11 reist man mit einer dem Elend mehr als dem Glanz näherstehenden Sontag durch die Jahrzehnte.

Titelbild

Benjamin Moser: Sontag. Die Biografie.
Aus dem Englischen von Hainer Kober.
Penguin Verlag, München 2020.
960 Seiten , 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783328601593

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