Doku-Roman als Canapés gereicht

Carmen Korn gibt viele knappe-Einblicke in das Leben dreier Familien in „Und die Welt war jung“

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Carmen Korn zählt zu den aktuell erfolgreichsten deutschen Autor*innen, denn mit ihrer Jahrhundert-Trilogie, bestehend aus Töchter einer neuen Zeit (2016), Zeiten des Aufbruchs (2017) und Zeitenwende (2018), hat sie sich eine beachtliche Fangemeinde erschrieben. Viele haben daher Und die Welt war jung, den ersten Band ihrer Drei-Städte-Saga, mit Spannung erwartet.

Korn bleibt dem Procedere treu, das sie auch für ihre ersten Romane gewählt hat: sie porträtiert alternierend verschiedene Akteur*innen in ihrem jeweiligen Umfeld. Während sie in der Jahrhundert-Trilogie allein chronologisch vorgeht, dabei die einzelnen narrativen Sequenzen mit Monat und Jahreszahl überschreibt, bewegt sie sich nun zwischen Familien, die in Köln, San Remo und Hamburg leben. Gerda Aldenhoven aus Köln unterhält intensive freundschaftliche Beziehungen zu Elisabeth Borgfeldt in Hamburg. Als die beiden sich im Kindesalter an der Ostsee kennenlernen, werden sie Freundinnen und sind es nun seit nahezu 30 Jahren. Die Cannas in San Remo und die Aldenhovens in Köln sind verwandtschaftlich miteinander verbunden, denn in San Remo lebt Margarethe Canna, die Schwester von Heinrich Aldenhoven.

Mit einer Kurzcharakteristik der Hauptfiguren und einer Skizze ihrer Interrelationen gelingt ein sanfter Einstieg in das Geschehen, das die gesamten 1950er Jahre umfasst und Momentaufnahmen einzelner Tage dieser Zeitspanne präsentiert.

In Köln wohnen Gerda und Heinrich mit ihren erwachsenen Kindern Ursula und Ulrich, außerdem haben sie Billa und Lucy, Heinrichs Cousinen, die ausgebombt wurden, bei sich aufgenommen. Den Lebensunterhalt der Familie sichert mehr schlecht als recht eine Kunstgalerie, die Heinrichs Vater gegründet hat. Im Mittelpunkt des Geschehens in Köln steht die Suche nach einem Gemälde aus einem Bilderzyklus des deportierten und ermordeten Künstlers Leo Freigang. Als Gerda und vorübergehend auch Ursula mit für die Galerie verantwortlich sind, laufen die Geschäfte besser. Gerda und Heinrich sind weltoffen und unkonventionell. So nehmen sie Carla bei sich auf, eine Freundin ihres Neffen Gianni, die in San Remo von dem verheirateten Bixio schwanger geworden ist. Alles fügt sich zum Guten, denn Carla verliebt sich in Ulrich und gründet mit ihm eine Familie. Ursula, die Kunst studiert hat, ist mit dem 30 Jahre älteren Jef Brouwer liiert, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt.

Heinrichs Schwester Margarethe lebt in San Remo unter einem Dach mit ihrem Mann Bruno, ihrem Sohn Gianni, ihrer herrischen und traditionsbeflissenen Schwiegermutter Agnese sowie mit ihrem Schwager Bixio und dessen Frau Donata. In San Remo folgen alle Agneses strengem Regime, das auf einer Durchritualisierung des Alltags beruht. Aller katholischen Prägung zum Trotz kann Bixio nicht von außerehelichen Beziehungen lassen. Auf Carla folgt Lidia, die ein leidenschaftlich ausagiertes Ehedrama initiiert und schließlich für Bixios Scheidung von Donata sorgt. Auch Gianni kann sich nach und nach vom Einfluss seiner Großmutter lösen und mit der Eröffnung einer Bar in der Innenstadt von San Remo eigene Wege gehen. Dort stellt er den jungen Pianisten Pips ein, der seine Heimatstadt Köln nach dem Krieg verlassen hat.

