Das Leben ist ein Vorübergehen

Marie-Claire Blais‘ fantastischer Roman „Drei Nächte, drei Tage“ handelt von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und vom Leben als einer Ansammlung unendlicher Wirklichkeiten

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der kanadische Schriftsteller Pasha Malla stellte 2019 in einem Aufsatz für das Magazin „The New Yorker“ die Frage, ob die amerikanischen Leser*innen Marie-Claire Blais jemals verstehen werden. Die Frage blieb am Ende unbeantwortet, aber das Bemühen des Schreibers erkennbar, diese unbequeme und brillante Schriftstellerin dem Publikum nahezubringen. Wobei die Verständnisschwierigkeiten am wenigsten mit der Tatsache zu tun haben, dass die in Québec geborene Blais auf Französisch schreibt, schließlich lassen sich fremde Texte übersetzen. Die Reserviertheit dürfte mit dem zusammenhängen, worüber sie schreibt und insbesondere wie sie schreibt. Die mittlerweile 81-Jährige hat mehr als zwanzig Romane verfasst, dazu Erzählungen, Dramen, Lyrik und Essays geschrieben. Einige Romane wurden verfilmt, sie wurde mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt.

Dieselbe Reserviertheit scheint es auch bei uns zu geben, denn bis heute haben es gerade mal zwei ihrer Romane auf den deutschen Buchmarkt geschafft, was für mich eher nach Zufall aussieht. 1967 war dies Schwarzer Winter (Une Saison dans la vie d’Emmanuel, 1973 von Claude Weisz verfilmt) und jüngst der Roman Soifs von 1995, der jetzt bei Suhrkamp erschienen ist und sich wohl einer großzügigen Förderung für die Übersetzung verdankt. Mir hat sie eine literarische Entdeckung beschert. Wenn es doch nur mehr Fördertöpfe für Übersetzungen gäbe.

Als Marianne Kesting Schwarzer Winter in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ rezensierte, sprach sie von einem Stück „absurder Poesie“, „das darüber nachzudenken anregt, mit welch konkretem Zugriff eine von vornherein nicht realistische Methode des Erzählens sich doch offenbar der äußeren Realität bemächtigen kann“. Die Themen haben sich bei Blais seither verändert, auch ihr Stil, nicht aber ihre erzählerische Methode, um dennoch sich dem zu bemächtigen, was Kesting die „äußere Realität“ nennt. Auch der jetzt veröffentlichte Roman, der drei Tage und drei Nächte auf einer karibischen Insel beschreibt und uns mit unterschiedlichsten Lebensschicksalen konfrontiert, ist voll von wirklichkeitsgesättigten Wahrnehmungen. Diese 72 Stunden lesen sich wie eine unendliche Zeile ohne Anfang und Ende, wie ein mächtig strömender Zeitfluss, in dem alles im Vorübergehen und scheinbar gleichzeitig geschieht.

Blais besitzt einen nachgerade rücksichtslosen Blick für die Verwerfungen und Untiefen der menschlichen Gesellschaft und all ihrer Paradoxien; sie sieht die Armut neben dem Reichtum, die sexuelle Gewalt und Gier, die Kriminalität, den Rassismus, die weltfremde Religion dazwischen, aber auch die Liebe, die Schönheit und die Poesie inmitten einer Natur, von der es heißt, „alle Worte zerstoben in der wohlriechenden Luft“, um darin schließlich das Verhängnis und den Tod zu erkennen. Hier ist es die Krankheit, die vernichtet, dort ein Gerichtsurteil, und ein andermal geschieht es auf der Flucht, wenn das Meer wieder einmal Menschen verschlingt – „das Kleid eines kleinen Mädchens hing an verfaulten Brettern“, das war ein Meer, „für das wir uns schämen sollten“. Wie aktuell das mit Blick auf den Friedhof mit Namen Mittelmeer klingt.

Der Augenblick im Hier und Jetzt enthält bei Blais immer sichtbare, fühlbare Spuren des Vergangenen und des Zukünftigen, ist immer zugleich Erinnerung. Räume überlagern sich darin, gleich ob geografisch oder zeitlich, ob fern oder nah. Man ist gar an Nietzsches ewige Wiederkunft des Gleichen erinnert, wobei Blais all das Wiederkehrende mit wechselnden Namen, Gesichtern, Haltungen auftreten lässt, um doch in allen Leidenschaften und Abneigungen das Verbindende im Menschsein erfahrbar zu machen. Vorhersehbar ist das Leben trotzdem nicht, wie Blais zu verstehen gibt, ausgenommen der Tod.

Wir haben es im wahrsten Sinne mit einem „Fließtext“ zu tun, absatzlos auf annähernd vierhundert Seiten, und dazu mit äußerst sparsam verteilten Punkten, wodurch atemlose Sätze entstehen, wahre Kaskaden von Eindrücken und Empfindungen. Man darf Blais‘ Stil mit aller Berechtigung impressionistisch nennen, alles hat bei ihr einen Klang, einen Geruch, eine Stimmung, einen Farb- und Lichtwert. Sätze, mehr als eine Seite lang, sind der Normalfall und erstaunlich dabei, welche Sogwirkung von ihnen ausgeht. Trotz der offensichtlich kompakten Textmasse gleiten wir beim Lesen leicht dahin. Als hörten wir eine endlose Melodie, vermischt mit den Rhythmen des Inselfestes, aber auch Klängen von Mozart, Schubert, Beethoven und Puccini mit ihren Trauermusiken inmitten greller Lebenslust, gelangen wir lesend vom einen zum anderen Schauplatz, von der einen zur anderen Lebensgeschichte in einem ständigen Hin und Her und unablässig verändert sich dabei die Tonart, die Atmosphäre, ohne je den Übergang bewusst wahrzunehmen. Übergänge sind hier nahtlos und für sich schon genial.

