Der Mittelmeer-Raum in der Perspektive eines baltischen Forschers

Michael Schwidtal stellt den großen estnisch-deutschen Kulturhistoriker Victor Hehn vor

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Victor Hehn (1813–1890), der estnisch-deutsche Kulturhistoriker und Altphilologe, eröffnet sein Werk Italien. Ansichten und Streiflichter, erschienen in St. Petersburg 1867, mit dem Satz:

Wenn der Nordeuropäer […] einen der Alpenpässe, die nach Süden führen, übersteigt, dann empfängt ihn eine neue, anders gebildete Welt – der Kreis der Uferländer des mittelländischen Meeres, zu denen nicht bloß die Campagna von Rom und die Insel des Aetna […], sondern auch das dürre felsige Palästina, die Sinaihalbinsel und die arabischen und libyschen Wüsten gehören.

Die weiten Blicke, die Hehn uns Mitteleuropäern empfiehlt, finden sich schon ansatzweise in Goethes Italienischer Reise, wo er kurz vor Palermo eben dieses Gefühl ausdrückt: „Sizilien deutet mir nach Asien und Afrika“. Und sie finden sich zwei Jahrzehnte nach Hehns Buch bei Karl May, dessen mehrteilige Abenteuererzählung Durch die Wüste mit ihren Folgebänden in der Wüste Algeriens einsetzt und nach einem weiten Bogen durch das Osmanische Reich in Antivari zu Ende geht, der venezianischen Stadt in Montenegro. 1937 schreibt Albert Camus, typisch für das Mittelmeer sei nicht die lateinisch-römische Ordnung, sondern das Zusammentreffen der „großen orientalischen Ideen“, und 1949 publiziert der französische Historiker Fernand Braudel sein Werk über die Mediterrane Welt, das zum ersten Mal diesen zunächst nur geografisch definierten Raum als soziale Einheit deutet. Unter den hier genannten Namen ist Victor Hehn zweifellos der am wenigstens bekannte.

Diesem Hehn hat jetzt Michael Schwidtal eine große Studie gewidmet. Neben zahlreichen Essays hat er mehrere Bücher veröffentlicht, insbesondere das genannte Werk über Italien, die Forschungsarbeit Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien sowie in das übrige Europa (1870) und die Abhandlung Das Salz (1873). Schwidtal geht auf diese Werke ein und arbeitet insbesondere heraus, dass Hehns Forschungsergebnisse weitgehend noch gültig sind. Seine ganzheitliche Weltsicht schwanke zwischen Wissenschaftlichkeit, „anekdotischer Heiterkeit“ und „bewusst provozierender Polemik“ und könne dadurch auch heute Vorbild sein. Darüber hinaus erfahren wir hier auch Victor Hehns Lebensgang, der, in Tartu (Dorpat) aufgewachsen, als Kind estnisch sprach. Er wurde Lehrer der Altphilologie und als überzeugter Republikaner vom Zaren – Estland war Teil des Russischen Reiches – für zwei Jahre strafversetzt, bereiste später Italien und Frankreich und verbrachte seinen Lebensabend in Berlin. Allerdings fühlte er sich dort angesichts der neuen Zeit und ihrer Massengesellschaft als Außenseiter.

Schwidtal stellt den Scharfblick Hehns für das Typische der Mittelmeer-Region heraus. Ein wichtiges Thema ist die historisch gewachsene Abhängigkeit der Kultur Südeuropas von „den orientalischen Hochkulturen“, wobei Hehn Kultur auch im Sinne der Garten- und Ackerkultur versteht. Die Häuser und Wohnungen Süditaliens sind an die Säulentempel der klassischen Antike angelehnt und weisen in ihrer Würfelähnlichkeit arabische Einflüsse auf. Die italienische Villa ist wie „mathematisch gezeichnet“ und dabei so gebaut, dass sie „marmornen Götterbildern“ Platz bietet. Der Weinstock hat sich vom Kaspischen Meer aus nach Griechenland, Italien und bis zu uns verbreitet, und zwar lange Zeit auf den Handelswegen der Phönizier. Auch der Feigenbaum und die Olive (diese als Nahrungsmittel und zugleich als Kultobjekt) sind westwärts gewandert. Mit dem Weinanbau haben sich die feste Gartenmauer und die Straße begründet. Die Gartenkultur bewirkte die Zähmung und Zucht von Haustieren, die in Kleinasien begonnen wurden. Hehn hat auch die Dattelpalme untersucht, die schattenspendende und Nahrung liefernde Pflanze der mesopotamischen Oasenkultur, die aber, am nördlichen Mittelmehr eingeführt, dort zum reinen Landschaftsschmuck verkommt.

