Im Charakter unserer Zeit

Dirk Rose liefert eine umfassende Studie zur Geschichte der Polemik als literarische Kommunikationsform

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unsere Zeit tiefgreifenden Umbruchs ist geprägt von einer fortschreitenden Polarisierung der Gesellschaft, die in einer sich zunehmend verschärfenden Rhetorik der jeweiligen Konfliktparteien sichtbar wird. Digitale Räume entgrenzen die Debatten.

Ein umfassendes Werk zur Polemik scheint also genau dem Geist unserer Zeit zu entsprechen und doch gelangt der Verfasser des vorliegenden Werkes zu der Ansicht, dass literarische Polemik im Wesentlichen der Vergangenheit angehöre, wenngleich er anfänglich versichert, im Falle der Polemik handle es sich um ein die Moderne mitkonstituierendes Phänomen oder zumindest einen bezeichnenden Charakterzug dieser Epoche. So könne dieselbe denn auch nicht als sprachgewaltiges Turnier betrachtet werden, nicht nur als eine Art des Spiels. Vielmehr würden in Polemiken Grundkonflikte und Probleme der Moderne sichtbar. Mithin fielen Umbrüche polemischen Schreibens auch immer mit gesellschaftlichen Umbrüchen zusammen.

Roses in fünf Kapitel zerfallende Darstellung bietet nach einem kurzen Problemaufriss eine umfassende Analyse der Entstehung moderner Polemik, die nach seinem Dafürhalten mit Kant einsetzt. Schon hier zeigt sich der weite Horizont der Darstellung, die eben erklärtermaßen nicht dazu dient, klassische, bekannte polemisch geführte Debatten neu darzustellen, sondern sich dem Phänomen an ausgewählten Beispielen anzunähern. Und so wird der Kundige gewiss die ein oder andere Auseinandersetzung missen, hierfür jedoch durch Unbekanntes reichlich entschädigt. Indem Rose in erster Linie die „Strukturbedingungen literarischer Polemik“ hinterfragt, verdeutlicht er deren Funktion in den Konflikten konkreter historischer Situationen. Rose unterwirft sich hierbei keineswegs einer verengenden Perspektive auf den Begriff des Literarischen. Philosophischen, politischen, ästhetischen Konflikten gibt er ebenso Raum wie jenen Polemiken theatralischer, prosaischer oder poetischer Texte.

Anknüpfend an die klassischen Studien von Jürgen Stenzel zur Theorie der Polemik greift Rose das Phänomen auf. Polemiken zielen auf eine negative Darstellung ihres Gegenstandes ab und dienen dazu, die Argumentation des Verfassers als seinem Gegner überlegen erscheinen zu lassen. Moderne Polemik sei von der Vormodernen dadurch zu unterscheiden, dass diese vor allem „ein rhetorisch geprägtes Kommunikationsmodell“ gewesen sei. Sie sei vor allem in theologischen Auseinandersetzungen sichtbar geworden.

Der streng an den Regeln der Aussagenlogik geschulte Rhetoriker trachtete im wissenschaftlichen respektive theologischen Streit vor allem danach, seinen Gegner mit Argumenten zu überzeugen. Dem Polemiker ist es hingegen um eine nachhaltige Diskreditierung des Gegners beschaffen. Den Artikel Streitschriften in Zedlers Universallexikon unter die Lupe nehmend meint Rose konstatieren zu dürfen, dass in jenem Lexikon eine Präferenz zur mündlichen Konfliktaustragung vertreten worden sei. Das Universallexikon, das Mitte des 18. Jahrhunderts entstand, sei in einer Situation verfasst, die eine „Genese der literarischen Öffentlichkeit“ mit sich gebracht habe.

Moderne Polemik beginne mit Kants Kritik der reinen Vernunft, so Rose. Für Kant dient Polemik der Verteidigung der Sätze der reinen Vernunft, sie solle jedoch letztlich überflüssig werden. Gelehrte bedürften der Polemik nicht mehr. Kant zielte nicht prinzipiell auf die Unterbindung gelehrten Streits, sondern, wie Rose formuliert, auf eine „domestizierte Polemik“, die bestimmten Regeln folgt. (90) Obgleich die Polemik durch Kant ein klar umrissenes „Einsatzgebiet“ erhalten habe, sei das Projekt des Königsberger Philosophen durch den aufkommenden Streit um dessen sprachliche Vermittlung in Bedrängnis geraten. Hierdurch habe sich Fichte bemüßigt gefühlt, sich ebenso den Funktionsmechanismen der Polemik zuzuwenden.

