Mit Feministin und Kohlekumpel zur sozial-ökologischen Wende?

Katja Kipping legt in „Neue linke Mehrheiten“ ihre Vorstellungen einer progressiven Regierungspolitik dar

Von Maximilian LippertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Lippert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die amtierende Vorsitzende der Linkspartei Katja Kipping wird nach acht Jahren nicht erneut für dieses Amt kandidieren. Auch weil die Parteisatzung eine zeitliche Begrenzung vorsieht, dürfte dieser Schritt für sie bereits seit längerer Zeit absehbar gewesen sein. Ihrer Partei, der sie als Abgeordnete erhalten bleibt, hat die scheidende Vorsitzende deshalb einige mutige Richtungsempfehlungen in Form eines kleinen Buches mit in den kommenden Wahlkampf gegeben – mutig deshalb, weil ihre Einladung zu Neuen linken Mehrheiten das politische Selbstverständnis einiger Genossen grundlegend in Frage stellen dürfte.

Die Dimension der angesprochenen Problemzusammenhänge reicht jedoch weit über die Grenzen ihrer Partei hinaus. In ihrer „Flugschrift“ wähnt Kipping nicht nur die Bundesrepublik nach dem Rückzug von Angela Merkel aus dem Amt der Bundeskanzlerin an einem entscheidenden „Wendepunkt“, sondern zugleich Europa und die Welt an einem möglichen „Epochenumbruch“, an welchem um die Ausrichtung globaler Politik gerungen und möglicherweise gar die Zukunft des Planeten verhandelt wird. Ihre Ausführungen beginnt sie mit einem historischen Vergleich. Dabei bemüht sie die Erkenntnisse des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi, der den Aufstieg des Totalitarismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Konsequenz vorangegangener allgemeiner Vermarktlichung und noch nie dagewesenen Wirtschaftswachstums ausweist. Neben demokratischen Bewegungen, welche bestrebt gewesen seien, die Marktlogik zurückzudrängen, hätten in dieser Zeit vor allem autoritäre Staatseingriffe die Regulation des ökonomischen Systems vorangetrieben, ohne jedoch die bestehende soziale Ordnung anzutasten. Heute befinden wir uns laut der Autorin, da der Kapitalismus nationalstaatliche Grenzen und die klassische Industriegesellschaft hinter sich lasse, in einer vergleichbaren Umbruchssituation, die neue Autoritarismen hervorrufen werde, wenn es nicht gelinge, die Ökonomie zu demokratisieren und gesellschaftlich einzubinden.

Um die gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisen zu charakterisieren, macht sich Kipping den Begriff der „Kipppunkte“ aus dem Klimadiskurs zu eigen. Hierbei geht es um Schwellensituationen, in denen kaum umkehrbare Dynamiken mit weitreichenden klimatischen Auswirkungen einzutreten drohen. Doch neben der globalen Erderwärmung, die sich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr abwenden lässt, erkennt die Autorin noch drei weitere Kippunkte, welche die erwähnte drohende „autoritäre Wende“ und den Abbau von individuellen Freiheitsrechten, Aufrüstung und militärische Eskalationen sowie schließlich die soziale Spaltung und somit einen Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts betreffen. Dabei betont sie die Wichtigkeit, diese Bedrohungen in ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu betrachten und keine zugunsten der anderen zu vernachlässigen.

Angesichts einer solchen „Vielfachkrise“, bedingt durch Mechanismen des ökonomischen Systems, zeigt Kipping drei mögliche Zukunftsszenarien für die Bundesrepublik auf. Zum einen wäre da der „Weg in einen noch autoritäreren Kapitalismus“, der seine parteipolitische Entsprechung in einem Bündnis aus CDU und AfD, eventuell ergänzt durch die FDP, finde. In einer solchen Konstellation reagiere der Marktliberalismus auf den globalen Konkurrenzdruck und gehe eine Liaison mit einem autoritären Nationalismus ein, welche sich bereits in einigen europäischen Ländern wie auch in den USA oder Brasilien durchzusetzen vermochte und sich in „Rückbau der Demokratie, verschärfter Ausgrenzung und nationalistischem Rückzug“ äußere. Ein andere Möglichkeit bestehe hingegen in einer Fortsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells „mit grünem Anstrich“, die in der Bundespolitik einer Zusammenarbeit der CDU mit den Grünen entspräche. Dabei handele es sich allerdings lediglich um den widersprüchlichen Versuch, die Folgen einer destruktiven Wirtschaftsweise noch ein wenig hinauszuzögern. Ein solches Bündnis werde trotz ökologischer Modernisierung aufgrund von Kürzungs- und Privatisierungspolitik nicht nur in sozialer Prekarisierung, sondern zwangsläufig ebenso in einer fortschreitenden Entdemokratisierung der Gesellschaft münden.