Schwidtal nennt noch viele weitere Details aus Hehns Untersuchungen und betont Hehns differenzierte Haltung angesichts des Erdteils Europa: Er teile ihn ein in das (südliche) „Wein- und Ölland“ und das (nördliche) „Bier- und Butterland“. Kurz gesagt: Das ‚eine Europa‘ passt nicht in Hehns Vorstellung.

Sorgfältig beschreibt Schwidtal Hehns Bestreben, speziell durch den Sprachvergleich viel über Kulturverschiebungen zu erfahren, also – um es plakativ zu sagen, so wie es Schwidtals Buchtitel tut – Kulturwissenschaft aus dem Geist der Philologie zu betreiben. Hehn erkenne, dass die griechischen und lateinischen Namen für Nutztiere und -pflanzen von östlichen Sprachen entlehnt sind: Überhaupt seien Fortschritte in Wissenschaft, Verwaltung und Verkehr an der Sprache ablesbar. Bemerkenswert sei Hehns These, wonach die Erfindung des Gartenbaus und die Erfindung der Schrift Hand in Hand gingen. Schwidtal interpretiert diesen Gedanken so: Beide waren „Teil eines umfassenden Humanisierungsprozesses, dessen Voraussetzung das Abstraktionsvermögen ist“.

Ein Leitgedanke in Schwidtals Buch ist Hehns Orientierung an der „longue durée“, wie sie später Fernand Braudel nennen sollte. Hehn sieht die Geschichte als einen behutsamen, langen Prozess; für ihn sind nicht Regenten und Reichsgründungen wichtig, also nicht die ‚Ereignisgeschichte‘, sondern die Veränderung von Sitten und Mentalitäten, die sukzessive Verfeinerung oder Vernachlässigung des Handwerks und der Landwirtschaft. Dies ist ein faszinierender Zug; es ist – wie Ralph-Rainer Wuthenow einmal gesagt hat, den Schwidtal zitiert – Geschichtsbetrachtung „auf angenehm materialistische Weise“.

Auf diese Weise kommt Hehn zu spannenden Folgerungen: Das Römische Reich sei untergegangen, weil es sich dem landwirtschaftlichen Raffinement hingegeben habe – Hehn spricht vom „Aufwand allen Witzes“ gegenüber den Nutzpflanzen –, anstatt Wirtschaft und Verkehr sinnvoll zu modernisieren. Die sodann sich verbreitende Herrschaft des Christentums sieht Hehn radikal kritisch: „Und es kam in der Tat das tausendjährige Mittelalter.“ Die orientalisch-römische Zivilisation sei ursprünglich viel enger mit der Natur verbunden gewesen als das Christentum samt seinen utopischen Visionen. Schwidtal resümiert diese Ansichten so: „Hehn steht der Legitimation von Herrschaft durch Mythen ablehnend gegenüber.“  

Wir können nicht alles andeuten, was Schwidtal aus Hehns Denken vorträgt und mit klugen Argumenten bekräftigt oder relativiert. Gelegentlich zieht er verwandte Ideen von Alexander von Humboldt, Johann Gottfried Herder und Johann Jacob Bachofen heran. Es ist eine intellektuelle Freude, in Victor Hehns kulturhistorisches Denken eingeführt zu werden, und zwar gerade heute, wo unsere unnatürliche Nahrungsproduktion und die künstlich-virtuelle Freizeitkultur fragwürdig geworden sind.

Titelbild

Michael Schwidtal: Victor Hehn. Kulturwissenschaft aus dem Geist der Philologie.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020.
248 Seiten , 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783825347987

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