Hamburg ist der Schauplatz des Handlungsstrangs um Elisabeth und Kurt Borgfeldt mit ihrer Tochter Nina und deren Sohn Jan. Sie leben in sehr beengten Verhältnissen, denn über ihnen sind zwei Familien einquartiert. In der Silvesternacht 1949/50 lernt Nina den englischen Journalisten Vinton Langley kennen. Während Elisabeth fest daran glaubt, dass ihr Schwiegersohn Joachim, vermisst seit März 1945, zurückkommen wird, verlieren Nina und ihr Vater die Hoffnung darauf. Joachim erscheint exakt zu der Zeit in Hamburg, als Nina ihn für tot erklären lassen möchte, um Vinton zu heiraten. Nach einer Zeit zermürbender Auseinandersetzungen, die in einem Selbstmordversuch gipfeln, zieht sich Joachim zurück, führt sein Studium zu Ende und absolviert sein Referendariat als Gymnasiallehrer. Vinton und Nina bleiben zusammen, Joachim heiratet zu guter Letzt Ursula, die Tochter der Aldenhovens aus Köln.

Mit den verschiedenen Eheschließungen, die im Verlauf des Romans gefeiert und mit den Kindern, die geboren werden, scheinen fast alle losen Enden miteinander verknüpft und die Grundbedürfnisse evasiven Lesens befriedigt. So einfach ist es nicht, denn vor allem braucht man einen langen Atem, um so weit zu kommen. Leider ist das Verfahren der Parzellierung, in dem die einzelnen Handlungsstränge kaum miteinander verknüpft, sondern parallelisiert werden, im vorliegenden Roman oftmals ohne jede Spannung, weder mit Blick auf das innerfiktionale Geschehen noch mit Blick auf die Literarizität bzw. Ästhetik des Textes. Nicht selten drängt sich der Eindruck eines opus compositum auf, dem es an Kohärenz und Stringenz mangelt.

Das, was in Ken Folletts Jahrhundert-Saga mitunter allzu aufdringlich und zu erschütternd tragisch daherkommt und was in Carmen Korns eigener Jahrhundert-Trilogie adäquat dramatisch konzertiert, unterliegt hier in weiten Teilen einer Nivellierung. Daraus resultiert eine fiktionalisierte Dokumentation, die, sieht man von einigen Eskalationen ab, recht indifferent vor sich hinplätschert. Um Begriffe von Georg Lukács zu bemühen: man bewegt sich eher in einer extensiven als in einer intensiven Totalität, denn leider setzt die Autorin weder auf Individualität noch Intensivierung des zugrunde gelegten Empirischen. Chronologie und Topologie sind als beispielhaft zu verstehen, dabei aber nicht als typisch, denn im Typischen würde Individuelles und Exemplarisches in gekonnter Verflechtung harmonieren.

Auch die Figuren sind nicht in diesem Sinne typisch, sondern meistens flach. Dass es anders hätte aussehen können, manifestiert sich insbesondere und mehr als ansatzweise in Joachim, „Jockel“ Christensen, ein bisschen in der traumatisierenden Geschichte, die Elisabeth ihrer Freundin Gerda anvertraut, ebenso kursorisch bei Vinton Langley, Jef Brouwer und insbesondere Pips, denn zutiefst geprägt und partiell destruiert sind sie von Ereignissen aus dem Zweiten Weltkrieg. Joachim, der erst nach mehr als acht Jahren russischer Kriegsgefangenschaft, im Juli 1953, nach Hamburg zurückkehrt, besitzt nach einer suizidalen Phase die Größe, auf seine Ehefrau, die sich ihm entfremdet hat, zu verzichten und sich peu à peu ein eigenes Leben aufzubauen. Mit Ursula wird er es eher aus Vernunft, denn aus Liebe teilen. Anders als Pips, der im Alter von 16 Jahren von der Gestapo gefoltert wurde, dabei einen Finger verloren hat und nach eigener Aussage asexuell wurde, sind Jockel und Ursula in ihrem privaten Hafen angekommen.

Wenn es um diese Schicksale geht, bewegt sich die Narration recht zügig vorwärts, um dann aber wieder prompt zurückzurudern. Mannigfache Möglichkeiten der Elaboration werden nicht nur bei den Figuren verspielt, sondern auch bei den oft schwierigen Themen der Nachkriegszeit. Sie werden aufgewirbelt, treten summarisch, enumerativ auf, so etwa die Einquartierung von Fremden oder Verwandten im Haus, der Wiederaufbau, insbesondere der Stadt Köln, die Judenverfolgung, andere Gräueltaten der Nazis, Denunziationen, verschwundene Kunstwerke, verschollene Familienmitglieder, Partisanentum in Italien und „Tommyliebchen“.