In dem unablässigen Wechsel der Erzählperspektive bleiben die biografischen Linien der auftretenden Personen sichtbar und durchscheinend zugleich. Das lärmende, ausgelassene Fest wird in dem Roman zu einem diffusen Hintergrundgeräusch, wird mal lauter, dann wieder leiser oder verschwindet ganz und bleibt ein hochtouriger Leerlauf. Von Bedeutung ist das tropische Klima, diese Treibhausatmosphäre, und schließlich das brandende Meer, diese „unbegreiflichste unter den nichtmenschlichen Daseinsformen“, wie es Clarice Lispector einmal ausgedrückt hat. Auch bei Blais ist das Meer eine solche Unbegreiflichkeit, faszinierend und eben bedrohlich, wenn es zum Menschengrab wird. Im nächsten Moment jedoch lässt es ein Gedicht entstehen, ein Poem über die „gebrochene Gottheit“, als jemand einen Schwimmer beobachtet. An anderer Stelle: „Von dem Jungen, der im Wasser stand, ging eine so kompakte, einsame Kraft aus, bis dieser Anblick in ein heftiges Zittern überging, ein mächtiges Flügelschlagen unter dem Wasser.“

„Sie waren hier, um auszuruhen, zu entspannen, nah beieinander, fern von allem“ – so harmlos setzt der Roman ein und bringt Claude und Renata ins Bild; er Richter, sie Anwältin. Sie hat gerade eine schwere Krankheit überstanden und sucht Genesung auf der subtropischen Insel; er hat kurz vorher als Richter ein Todesurteil gefällt. So setzt Blais fast beiläufig Spannungspunkte in menschlichen Beziehungen. Dann gibt es Jacques, den Literaturprofessor und Kafka-Experten, der im Sterben liegt. AIDS galt, als der Roman entstand, noch als unheilbar. Erst 1996 wurde die Krankheit dauerhaft behandelbar. Neben Jacques sehen wir den trauernden Tanjou, einen pakistanischen Jungen, für den Jacques entbrannt war, aber schon bald nicht mehr wusste, was er mit ihm anfangen soll. Der Anblick des leidenden Jungen verschafft ihm dennoch einen Triumph. So sehen bei Blais Abgründe aus. Auf dem Sterbebett ist alle sexuelle Gier nur Erinnerung, der schnelle Sex überall. „Wie sollte er leben, ohne den säuerlichen Geruch überströmender, gefallsüchtiger Lippen, ohne ihre insistierenden Blicke.“ Am Ende steht die Einsamkeit, obschon das Leben seit jeher fragil war, „wo jeder für eine Umarmung, einen Kuss, Schiffbruch erleiden“ konnte.

Renata erscheint wie eine Zentralfigur inmitten eines Ensembles bunt zusammengewürfelter Menschen, die mit ihrem ständigen Durstgefühl dem Roman den Titel gab – Soifs. Es zieht sie zum Spieltisch, obschon Claude meint, sie sei dort fehl am Platz „mit ihrer breiten, von einem fahlen Licht beschienenen Stirn, ihrer geheimnisvollen, an Kälte grenzenden Vornehmheit, dieser selbstbewussten Schüchternheit, mit der sie aneckte und gleichzeitig die Männer anzog“. An anderer Stelle ist von ihrem „Göttinnen-Gehabe“ die Rede. Durch ihr Wissen wurde sie illusionslos, nennt das Leben der Frau ein Selbstopfer. In all dem Festtagstreiben begegnet sie ihrem Vergewaltiger. „Wie heimtückisch das Leid, aus dem das Dasein der Frauen gemacht war, […] war nicht auch sie verantwortlich dafür, denn sie gefiel den Männern, die Regel wollte, dass sie ihre Blicke auf sich ziehen sollte, ein jahrhundertealtes Gesetz“. Und so schenkt sie dem Mann ein Lächeln, der sie im nächsten Moment aus Rache vergewaltigen wird.

Es könnte mit der Aufzählung der Romanfiguren noch lange weitergehen, denn sie sind alle auf ihre Art anziehend, lebendig und in allen wirken immer auch die bösen Geister, wie es in einem wiederkehrenden Zitat heißt: „tutti son pien di spirti maladetti“.  Nur mit den beiden Alten Jean-Mathieu und Caroline, die gerne schläfrige Monologe über die englische Literatur halten, kommt am Ende etwas Versöhnliches auf – „denken Sie an die Milde der Luft, mein Freund, vergessen Sie dieses Land der Schatten“.

Marie-Claire Blais macht es uns Leser*innen nicht leicht, aber hat dies die große Literatur je getan? Waren William Faulkner und Marcel Proust, James Joyce und Samuel Beckett gefälliger? Man kann dem hypertrophen und polyphonen Erzählen, das die Autorin so meisterhaft beherrscht, regelrecht verfallen. Denn sie vermag dem eine Sprache und einen Ausdruck zu verleihen, was Henry James, der es seinem Publikum auch nie leicht gemacht hat, einst das „heillose Durcheinander des Lebens“ nannte – eine Herausforderung, die anzunehmen sich lohnt.

Titelbild

Marie-Claire Blais: Drei Nächte, drei Tage.
Aus dem Französischen von Nicola Denis.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225165

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