Fichte ging es hierbei nicht so sehr um die inhaltliche Auseinandersetzung mit Kants Anschauungen zur Polemik beziehungsweise zur Form des wissenschaftlichen Streites als vielmehr um ihre Vermittlung. Lesbar erscheinen ihm Kants Texte nur für denjenigen, der schon vorher geahnt habe, was drin steht. Fichte ging es also um Vermittlung, und wenngleich er den Leser explizit auffordert, sich des eigenen Verstandes bedienend den Fichteschen Gedanken gegenüberzutreten, so habe er dies nicht ernsthaft gewollt, versichert Rose. Vielmehr stellen Fichtes Texte einen Monolog dar, den der Leser schweigend zustimmend zur Kenntnis zu nehmen habe. Da der Leser nun selbst Gegenstand der Polemik werde, fehle jenen Schriften die urteilende „polemische Instanz“.

Ähnlich seien die Auffassungen beider Denker durchaus gewesen. Auch für Fichte sei Polemik eine sekundäre Erscheinung, auch er habe letztendlich ihre Auflösung gewünscht. Dem scheint Fichtes eigener argumentativer Stil entgegenzustehen. Fichte ist ein Verfechter der mündlichen Streitkultur.

Eine Tendenz, die sich bereits im 17. Jahrhundert andeutet, ist jene, den philosophischen und literarischen Diskurs wie auch den wissenschaftlichen weniger in der lateinischen als vielmehr in der deutschen Sprache zu führen. Wenngleich es selbst Ende des 18. Jahrhunderts noch möglich war, diese muttersprachliche Form der Debatte als unredlich zu bezeichnen, so widersprach dies im Grunde genommen den bereits seit dem beginnenden 18. Jahrhundert vermehrt einsetzenden Publikationen literarischer und moralischer Wochenschriften in deutscher Sprache. Rose geht hier unter anderem auf die Briefe, die neueste Literatur betreffend ein, die von Lessing, Moses-Mendelsohn und Friedrich Nicolai herausgegeben wurden.

Der „intendierte Leser“ dieses „Rezensionsjournals“ habe sich vor allem „dem Schreibenden, als lesenden Teile der sogenannten Gelehrten“ zugewandt. Dies stehe im Widerspruch zu der die Herausgeber ersetzenden Herausgeberfigur in Form eines Offiziers, der gleichsam als Adressat der Literaturbriefe fungiert. Dieser Offizier hofft seine durch den Siebenjährigen Krieg verschüttet gegangenen Kenntnisse neuerer Literatur durch eine Auseinandersetzung mit neuen Werken zu vertiefen. Gerade Offiziere waren es, denen eine umfassende Allgemeinbildung und spezifische Kenntnisse vor allem im Bereich der mathematischen Wissenschaften, aber auch in der Auseinandersetzung mit jüngeren politischen Entwicklungen, zugemutet wurde.

Die „Publizistik“ habe in jener Zeit, „vor einer besonderen Herausforderung“ gestanden, „nämlich zum einen das gelehrte Publikum zu befriedigen“, zum anderen durch „Medienöffentlichkeit“ zu informieren. Dies erkläre die Auswahl der Herausgeberfigur. Zudem gelingt den Herausgebern, in Form des Offiziers einen Bezug mit den aktuellen politischen Ereignissen zu konstruieren, also zu jenem militärischen Konflikt, der später Siebenjähriger Krieg genannt werden wird. Die Idee, sich an einen verwundeten Offizier zu richten, stammte von Lessing. Die Literaturbriefe hätten in enger Verbindung zum aktuellen Kriegsgeschehen gestanden.

Unter der Überschrift „Literatur als Schlachtfeld“ konstatiert der Verfasser, dass Lessing die Literaturbriefe als literarisches Feld gesehen habe, auf dem Schlachten geschlagen würden, die mit jenen des Siebenjährigen Krieges vergleichbar seien. Es sei hier um die zukünftige Ordnung der deutschen Literatur gegangen. Literatur habe einer neuen Ordnung bedurft, „vor allem aber neue[r] Autoritäten“. (140)

Lessing war treibende Kraft einer deutlich aggressiveren Polemik in der Auseinandersetzung mit Literatur. Sein Mitredakteur Friedrich Nicolai fühlte sich bemüßigt, den späteren Verfasser des Nathan mit den Worten zu warnen:

Die Polemik ist eine schöne Hure, die zwar lockt, aber wer sich mit ihr gemein macht –, und das begegnet den gesündesten am leichtesten –, bekommt die Krätze oder Filzläuse, die dann fest sitzen, wenn die Hure schon längst vergessen ist. (135)

Am Beispiel des Kampfes gegen Gottsched und Dusch wird Lessings aggressive Haltung verdeutlicht.