Mit der Ausnahme des vermissten Ehemanns und des abhanden gekommenen Kunstwerks, bei deren Ausarbeitung eine gewisse Tiefe erreicht wird, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Themen durch den Text paradieren. Dabei ergibt sich das Paradox der knappen Evokation einerseits, des iterativen Drehens im Kreis andererseits. In der Wiederholung könnten eine Perspektivierung und eine Positionierung der Figuren zum Thema stattfinden, wie etwa in der polylogischen Anlage eines traditionellen Briefromans. Überhaupt hätte die Subjektivierung qua Ich-Perspektive den Text vielleicht ein Stück weitergebracht. Die heterodiegetische Erzählstimme indessen verhält sich nahezu exzessiv neutral, was zum einen ans Tragische grenzt, zum anderen aber steril und reizlos wirkt.

Mit dem einen Jahrzehnt erzählter Zeit optiert Korn für eine großflächige Konzeption ihres Romans. Fixpunkte sind respektive am Neujahrstag 1950 und 1959 Gerdas Blicke auf die Kalkstein-Figur des flötenspielenden Pan auf einem Brunnen vor ihrem Haus in Köln. Mit der Aufmerksamkeit, die sie dem Pan schenkt, möchte sie ein gutes neues Jahr heraufbeschwören. Neben diesem chronologischen Anker fällt eine unorganisiert wirkende Zunahme der (Sprung-)Raffungsintensität auf, daneben wirken die Daten, die aus den Jahren herausgegriffen werden, manchmal kontingent, manchmal nicht, dann nämlich, wenn bedeutende Ereignisse direkt in der zeitlichen Kontextualisierung des jeweiligen Tages erzählt werden. Über Wichtiges erfolgt der Bericht zuweilen aber mit chronologischer Retardierung.

In den kurzen Zeitfenstern, durch die hinein auf die Familien geblickt wird, reduzieren sich die Dialoge nicht selten auf Unverbindliches, so etwa Champignons, die „aus der Büchse“ kommen, aber unbedingt von Bassermann sein müssen und nur leicht gedünstet werden dürfen. Eigentlich nur einmal gehen die Gespräche der Freundinnen Elisabeth und Gerda über den üblichen „Klönschnack“ hinaus – Elisabeth berichtet von einem jungen Soldaten, der sich kurz vor Kriegsende in ihrem Gartenhäuschen versteckte und von der SS geholt und hingerichtet wurde. Sie hatte ihm verwehrt, in den Keller ihres Hauses zu flüchten.

Im Allgemeinen verweigern sich die Kommunikationspartner*innen immer dann, wenn das Gespräch in Tiefen emotionaler Befindlichkeiten gleiten könnte. Dann ziehen sie es vor, auf Platituden auszuweichen – z.B. „Unter jedem Dach ein Ach“. Vermutlich sind diese Reaktionen zeittypisch, sie unterstreichen aber einmal mehr, dass Korn in allzu realistischer Breite unterwegs ist, in der sich nur bedingt literarische Dichte auftut. Mit diesem Duktus geht ein stakkatoartiger, parataktischer Stil einher, mit dem Alltagsdialoge 1:1, will sagen in der Identität von Erzählzeit und erzählter Zeit, imitiert werden.

Natürlich kann dokumentarischer Realismus auf diese Art und Weise funktionieren. Im Lokalkolorit der postnaturalistischen „tranches de vie“ bzw. Milieustudien dominiert Horizontalität, entfaltet sich fortschreitend ein Diorama, das dennoch restringiert bleibt, denn viele kleine Punkte der Exemplarität lassen die Fusion von Individuellem und Allgemeinem im Typischen vermissen. Vertikalität würde bedeuten, dass man sich einem Schicksal widmet, dieses in seiner interindividuellen, mikro-, meso- und makrosystematischen Bedingtheit und seiner intraindividuellen Konstitution projektiert und konturiert. Ansätze dazu gibt es, aber grundsätzlich ist Carmen Korn sehr weit davon entfernt.

Und die Welt war jung wird letztendlich in kleinen Häppchen gereicht. Sie stillen den Hunger, aber ein befriedigendes Sättigungsgefühl bleibt aus. Vieles, was Spuren hinterlassen könnte und sollte, berührt oftmals nicht. Aber vielleicht ist das charakteristisch für die Gattung Dokumentarroman. Es ist als Potpourri nicht uninteressant. Ab und an ergeben sich nach einzelnen Episoden sogar Cliffhanger und hinzuweisen ist nicht zuletzt auf einen Schluss, der nicht nur „Friede Freude Eierkuchen“, sondern immerhin auch die Besonderheit einer Verfolgungsjagd bietet.

Titelbild

Carmen Korn: Und die Welt war jung.
Kindler Verlag, Reinbek 2020.
576 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783463407043

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