Vom Hochstapler zum Whistleblower im Zeugenschutz

Benjamin Quaderer debütiert mit „Für immer die Alpen“

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Mein Name war einmal Johann Kaiser. Wahrscheinlich haben Sie von mir gehört.“ Selten fängt ein Roman selbstbewusster an. Dabei handelt es sich bei dem Ich-Erzähler um einen notorischen Hochstapler, ein unter prekären Verhältnissen aufgewachsener Liechtensteiner, der sich u.a. über mehrere Jahre hinweg als Spross des Hilti-Unternehmens ausgibt. Dank seiner einnehmenden Persönlichkeit und dem (scheinbar) ausgeprägten Gerechtigkeitsanspruch gelingt es ihm, immer wieder neue Förderer zu finden, sodass seine Glückssträhne nur kurzzeitig abbricht. Als ihm einige Datensätze über Briefkastenfirmen in die Hände fallen, wird er mehr per Zufall als aus Überzeugung zum Whistleblower und nutzt diese günstige Gelegenheit, um unterzutauchen. Somit handelt es sich bei diesem – trotz Längen – spannenden Debüt um eine Mischung aus einem Schelmen-, Entwicklungs- und einem Kriminalroman mit einer Prise Gesellschaftskritik. Denn neben den vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen scheint dieser Roman implizit u.a. die (moralische) Motivation der Whistleblower und ihr Heldentum zu hinterfragen. 

Herauszustellen sind außerdem die strukturellen Elemente dieses Buches, wie z.B. der Einsatz von Fußnoten. So gibt es insbesondere am Anfang des Romans etliche Verweise auf literarische Werke, die fast unmerklich in Bezüge auf die von der Figur selbst verfassten Tagebücher und Auszüge aus der womöglich fingierten Korrespondenz des Protagonisten übergehen. Dies erzeugt eine gefühlte Objektivität und erhöht die Glaubwürdigkeit der Figur. Wer die VerfasserInnen der herangezogenen E-Mail-Nachrichten allerdings sind, bleibt aufgrund der geschwärzten Stellen ungewiss. Eine der Fußnoten ufert sogar zu einer eigenständigen Geschichte aus und der australische Freund Elton geht schließlich in die Handlung des Hauptstrangs über, womit er von einer Rand- zu einer Nebenfigur avanciert. Ein weiteres textgestalterisches Element ist das Kapitel Das zwölfte Buch, das aus zwei farblich voneinander abweichenden Textvarianten besteht: Die linke (rotbedruckte) Seite des Buches stellt Kaisers Persönlichkeitsanalyse durch den Kriminalpsychologen Dr. Jan Mayer dar, die rechte Seite des Romans (schwarz bedruckt) berichtet hingegen über Kaisers Aufenthalt in Berlin und fungiert zum Teil als Kommentar zu der ärztlichen Analyse. 

Erzähltheoretisch interessant ist überdies die Distanzierung des Ich-Erzählers von seinem früheren Ich, indem er kurzzeitig eine diskursive (antagonistische) Beziehung zu sich selbst eingeht, was als Wechsel von der Ich-Perspektive zur Narration in zweiter Person in Erscheinung tritt. Dieser Trick lässt nicht nur die Leserschaft glauben, dass sich der Ich-Erzähler zum Besseren verändert, sondern er veranschaulicht zudem die zeitliche Distanz zwischen dem erzählenden und dem erzählten Ich. Solche und ähnliche Doppelungen sind ein sich auf verschiedenen Ebenen des Textes wiederholendes Motiv, ein Spiel mit dem Schein der Vorstellung und der (angeblichen) Realität. 

Trotz der Sympathie dem Text gegenüber muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass die Lektüre durch ihre opulente Erzählweise einen negativen Beigeschmack bekommen kann, denn aufgrund der Textüberfrachtung wird man immer wieder einer Geduldsprobe unterzogen. Es handelt es sich hierbei um einen komplexen, dichten und originell gestalteten Text, dessen wirkungsästhetisches Ziel es vermutlich u.a. ist, den/die Leser/in zu verwirren. Denn durch die Flut an Informationen wissen die LeserInnen am Ende womöglich nicht mehr, was sie nun glauben sollen und was nicht. Eine positive Folge hiervon ist die Entautomatisierung der Wahrnehmung, wodurch der/die Leser/in aus den gewohnten Denkmustern rausgeholt wird. Quaderers Debüt ist ein vielversprechender Roman, der über eine interessante Gestaltung verfügt und, sofern man sich auf sein Spiel mit den Erwartungen und den literarischen Konventionen einlässt, eine Menge Lesevergnügen bereiten kann. Zu guter Letzt ist Für immer die Alpen ein Buch, über das man nach der erfolgten Lektüre noch gerne weiter nachdenkt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen.
Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2020.
592 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630876139

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