Puzzleteile des Lebens
Ralf Schlatter lässt in „Steingrubers Jahr“ Tagebuch führen über Leben, Liebe, Einsamkeit und Tod
Von Jens Liebich
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIst nicht alles eine Frage der sogenannten ‚richtigen Mischung‘? Welche Zutaten machen ein Essen besonders schmackhaft, lassen aus einem Lied einen Ohrwurm werden, machen ein Leben zu einem erfüllten, erschaffen aus dünnen Buchseiten eine ganze Welt? Ralf Schlatter beweist bei der Auswahl seiner literarischen Zutaten ein glückliches Händchen, doch bei der Zubereitung geht leider das rechte Maß etwas verloren.
Der titelgebende Protagonist des Romans, Felix Steingruber, ist so unauffällig und unscheinbar wie sein Durchschnittsname vermuten lässt. Er könnte, gäbe es ihn aus Fleisch und Blut, der freundlich verschlossene Nachbar von nebenan sein. Doch vielleicht ist er bereits zu Beginn zu durchschnittlich und damit schon überzeichnet: Steingruber ist Kammerjäger. Das Aufspüren und Töten von Ameisen, Kakerlaken, Silberfischen und anderen kleinwüchsigen Krabbeltieren ist sein täglich Brot, welches ihm alleinstehende Damen mittleren Alters gelegentlich durch kleine Zuwendungen und Kaffeeeinladungen versüßen möchten, denn ihr Erlöser mit den Klebefallen ist noch Junggeselle. Seine Mutter, die er jeden Sonntag besucht, hegt und pflegt nicht nur ihren Sohn mit seinem Lieblingskuchen, sondern nach wie vor ihren Wunsch nach Enkelkindern. Doch im Leben Steingrubers gibt es zunächst nur eine Frau: Frau Obermüller, seine Katze, die ihm mit erlegten Mäusen und Vögeln auf ihre eigene Art huldigt.
In diesen skizzierten Umrissen finden sich bereits die großen Linien des Romans. Es geht neben den kleinen, alltäglichen und oft kaum miteinander zusammenhängenden Dingen des Alltags um die großen Fragen Liebe, Leben und Sterben. Steingrubers Jahr ist als Tagebuch geschrieben und gibt in der ersten Aufzeichnung sogleich Auskunft über Anlass und Zweck desselbigen. In einem Traum saß Steingruber beim Psychiater, der ihm tief in die Augen blickend sein baldiges Ende verkündet: „Plus minus ein Jahr.“ Mit diesen Worten im Ohr erwacht der Verängstigte und eilt zur Bibliothek, um sich ein Ratgeberbuch zum Thema „Angst vor dem Tod“ auszuleihen, welches ihm abschließend das Schreiben eines Tagebuchs nahelegt. Doch der Weg zur Bibliothek, den er zum ersten Mal im Leben geht, führt zugleich zu einer eben jenes verändernden Begegnung: „Den Blick der Bibliothekarin werde ich so schnell nicht vergessen. Ich bin dann extra noch einmal zurück an die Theke, habe etwas Belangloses gefragt und ihr dabei auf den Busen gestarrt. Dort hing ihr Namensschild. Sie heißt Bernadette Amrain.“ Es ist Liebe auf den ersten Blick, die ihn dazu treibt, von nun an regelmäßig möglichst unverfängliche Bücher auszuleihen und über diese an der Bibliothekstheke mit der heimlich Verehrten ins Gespräch zu kommen.
Steingrubers Tagebuch gibt nicht nur Auskunft über die charmant-hilflosen Annährungsversuche, sondern reiht auch amüsante Belanglosigkeiten des täglichen Lebens auf. Der Duktus seiner Notizen ist von Beginn an melancholisch, oft bestehend aus kurzen Sätzen, mehr Aufzählungen als Texten gleichend: „Karfreitag. Immer noch Schneeregen. Im Radio nur klassische Musik. Soll das irgendwie traurig wirken? Jetzt erst fällt mir auf, dass unsere ganze Religion auf dem Tod aufgebaut ist. Quasi das ganze Jahr Karfreitag. Soll ich von jetzt an beim Vernichten von Schädlingen klassische Musik laufen lassen?“ Wo der Tod Gewicht hat, hat es letztlich auch das Leben: Im Gegensatz zu Steingruber, der lediglich aufgrund seines Traumes eine abstrakte Furcht vor dem Tod verspürt, hat die von ihm ins Herz geschlossene Bibliothekarin eine unheilbare Krankheit und nur noch wenige Monate zu leben, die sie meist geschwächt im Bett verbringt und an dem sie Steingruber oft besucht:
Zwei Stunden bei Bernadette. Ich solle nicht so traurig dreinschauen, sagte sie. Das Leben gehe weiter. Jetzt sitze ich am Küchentisch. Fruchtfliegen kreisen in Vierecken über den Aprikosen. Warum sind es am Ende immer die Kranken, die die Gesunden trösten?
Die Sprachbilder, die Schlatter häufig zeichnet, sind angesichts der Todesthematik auffallend banal, denn die Sonne scheint auf Gesunde und Sterbenskranke gleichermaßen, das Leben – da hat Frau Amrain recht – geht für Freunde und Angehörige weiter, auch wenn einzelne ausscheiden müssen. Die Banalität der alltäglichen Beobachtungen und Geschehnisse, die Steingruber festhält, lassen den Tod, den oft verdrängten und im Grunde unvorstellbaren, noch deutlicher nach vorne treten. Dennoch ist es bedauerlich, dass die mannigfachen inhaltlichen und formalen Gestaltungsmöglichkeiten eines Tagebuchs kaum genutzt werden, um den Figuren Tiefe zu geben. Trotz des Wissens um den bevorstehenden Tod der Geliebten erfolgt weder eine inhaltliche noch eine stilistische Zäsur in den Aufzeichnungen. Die Motive waren und bleiben Leben, Liebe, Einsamkeit und Tod – und weil es den Figuren an Tiefe und damit an seelischer und psychischer Plastizität fehlt, bleiben diese Motive nahezu genauso abstrakt wie zu Beginn, wenngleich sie nun häufig in den Zusammenhang mit Frau Amrain eingewoben werden.
Ein Satz, der sich wie ein Mantra durch Steingrubers Jahr zieht und dem man in der ersten Romanhälfte gefühlt auf jeder fünften Seite begegnet, lautet „So kann man das natürlich auch machen“. Die ständige Wiederholung dieses Satzes verstärkt einerseits gekonnt den Eindruck der alltäglichen Banalitäten und Routinen, doch andererseits plättet gerade das Gewicht der stilistischen und inhaltlichen Redundanz im Allgemeinen, die auch in diesem Satz sehr deutlich zum Ausdruck kommt, die leiseste Erhebung einer möglichen Spannungskurve. Dabei braucht es gar nicht mehr an äußerer Handlung, doch eine wenigstens in Ansätzen erkennbare, überzeugende innere Entwicklung des Protagonisten wäre wünschenswert. So bietet der Roman zwar gelungene Formulierungen, originelle Sprachbilder, charmante Figuren, kippt jedoch durch Überzeichnungen, die eben nur bis zu einem gewissen Maß humorvoll wirken, ins Klischeehafte. Aber auch hier würde Steingruber wohl nur achselzuckend anmerken: „So kann man das natürlich auch machen.“
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