Diesen Perspektiven hält die Politikerin eine dritte Alternative entgegen: eine „sozial-ökonomische Wende“, das „progressive Ausstiegsszenario aus der gegenwärtigen Krise“. Dabei geht es Kipping um eine grundsätzlich andere Art des Wirtschaftens, „die gesellschaftliche Einbettung der Ökonomie auf allen Ebenen“. Nicht kurzfristiger Profit für eine kleine Gruppe von Kapitalakteuren solle im Zentrum stehen, sondern der allgemeine gesellschaftliche Bedarf. Ziel sind dabei nicht nur die klassische Sekundärverteilung von materiellem Reichtum durch Steuern und Sozialleistungen sowie Investitionen in Daseinsvorsorge und Infrastruktur, sondern vor allem der Ausbau von sogenannten Commons. In solchen Ressourcen, die aus selbstorganisierten Prozessen gemeinsamen bedürfnisorientierten Produzierens, Verwaltens und Nutzens hervorgehen, sieht Kipping solidarische Wirtschaft und lebendige Demokratie verwirklicht. Der Ausbruch aus einem auf Verwertungslogik und Wachstum basierenden System bedeutet für sie nicht zuletzt auch den einzigen Ausweg aus der Klimakrise, deren Bedeutung im Essay immer wieder hervorgehoben wird.

Für die Umsetzung ihres Vorhabens fordert die Politikerin ein Nachdenken über „neue, andere Arten des Regierens“, über ein „Regieren in Bewegung“, worunter sie einen engen Kontakt der Parlamentsparteien zu sozialen Bewegungen und gesellschaftlichen Initiativen, Verbänden und Gewerkschaften versteht. Nur so lasse sich verhindern, dass progressive Vorhaben durch die Trägheit des bürokratischen Staatsapparats oder den Einfluss wirtschaftlicher Lobbygruppen behindert werden. Für Kipping ist dies Bestandteil des Konzepts einer „Mosaiklinken“, welche die „Notwendigkeit eines strategischen Pluralismus“ erkannt hat und unterschiedliche Teile der progressiven gesellschaftlichen Kräfte zusammenzuführen vermag. In Anbetracht der Mehrheitsverhältnisse fallen hierunter jedoch auch gemäßigte Mitte-Links-Kräfte. Aus diesem Grund mahnt die Autorin notwendigerweise zum Umdenken bei jenen Genossen, welche die Ausrichtung der Partei auf parlamentarische Reformpolitik als Verrat der eigenen Ideale begreifen – als kleinster Partner in einem Dreierbündnis mit Grünen und SPD erst recht. Hier müsse man sich „aus lieb gewonnenen Oppositions-Routinen verabschieden“ und die Gemeinsamkeiten mit den Mitte-Links-Parteien suchen. Indem sie etwa Stellung gegen Russland bezieht, was von nicht wenigen Genossen als fatales Zeichen im Hinblick auf eine außenpolitische Entspannungspolitik gedeutet werden dürfte, schafft sie diese Gemeinsamkeiten auch gleich selbst. Mögliche Projekte eines solchen Bündnisses werden am Ende konkret skizziert und reichen von Maßnahmen zur Steuergerechtigkeit über Investitionen in öffentliche Infrastruktur und sozialen Wohnungsbau bis hin zum Einführen von Kindergrundsicherung und Mindestrente sowie zum Stopp von Rüstungsexporten.

Für viele dieser Vorhaben gäbe es womöglich gesellschaftliche Mehrheiten und dennoch spiegeln die Zustimmungswerte sowie die jüngsten Wahlergebnisse der Linkspartei, die bei Kippings Amtsantritt in den Parlamenten noch stärker vertreten war, dies nicht wider. Wohl aus diesem Grund merkt sie bereits zu Beginn ihres Essays an, die gesellschaftliche Linke agiere an vielen Stellen „erschreckend wirkungslos“. Angesichts diverser Bestreben, die heute unter dem Label „links“ firmieren – etwa Klimaschutz, Geschlechtergerechtigkeit oder die gesellschaftliche Stärkung von Minderheiten – und teilweise bereits von nominell konservativen Kräften mitgetragen werden, mag diese Feststellung verwundern. Recht behält die Autorin aber im Hinblick auf die ökonomische Sphäre, wo linke Kräfte in den letzten Jahren Sozialabbau, Privatisierung und den Auswirkungen eines global zunehmend entfesselten Kapitalismus, der sich der Kontrolle durch demokratische Institutionen immer mehr entzieht, wenig entgegensetzen konnten. Es gelingt ihr indes nicht zu erklären, warum der Rechtspopulismus, welcher doch lediglich „die Pose der ‚Systemkritik‘“ annehme, von den jüngsten Krisenerfahrungen profitieren kann und ihr eigenes Lager nicht. Mit keinem Wort geht sie darauf ein, warum nicht nur ihre Partei, sondern auch die Sozialdemokraten die Wähler ihrer Stammmilieus immer weniger erreichen können, sich von diesen gar zunehmend entfremden. Diese Entwicklung müsste sie stärker in ihre Analyse einbeziehen, zumal sie als langjährige Parteivorsitzende Mitverantwortung trägt.

