Wie man die Welt (nicht) rettet
Sandra Newmans merkwürdiger Roman „Himmel“ verwirrt zwar zunächst, lohnt dafür aber die Lektüre umso mehr
Von Rolf Löchel
Eine Frau, die durch die Zeit reist und darum psychiatrisiert wird? Das klingt doch bekannt. Richtig. Consuelo Ramos, der Protagonistin aus Marge Piercys 1976 erschienenem SF-Roman Woman on the Edge of Time, widerfuhr dieses Schicksal. Und nun ergeht es Kate ebenso. Auch sie ist eine Romanfigur. Doch wurde sie nicht von Piercy erdacht, sondern von Sandra Newman.
Auch Kate selbst, die Protagonistin von Newmans Roman Himmel, fühlt sich an eine fiktionale Vorgängerin erinnert. Doch nicht etwa an die Heldin aus Piercys feministischem Roman. Vielmehr ist es Sarah Connor aus dem Film Terminator 2, an die sie denkt. Und tatsächlich liegt der Vergleich mit Sarah Connor, „die in einer psychiatrischen Klink eingesperrt war, weil ein Zeitreisender sie vor einer kommenden Apokalypse gewarnt hatte“, zumindest ebenso nahe. Zwar reist sie nicht wie Kate – oder auch Consuela – selbst durch die Zeit, sondern bekommt Besuch aus der Zukunft. Das Ziel der Zeitreisenden aber ist in Newmans Roman das gleiche wie in James Camerons Film. Es gilt nicht weniger, als das Ende der Menschheit zu verhindern. Denn Kate wird von Bildern einer apokalyptischen Zukunft gepeinigt. Vor allem aber hat sie Traumvisionen der Vergangenheit, die ihr von Mal zu Mal realer erscheinen, bis sie nahezu ganz in ihnen aufgeht.
Eigentlich lebt Kate mit ihrem Freund Ben in New York. Beide sind seit jüngstem ein Paar und wie alle ihre FreundInnen „in ihren Zwanzigern“. Man schreibt das Jahr 2000 und ist alles in allem guter Dinge, ist man doch recht gut situiert und die Welt weitgehend in Ordnung. Ben promoviert und hat einen „Job bei einem Fachmagazin für Energiewirtschaft“. Kate ist Künstlerin und malt.
Wie die Lesenden schnell bemerken dürften, scheint mit der Welt, in der die beiden leben, irgendetwas nicht zu stimmen. So hat eine Frau namens Chen die US-amerikanische Präsidentschaftswahlen mit einem umweltfreundlichen Programm für sich entschieden, in Jerusalem wurde unlängst ein Friedensvertrag unterzeichnet und die UN haben ihre Ziele zur Abschaffung der Armut weit übertroffen. Zudem verpesten weder Benzinautos die Städte, noch wurden je Atomwaffen gebaut oder gar eingesetzt. Wie man weiß, kann von all dem in unserer Welt keine Rede sein. Die von Kate und Ben ist also offenbar eine bessere Version derjenigen, die wir kennen. Utopische Zustände herrschen allerdings auch bei ihnen nicht. So gibt es immer noch Luftverschmutzung, die Straßen New Yorks sind von „viele[n] gescheiterte[n] Existenzen“ bevölkert und in den USA werden aus osteuropäischen, afrikanischen und asiatischen Ländern stammende Frauen als „Katalogbräute“ angeboten. Es wäre also noch immer einiges zu verbessern.
Kate lebt – in ihren Träumen zumindest – noch in einer ganz anderen Welt, derjenigen Englands des Pestjahres 1593, wo sie bald auf einem in der Nähe Londons gelegenen Landsitz relative Sicherheit vor der todbringenden Krankheit findet. In der Traumwelt ist sie nicht länger Kate, sondern die hochschwangere Emilia, doch kann sie sich zugleich an ihr Leben als Kate erinnern und bleibt auf seltsame Weise mit dieser identisch. Mehr noch, Kate hat das bestimmte Gefühl, als Emilia in die Vergangenheit eingreifen zu müssen, damit sich ihre Gegenwart des Jahres 2000 besser gestaltet und die Menschheit von ihrem in unbestimmter Zukunft drohenden Untergang verschont bleiben wird. Sie ist überzeugt, hierzu einen „ihr noch unbekannten Akt“ vollziehen müssen, „der die Welt retten“, ja sogar „vollkommen machen“ würde. Dabei dürfte Kates Welt den Lesenden gar nicht mal so schlecht erscheinen.
Zur Verbesserung der Welt, dessen ist sich Kate gewiss, kann schon ein minimaler, scheinbar belangloser Eingriff im Jahr 1593 genügen. Denn wie der ihr bekannte Schmetterlingseffekt besagt, kann schon ein Flügelschlag die Welt verändern. So macht sich Kate/Emilia also vorsichtig ans Werk und beginnt, den erfolglosen Dichter und Schauspieler Will zu protegieren. Denn dieser „traurig beobachtende[.] Habicht“ erscheint Kate als der einzige ‚reale’ Mensch ihrer Träume. Bald glaubt sie, es habe sie überhaupt nur seinetwegen ins elisabethanische Zeitalter verschlagen, denn ihm zu Ruhm und Erfolg zu verhelfen, werde die Welt retten.
Allerdings ist noch lange nicht ausgemacht, dass ihre Eingriffe auch tatsächlich Gutes bewirken. Es könnte auch „alles noch schlimmer“ werden. Jedenfalls bemerkt Kate nach dem Aufwachen stets kleinere Veränderungen. Sei es, dass plötzlich andere Bilder an den Wänden ihrer Wohnung hängen oder ein ihr unbekanntes Paar Schuhe vor ihrem Bett steht.