Lessings Nathan der Weise sei ein Ausdruck dieser Auseinandersetzung gewesen, eine „Frucht der Polemik“, wie Rose es nennt, wenngleich er zugibt, dass „der polemische Kontext des Stückes darin verhältnismäßig wenig präsent ist“, ja sogar von einem Konsensmodell gesprochen werden kann und das im Nathan konstruiert sei.

Wenn Rose eingehend betont, sein Buch diene nicht dazu, historisch gewordene Polemiken neu abzuhandeln, so kommt er doch nicht umhin, einige wesentliche Streitigkeiten exemplarisch darzustellen, etwa die zwischen dem Theologen Götze und Lessing.

Er behandelt ihn ausführlich, um auf eine wesentliche Veränderung in der Historie der Polemik zu verweisen. Beide, Götze und Lessing, hätten sich eines unterschiedlichen Polemik-Begriffs bedient. Während Götze sich vor allem noch an der theologischen Polemik orientierte, die an „syllogistisch korrekte Schließverfahren“ gebunden war, so war für Lessing gerade die alte Polemik aufgrund ihrer Methodik obsolet. Er stellte sie unter den „Verdacht der Unaufrichtigkeit“. Lessing pflegte eine explizit literarische Form der Polemik, die sich nicht an vorgefertigte Methoden band, sondern durchaus darauf abzielte, den Gegner zu diskreditieren. Götze kritisierte diese Form des Urteils als affektiv im Gegensatz zur rationalen Urteilskraft.

Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts beginnt langsam die Auseinandersetzung mit der Polemik an sich einzusetzen. Das heißt, sie durchläuft einen Prozess, der sich wegbewegt von der konkreten Auseinandersetzung zwischen Personen, hin zu einer Theorie der Polemik. Als Beispiel hierfür führt Rose die anonym erschienene Theorie der Kunst des Schenkens von 1789 an, die auf die ästhetischen Grundlagen der Polemik abzielte. So regte auch Karl-Friedrich Kramer eine Mustersammlung von Polemiken an, die zwar noch „in der Tradition frühneuzeitlicher“ rhetorischer Sammlungen gestanden habe, sich aber schon der Ästhetik der Polemik zuwendet.

Es geht ihm weniger um Polemiken, auch ist es ihm nicht darum beschaffen, die auf ihnen basierenden Einstellungen näher zu untersuchen, sondern um die Veränderung des Polemik-Begriffs.

Es liegt in der Natur der Sache, dass Bruchlinien der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen literarischen Stilen in unterschiedlichen Formen ausgefochten wurden, etwa die Auseinandersetzung um Pro und Contra der Romantik, die nicht zuletzt auf der Bühne ausgetragen wurde. In die Zeit dieser Auseinandersetzung fällt auch Ludwig Tiecks Bemerkungen über Parteilichkeit, Dummheit und Bosheit. Er wirft den Kritikern der Romantik vor, sich mit Bühnenstücken an ein gemischtes Publikum zu wenden. Jenes gemischte Publikum verfügt nach Tiecks Auffassung nicht über ausreichende Kenntnisse, um sich ein angemessenes Urteil zu bilden. Er hebt hervor, dass dieses gemischte Publikum sowohl aus klugen als auch halbgebildeten wie auch einfältigen Leuten bestehe. Ausführungen über Kotzebue, Grabbe sowie Joseph Görres folgen.

Bürgerliche Existenz schließlich spiegelt sich in der umfassenden Schrift Signatur des Zeitalters aus den Jahren 1820/23, die sich der Epoche Napoleons resümierend zuwendet. Friedrich Schlegel konstatierte darin eine polemische Totalität, die die alte tradierte politische Ordnung aufzulösen half.

