Ein unerschöpfliches Geglitzer flüchtiger Besonderheit

Malte Oppermann meditiert über den „Augenblick“

Von Albert EiblRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albert Eibl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer über die Zeit nachzudenken beginnt, rüttelt an den Grundfesten des Seins. Wer gar den Mut dazu aufbringt, eine Abhandlung über die Zeit zu schreiben, geht ein intellektuelles Wagnis ein, das notwendigerweise an die Grenzen des Sagbaren führt. Zeit erfährt man, man lässt sich in ihr treiben, man versucht sie festzuhalten – verstehen aber kann man sie nicht. Zumindest deren Verstreichen bemerkt man irgendwann, wenn man nach Jahren wieder einmal unbefangen und erschreckt zugleich sein eigenes gealtertes Ich im Spiegel der zukunftszugewandten Gesichter seiner Nachkommen betrachtet.

In seinem jüngst bei Karolinger erschienenen Essay nähert sich der junge Philosoph Malte Oppermann – der bereits mit einigen äußerst hörenswerten Radioessays für den SWR2 auf sich aufmerksam machte – dem Phänomen der Zeit auf den zarten Schwingen rhapsodischer Reflexionspoesie. In 24 höchst verdichteten Miniaturen spürt er dessen kleinstem Elementarteilchen nach, dem Augenblick, von dem Kierkegaard bereits meinte, dass er jenes zweideutige sei, in dem sich Zeit und Ewigkeit berühren.

Für Oppermann dient der Augenblick vor allem als Metapher für die Fülle der unmittelbaren Gegenwart. Diese erschließt sich in ihrer Mannigfaltigkeit nur demjenigen, der wieder lernt, seinen Sinnen zu trauen. Nur über die sinnliche Erfahrung des Seins, so lernen wir, kann es gelingen, den Schleier der Maya zu lüften – und sei es auch nur für einen Augenblick. In ihrem betont freigeistigen Gestus regen Oppermanns luzide Beobachtungen gleichermaßen zur unbekümmerten sprachlichen Meditation wie zur tieferen onthologischen Schau an. Ein kleines, sorgsam komponiertes Vademecum für alle Flaneure des Geistes, die von der Endlichkeit des menschlichen Strebens und der Unendlichkeit des Seins gleichermaßen überzeugt sind. Oder, um mit den Worten des Autors zu enden:

Das endliche Wesen spiegelt sich selbst in unendlichen Augenblicken, die es nicht erfassen kann. Sein Leben gleitet über sie dahin, wie ein Schatten. Was es besitzt, kann es nicht berühren, denn es ist Vergangenheit, und was es berührt, kann es nicht besitzen, denn es verweht mit dem Augenblick.

Titelbild

Malte Oppermann: Der Augenblick.
Karolinger Verlag, Leipzig 2020.
39 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783854181941

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