Kates Versuche, mit Ben über ihre Träume zu reden, scheitern kläglich. Und auf die durch sie bewirkten Veränderungen der Welt des Jahres 2000 spricht sie ihn zunächst lieber gar nicht erst an. Denn ihm ist natürlich so, als habe er schon immer in der Welt gelebt, wie sie eben ist, während ihr nach jedem Erwachen immer mehr Dinge und Sachverhalte, die ihm völlig selbstverständlich scheinen, ganz unbekannt sind. Das betrifft nicht nur das Beziehungsleben ihrer FreundInnen, sondern bald auch die Frage, wer denn nun PräsidentIn der Vereinigten Staaten ist. Für Kate hat dies fatale Folgen. Sie gibt Bens immer stärker werdendem Drängen nach, sich psychiatrisch untersuchen zu lassen, was zur Diagnose einer schizophrenen Erkrankung führt.
Unterdessen wird ihr die Traumwelt des Jahres 1593 immer realer. Ihre Träume werden länger, bis einer von ihnen gar nicht mehr enden will. Denn „[w]as Kate geträumt hatte, war nun erwacht und wurde zu Emilias Leben“. So bleibt sie nicht länger Herrin ihrer Träume. Im Gegenteil, sie „entgleis[en]“ ihr zunehmend, bis sich ganze Traumszenen gegen sie „aufbäumen“. Zudem beschleicht sie mehr und mehr das unbehagliche Gefühl, sie sei „[v]on Beginn an […] ein Werkzeug gewesen“, das Wills „Größe […] zuarbeitete“.
Newman erzählt die Handlung abwechselnd aus den Perspektiven ihrer beiden zentralen Figuren Kate und Ben. Die Ereignisse in New York zu Beginn des dritten Jahrtausends werden aus seiner Sicht geschildert, die Handlung im ausgehenden 16. Jahrhundert, von der Ben ausgeschlossen ist, hingegen ganz aus Sicht Kates.
Ben und Kate sind Menschen mit all den alltäglichen emotionalen und rationalen Widersprüchen, die Angehörigen unserer Spezies nun einmal eigen sind. Newman versteht es virtuos, sie in Worte, Sätze, Gedanken und Handlungen zu kleiden und ihren beiden ProtagonistInnen so Leben einzuhauchen. Auch anderen Figuren verleiht die Autorin – oft mit nur wenigen Strichen – Tiefe. Dies nicht etwa, indem sie deren jeweiligen Charakter beschreibt, sie lässt vielmehr die Handlungen ihrer Figuren sprechen. So zeichnet sich Emilias dreizehnjährige Dienstmagd etwa durch skurrile, jedenfalls aber originelle Reflexionen auf theologischem Gebiet aus, während der Blick auf Ben und sein Innenleben gelegentlich leicht humoristisch ausfällt, ohne ihn allerdings je zur Witzfigur zu degradieren. Wie alle Menschen macht er eben manchmal schmunzeln.
Überhaupt zaubert Newman mit wenigen Zeilen Stimmungen aufs Papier und so in die Gemüter der Lesenden. Dazu trägt auch bei, dass sie die Kapitel den Welten und Träumen, in denen sie handeln, stilistisch ein wenig anverwandelt hat. Was Newman mit Sprache anzufangen versteht, weiß man auch hierzulande ja bereits aus ihrem in dieser Hinsicht bahnbrechenden SF-Roman Ice Cream Star. Die Übersetzerin Milena Adam, die in Ice Cream Star so Großartiges geleistet hat, wird dem diesmal nicht immer ganz gerecht. So unterbricht es den Lektürefluss ein ums andere mal, wenn man wieder einmal über ein zwar längst zum Modeausdruck gewordenes, nach wie vor aber unsägliches „nichtsdestotrotz“ stolpert. Dabei wäre ‚nichtsdestoweniger‘ dem – wie man wohl vermuten darf – ‚nonetheless‘ oder auch ‚nevertheless‘ des Originals nicht nur näher, es wäre vor allem schöner. Auch ein ‚dennoch‘ wäre noch besser und zur Not ginge sogar ein ‚trotzdem‘.
Über diese Stolperfallen rettet die raffinierte Konstruktion des Romans hinweg. Mögen manche Lesenden vielleicht auch zunehmend hilflos einer lange Zeit ziellos anmutenden Erzählung folgen, so werden sie umso reichlicher belohnt, wenn sie durchhalten. Dies nicht nur, weil all die absonderlichen Traum-Zeitreisen zuletzt rational erklärt werden, so dass sich die scheinbar bloß phantastische Geschichte als dystopischer Zukunfts- und Parallelwelten-Roman erweist, der das „ureigene Wesen des menschlichen Bewusstsein, sich selbst wichtig zu nehmen“, geißelt.
Wie sich gegen Ende zeigt, ist Himmel seinem Vorgänger Ice Cream Star weit näher als es lange scheinen mag. Tatsächlich variiert er dasselbe Sujet. Denn Kates Unternehmungen, die Welt zu retten, zeitigen nicht eben die gewünschten Erfolge. Auch zeigt sich, dass sie keineswegs die Einzige ist, die das je versuchte – und versuchen wird. Einen Hoffnungsschimmer bietet der Roman schließlich dennoch; wenn nicht für die Welt, so doch für seine Protagonistin.
Erklärte Theodor Fontane, „[b]ei richtigem Aufbau“ eines Romans müsse bereits „in der ersten Seite der Keim des Ganzen stecken“, so steckt er in Newmans Roman im letzten Satz. Das ist auch nicht schlecht.
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