In seinem dritten Kapitel, „Die Ästhetisierung der Polemik – Heine und die Folgen“, verweist der Verfasser auf die Verbindung der sozialen, politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen und ihre Widerspiegelung in einer Polemik, die sich bemüht, vor allem durch ästhetische Mittel zu überzeugen. Dennoch betrieb Heine polemisches Schreiben keineswegs zum Selbstzweck. Für Heinrich Heine ist Polemik integraler Bestandteil modernen Schreibens.

So „grausam doch mit der lieblichsten Grazie“ wie Heine habe niemand geschrieben, greift Rose die Formulierung einer Rezension des Jahres 1835 auf. (225) Robert Gottschall nannte Heine einst „König der Polemik“. Dieser Wertung schließt sich Rose offensichtlich an, indem er Heine einen Klassiker der Polemik nennt. Er sei es nicht nur aufgrund seines „Buches der Lieder“. (228)

Von Schiller und Bürger ausgehend, wendet sich Rose Goethes polemischen Teil der Farbenlehre zu. Die ältere Forschung habe im Zusammenhang mit Goethe oft dessen Abneigung gegenüber der Polemik betont. Dem stellt Rose gegenüber, dass Goethe sehr wohl in allen Zeiten seines Schaffens auch polemische Texte verfasst habe. Dies habe sich nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit Newtons Farbenlehre gezeigt. Gleichwohl kommt er nicht umhin, auch für Goethes Einstellung zu Polemik das Wort „Störfaktor“ zu gebrauchen, für Schiller gilt gleiches. Schlegel habe Polemik als Bestandteil „philosophischer Spekulation“ gesehen.

Es ist bedauerlich, dass Rose Marx gerade einmal vier Seiten seiner Abhandlung widmet. (273–276) Marx trachtete danach, Polemik geschichtsphilosophisch zu funktionalisieren. Radikal habe er polemisches Argumentieren in den Dienst seiner Sache gestellt. Interessant erscheint hierbei die Parallele, die er zu Nietzsches radikaler Polemik zieht. Auch Engels Moderne Polemik wird kurz angerissen. In dieser Schrift setzt sich Engels als junger Literaturkritiker mit dem Jungen Deutschland auseinander.

Während Marx nur vier Seiten gewidmet sind, wendet sich Rose Nietzsche in einem ganzen Kapitel unter der Überschrift „Die Kulturalisierung der Polemik – Nietzsche und die Folgen“ zu.

Allerdings schildert er hier Kulturkritik in vielen Facetten und berücksichtigt sowohl theologische Kampfschriften als auch auch historische, etwa die Treitschkes oder Paul de Lagardes. Nietzsche habe an die kulturkritischen Vorgänger angeknüpft, jedoch mit gänzlich anderer Tendenz. Während kulturkritische Schriften Paul de Lagardes oder Treitschkes auf den Kampf der Nation gegen innere und äußere Feinde abzielen, trachtete Nietzsche danach, erst eine Nationalkultur zu begründen und hierfür die Basis zu liefern.

In gewisser Hinsicht stellte Nietzsches Polemik einen Rückgriff auf die alten Grundsätze der Gelehrtenrepublik dar, etwa, wenn er fordert, dass man den Gegner nicht durch allgemeine Reflexionen bekämpfen, sondern „auf die einzelnen Behauptungen desselben und den Nachweis wo diese irrig sind“ (351) eingehen solle.

Zu den eifrigsten Kritikern Nietzsches zählte Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der über Nietzsches Schriften urteilte, sie seien eine Mischung aus Predigt und Journalismus, die sich selbst diskreditierten. Von Wissenschaftlichkeit sei hier keine Spur. Die Nietzsche-Passagen in dem Buch sind etwas ausufernd geraten und führen vom Wege der Darstellung ab, etwa, wenn sich Rose der Selbststilisierung des Philosophen zuwendet. „Polemik nach Nietzsche weist sich durch einen radikalen Gestus aus, der alle widerstrebenden Elemente negiert und nach Möglichkeit eliminieren will.“ (426) Einer umfassenden Darstellung der literarischen Polemik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der er insbesondere die Bedeutung Karl Kraus‘ betont (bedeutendster Polemiker der deutschsprachigen Literatur), wendet er sich der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu.

Das Jahr 1945 habe einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Polemik bedeutet. Rose möchte den Leser glauben machen, dass es trotz des Kalten Krieges keine wesentlichen Entwicklungsschübe im Hinblick auf polemisches Schreiben mehr gegeben habe. Auch die polemischen Schriften Paul Rillas und anderer lässt er nicht als etwas Neues gelten. Vielmehr seien jene Konflikte, die auch schon in der Weimarer Republik zugegen gewesen seien, nun schlichtweg weiter ausgetragen worden.