Mitverantwortlich ist Kipping ebenfalls für den Rückzug der ehemaligen Fraktionsvorsitzenden ihrer Partei, Sahra Wagenknecht, im Zusammenhang der zwar leiser gewordenen, aber nach wie vor bestehenden Auseinandersetzung um die strategische Ausrichtung der Linkspartei. Wagenknecht hat im Hinblick auf die Abwendung vieler Stammwähler in Anlehnung an etwa den französischen Linkspopulismus eines Jean-Luc Mélenchon und die diesem zugrunde liegenden Populismustheorien der Politikwissenschaftler Ernesto Laclau und Chantal Mouffe positive Bezugnahmen auf den souveränen Nationalstaat sowie ein grundlegendes Bedürfnis nach Identität und Tradition in ihr linkes Programm integriert – „Demokratie lebt nur in Räumen, die für Menschen überschaubar sind“, „Nicht Bindungslosigkeit, sondern Bindung macht frei, weil nur sie Halt gewährt“ etc. – und somit die Erkenntnis demonstriert, dass Gemeinwohl nicht ohne Gemeinsinn zu erreichen ist. Zwar sind ebenfalls jene Kreise im Umfeld von Rosa-Luxemburg-Stiftung und Linkspartei, die das Konzept der sogenannten Verbindenden Klassenpolitik in verschiedenen Publikationen ausgearbeitet haben, bestrebt, einen solchen gemeinsamen Nenner in den Vordergrund zu stellen. Und auch Kipping versucht dies, wenn sie Klimaaktivisten und Kohlearbeiter, Rentner und Feministinnen, also „Mehrheiten, die man im Plural verstehen muss, weil sie nicht mehr in ein altes Raster passen“, politisch zusammenzuführen will, um für gemeinsame Ziele zu kämpfen. Dass geteilte soziale Forderungen schließlich aber kein hinreichendes Kriterium für ein kollektives Bewusstsein und gemeinsames politisches Agieren sind, haben die jüngeren Erfolge gleichsam rechtspopulistischer und marktliberaler Parteien gezeigt. Das von Wagenknecht adressierte – soziologisch gesprochen: resigniert-autoritätsgebundene – Arbeitnehmermilieu werden die liberalen Gesellschaftvorstellungen einer Katja Kipping, die in ihrem Essay außerdem die „Sorgen der Menschen heute in aller Welt“ als Beweggrund ihres Projektes ausweist und die den Rahmen der Nation übersteigende „universelle Idee der Gleichheit“ betont, schwerlich erreichen können.

Solange die kosmopolitisch orientierte Linke hier nicht dazulernt, werden kommende Wirtschaftskrisen und Begleiterscheinungen der Globalisierung wie zunehmende Migrationsbewegungen immer mehr Menschen in Sinnangeboten Halt suchen lassen, die aktuell vom Rechtspopulismus bereitgestellt werden. Die von Kipping bei möglichen Zukunftsszenarien gar nicht erst bedachte Option eines sozial ausgerichteten, staatlich domestizierten Kapitalismus von rechts, für den nicht nur in Deutschland immer prominenter und lauter werdende Stimmen werben, könnte für die Linke zur größten Gefahr avancieren. Doch angesichts einer Linkspartei, die nicht nur in inhaltlichen wie strategischen Fragen zerstritten, sondern auch in Bezug auf die Regierungsfrage in zwei Blöcke mit divergierenden Politikverständnissen gespalten ist, sowie SPD und Grünen, die weiterhin eher zur politischen Mitte tendieren, scheint Kippings Vorstoß ohnehin nur auf begrenzte Resonanz zu stoßen. Nicht umsonst wird die Außenpolitik als spannungsreichstes Thema zwischen den möglichen Bündnispartnern im Essay nur allzu oberflächlich behandelt. Ob die Einladung zumindest bei ihren Genossen auf fruchtbaren Boden stößt, wird sich im anstehenden Wahlkampfjahr und bei den ausstehenden Vorstandwahlen der Linkspartei zeigen – ebenfalls inwiefern Kipping am möglichen Projekt der Neuen linken Mehrheiten mitarbeiten wird.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Katja Kipping: Neue linke Mehrheiten. eine Einladung.
Argument Verlag, Hamburg 2020.
95 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783867545181

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