„Das Jahr dreht sich im Kreise“

Erich Kästners „Die 13 Monate“

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Erich Kästners Die 13 Monate kann man, wie jeden Gedichtband, auf vielerlei Weise lesen, und wie jeden von Kästner vergnügt und nachdenklich, auch nach einem Menschenalter noch, mit Bewunderung für die Eleganz dieser feinen Kunstgebilde und für manchen überraschenden Einfall, etwa den vom dreizehnten Monat, dem „Elfember“. Viele Verse und Formulierungen haben sich, zumindest älteren Lesern, wie Sprüche eingeprägt, die ihre Haltbarkeit nicht eingebüßt zu haben scheinen.

Das Buch selbst legt vor allem zwei Arten der Lektüre nahe. Man kann es Monat für Monat lesen, dabei jedes Gedicht in dem Monat, dem es gewidmet ist. Das ist auch ihre ursprüngliche Lektüre gewesen, denn die Gedichte erschienen zuerst monatlich von Dezember 1952 bis Dezember 1953 in der Schweizer Illustrierten Zeitung, von Richard Seewald illustriert, bevor der Atrium Verlag sie 1955 druckte.

Die Buchausgabe, mit einer Umschlagillustration von Walter Trier, ermöglichte es dann, die Gedichte jederzeit wiederzulesen, auch jedes Jahr, vorzugsweise am Anfang oder am Ende. Das ist die zweite Art der Lektüre, für die die Gedichte geschrieben wurden. Denn Die 13 Monate sind Zeitgedichte besonderer Art. Sie gelten nicht einem bestimmten Ereignis in der Zeit, sondern dem, was in ihr gleichbleibt: dem Zeitlosen der Jahres-Zeit. Das ist die Abfolge der Monate, das sind auch die Monate selbst in ihrer Eigenart. So gehört, bei Kästner, zum Januar der Schnee, zum Februar der Karneval, zum Mai die Blüte, zum Juli die Ferienzeit, zum September der Altweibersommer und zum Dezember der Weihnachtsmann.

Der Bogen, den Kästner spannt, beginnt mit dem Januar: „Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege“, und er endet mit dem Dezember: „Das Jahr ist alt. Hat dünnes Haar“. Kästner vermenschlicht die Zeit, sodass das Jahr wie eine Biografie verläuft: von der Wiege bis zum „letzten Tag“. Von den Monaten eines Jahres erzählt er wie vom Leben eines Menschen. Dass von Anfang an das Ende bekannt ist, gibt vielen Versen einen melancholischen Zug, der diesen letzten Gedichtband Kästners deutlich etwa vom ersten, frechen Herz auf Taille mit seiner berühmt gewordenen Gebrauchslyrik unterscheidet, auch noch vom vorletzten, witzigen Kurz und bündig mit seinen griffigen Epigrammen. Die 13 Monate sind erkennbar ein Alterswerk.

Und doch wirken die Gedichte noch immer frisch. Gedicht für Gedicht wartet Kästner mit originellen Vergleichen und Metaphern auf wie

Schnee vom vergangenen Jahr
blieb nicht der gleiche.
Liegt wie ein Bettbezug
klein auf der Bleiche.

Oder:

Im Galarock des heiteren Verschwenders,
ein Blumenzepter in der Hand,
fährt nun der Mai, der Mozart des Kalenders,
aus seiner Kutsche grüßend, übers Land.

Auch Kästner streut wie ein lyrischer Mozart fast verschwenderisch Pointen, gleichfalls Gedicht für Gedicht:

Unsre Orden sind Attrappe.
Bunter Schnee ist aus Papier,
Unsre Nasen sind aus Pappe.
Und aus welchem Stoff sind wir?

Oder:

Und indes die Zeit vergeht,
bleibt uns doch nur eins: die Zeit. 

Metaphorisch und pointiert endet auch das kleine Buch, das einer der kürzesten Gedichtbände der deutschen Literatur sein dürfte:

Es tickt die Zeit. Das Jahr dreht sich im Kreise.
Und werden kann nur, was schon immer war.
Geduld, mein Herz. Im Kreise geht die Reise.
Und dem Dezember folgt der Januar.

Das ist ein ebenso gekonnter wie zweifelhafter Schluss. Kästner beschwört in ihm nichts anderes als die ewige Wiederkehr des Gleichen. Sein Gewährsmann dafür ist Goethe: der Goethe der Seeligen Sehnsucht. So heißt es am Ende des Oktober-Gedichts:

Folg der Zeit. Sie weiß die Richtung.
„Stirb und werde!“ nannte er‘s…

Dass das Jahr wie ein Leben verläuft, heißt bei Kästner auch, dass sich das menschliche Leben wie das Jahr im Kreis bewegt.

Der letztlich mythische Gedanke der Wiederkehr des Alt-Bekannten mag Anfang der 50er Jahre etwas Beruhigendes, ja Hoffnungvolles gehabt haben. Es wird wieder, wie es einmal war, suggerierten Kästners Gedichte, oder, wie es in Oktober heißt: „Was vorüber schien, beginnt“ ‒ nämlich von Neuem. Es kehrt zurück, was vor der großen Zerstörung durch den Krieg war. Doch inzwischen haben sich die Zeitläufte, abermals, geändert, auch ohne Krieg, in der Natur wie in der Gesellschaft: Zur Zeit dreht sich die Zeit nicht im Kreis.

Literaturhinweis

Erich Kästner: Die 13 Monate. Zürich: Atrium Verlag 1999.

Scherenschnitt von Simone Frieling

Der Beitrag gehört zu Dieter Lampings Kolumne: Wiedergelesen