Etwa Peter Sloterdijks 1983 erschienenes Buch Kritik der zynischen Vernunft habe „Tendenzen zur Neutralisierung der Polemik“ Rechnung getragen. Rose betont den antipolemischen Zug der Zeit, etwa, wenn er Daniel Hamilton von der John Hopkins Universität zitiert: „Polemische Essays werden nicht geschrieben, um Verständnis zu fördern. Sie werden geschrieben, um Gefühle abzulassen. Sie generieren Hitze, aber nicht viel Licht.“ Diese Haltung sei nach 1945 bei vielen Autoren allgemein gewesen.

Eigenartigerweise scheine gerade „unter den Bedingungen einer massenmedialen Moderne“ Polemik keinen Platz mehr zu haben. Botho Strauß‘ Essay Anschwellender Bocksgesang lässt er noch einmal als Versuch gelten, den polemischen Diskurs in Gang zu setzen. Als neues Medium der Polemik gilt ihm seit Jahren das Internet, in dem ein „regelrechter Zwang zu Konfrontation zu herrschen“ scheint. Allerdings seien viele Foren dazu übergegangen, kontroverse Aussagen, Texte und Tweets zu löschen.

Insgesamt liegt also eine sehr lesenswerte Studie vor. Kritik ist nur bezüglich kleinerer Passagen angebracht. So ist etwa anzumerken, dass Rose, sofern er von frühneuzeitlicher Polemik spricht, stets den Zedler bemüht, als gäbe es nicht eine Unmenge überlieferter anderer Quellen. Rose fasst Polemik als Wesenszug der Moderne auf, hinterfragt aber nicht die ökonomischen Bedingungen dieses sich fortwährend steigernden Prozesses.

Auch zieht er selten Parallelen zu politischen Prozessen der Zeit oder des wissenschaftlich-technischen „Fortschritts“. So wäre es sicher interessant, die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Beschleunigung und Polemik darzustellen. Geschwindigkeit und Oberflächlichkeit des Schreibens führen zwangsläufig zum Bemühen, den politischen Gegner oder literarischen und philosophischen Gegner zu diskreditieren. Polemik kommt für Rose nur im Diskurs der Künstler, Literaten, Philosophen und Politiker vor, die Ursache sich steigernder Polemik benennt Rose nicht.

Kleinere Fehler erscheinen verzeihlich, etwa, wenn Rose Treitschke zuschreibt, er habe mit seiner Schrift 10 Jahre deutscher Kämpfe 1874 suggerieren wollen, „in einem jahrelangen Stellungskrieg“ an der „publizistischen Front“ ausgeharrt zu haben. Hierzu könnte der kritische Militärhistoriker anmerken, dass Treitschke der Stellungskrieg weitgehend unbekannt gewesen sein dürfte, denn er ist, abgesehen von ersten Vorboten im Krimkrieg, eine Erscheinung des Ersten Weltkrieges. (334)

Die Absicht, einem anderen Geist polemisch entgegenzutreten, also nicht so sehr ruhig argumentierend verschiedene Positionen abzuwägen, sondern den Versuch zu unternehmen, einen Gegner in den Augen anderer herabzusetzen, ist nicht nur ein Kind der Moderne, sondern auch eine Mutter postmoderner Diskurse. So sei dieses Werk nicht allein dem Literaturwissenschaftler ans Herz gelegt, sondern jedem, der sich dem Charakter unserer Zeit zu nähern gedenkt. Die Aktualität der Betrachtungen Roses wird einmal mehr in einem im Buch präsentierten Zitat von Fichte verdeutlicht. Einem Manne entschlüpfe in vertrauter Runde ein Wort, heißt es dort, das er sogleich bereue, dann jedoch werde kurze Zeit später alles ruchbar. Zeitungen ließen sich darüber aus, ob er dies so gemeint habe oder nicht.

Diese polemischen Scheingefechte prägen auch die heutigen massenmedial ausgetragenen Konflikte. Der Rezensent verkennt hierbei keineswegs, dass Rose dieser Auffassung gewiss nicht zustimmen wird.

Titelbild

Dirk Rose: Polemische Moderne. Stationen einer literarischen Kommunikationsform vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
706 Seiten , 73,00 EUR.
ISBN-13: 9783835336278

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