Lesen in der Corona-Krise – Teil 13

Perspektiven auf die Post-Corona-Welt: Drei Bände nähern sich gesellschaftspolitischen Folgen und Lehren aus der Covid-19-Pandemie

Von Juliane Prade-WeissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Juliane Prade-Weiss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So intensiv weltweite Impfkampagnen Hoffnungen auf ein Ende der Covid-19-Pandemie geweckt haben, so sehr etabliert sich die Einsicht, dass die Welt nach dem Abebben beängstigender Todeszahlen und restriktiver Infektionsschutzmaßnahmen nicht die gleiche sein wird wie zuvor ‒ zum einen, weil die Schutzmaßnamen gravierende gesellschaftspolitische Folgen nach sich zu ziehen versprechen; zum anderen, weil auf die Ursachen der zoonotischen Viruspandemie eingegangen werden muss, maßgeblich auf die globale Zerstörung von Biodiversität, um weitere Pandemien zu verhindern. Drei Bände nehmen in den Blick, welche Umwälzungen die Covid-19-Pandemie anstoßen wird beziehungsweise sollte. Der umfangreichste ist der von Bernd Kortmann und Günther G. Schulze herausgegebene Sammelband Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie ‒ Perspektiven aus der Wissenschaft. Er bringt Experten aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften zusammen, die in kurzen Beiträgen konkrete Einzelaspekte beleuchten. Interessant macht den Band, dass die Beiträge nicht nach akademischen Disziplinen organisiert sind, sondern nach Themenfeldern (wie Alltag, Gesellschaft, Kommunikation, Wirtschaft), die jeweils aus verschiedenen Perspektiven erläutert werden. Damit wird die Breite der wissenschaftlichen Diskussionen und gesellschaftspolitischen Problemfelder betont, die aus der virologisch und ökonomisch dominierten politischen Debatte um Infektionsschutzmaßnahmen beinahe verschwunden ist. Das von Kortmann und Schulze versammelte Panorama dagegen ermöglicht Einsichten, weil einige Beiträge einander widersprechen, andere sich ergänzen. 

Auffällig ist die Heterogenität vor allem in der Frage des nationalen Rahmens: Die Einleitung der Herausgeber führt die Covid-19-Pandemie als „die schwerste Krise in der Geschichte der Bundesrepublik“ ein, was sicher nicht falsch ist und dennoch irritiert, weil sich eine Pandemie durch ihren weltumspannenden Charakter auszeichnet. Mehrere Beiträge betonen und begrüßen den nationalen Aktionsrahmen, da er „erfolgreich und alternativlos“ gewesen sei, was eine zunehmende „Nationalisierung und Regionalisierung“ erwarten lasse (Karl-Heinz Leven). Herfried Münkler und Marina Münkler betonen dagegen, ein cordon sanitaire diene dazu, „einen Raum, der sich über längere Zeit mit allem nötigen versorgen kann“, gegen Infektionen abzuschirmen. „Dazu ist kein Einzelstaat der EU in der Lage“, und ein nationaler Aktionsrahmen mithin unangebracht. Vor unterschiedlichen disziplinären Hintergründen unterstreichen Markus Gabriel, Birgit Mayer und Bärbel Friedrich zudem, dass der Klimakrise und der Zerstörung von Biodiversität, die es wahrscheinlicher macht, dass Viren von Tieren auf Menschen überspringen, nur in globalem Rahmen begegnet werden kann. Und was für die Ursachen der Pandemie gilt, trifft auch für ihre Nachwirkungen zu: „Verschwörungstheorien sind ein globales Phänomen“, wie Michael Butter erläutert, und darum kaum allein durch nationale Politiken zu begrenzen; vielmehr verdeutlicht die Pandemie neben der ökonomischen auch die soziale und sicherheitspolitische Verflechtung der Staaten miteinander, wie Nadia Al-Bagdadi veranschaulicht. Eine Nationalisierung der Politik verschließt die Augen mithin vor der Interdependenz von Gesellschaften untereinander sowie der menschlichen Gesellschaft mit der Natur, die gerade in der Covd-19-Pandemie so deutlich hervortritt.

Die Virusinfektion ist umfassend und doch kein Gleichmacher, wie dies vom Schwarzen Tod, der Pest, gern behauptet wird. Denn Covid-19 betrifft verschiedene Alters- und Einkommensgruppen in unterschiedlicher Häufigkeit, und unter den soziopolitischen Folgen der Infektionsschutzmaßnahmen haben Arme (arme Menschen und arme Länder) mehr zu leiden als Begüterte. Darum lässt die Covid-19-Pandemie gesellschaftliche Ungleichheiten ebenso deutlich hervortreten wie die Globalisierung und das für Menschen lebensbedrohliche Ausmaß der Naturzerstörung. Der Band macht triftig deutlich, dass die soziopolitischen Implikationen der Pandemie sämtliche Wissenschaftsfelder betreffen, weil sie die Gesellschafts-, Wirtschafts- und auch Wissensordnung in Zweifel zieht, und jede Antwort auf diese Fragen sich auf das schwierige Terrain der Sinngebung begibt, also „des ‚framing‘ eines Seuchengeschehens“ (Leven): Die Pandemie als Strafe Gottes oder der Natur zu werten mag unzeitgemäß vormodern wirken, bietet aber den Vorteil, das anscheinend völlig Kontingente, dem man sich als ausgeliefert erlebt, in den Bereich der Diskursivität zu überführen, also dessen, was besprochen, verstanden und durch Handlung beeinflusst werden kann. Mit dieser Überführung sind grundsätzlich Wissenschaft und Politik ebenso befasst wie Verschwörungstheorien ‒ mit eklatanten Unterschieden in der Ungewissheitstoleranz. Die Münklers betonen, dass Verschwörungstheorien, die eine menschliche Intention hinter der Virusverbreitung lokalisieren, den Zweckrationalismus der Moderne artikulieren, der Ungewissheiten auszuschließen sucht. Der Beitrag mahnt daher zu mehr Ungewissheitstoleranz nach der Covid-19-Pandmie, was freilich in bedenklicher Spannung zu der existentiellen Ungewissheit steht, die der Neoliberalismus ohnehin vielen aufbürdet unter Verweis auf die vermeintlich Vorhersehbarkeit gewährenden Gesetze des Marktes. Vera Kings Beitrag ergänzt, dass Verschwörungstheorien nicht allein eine unsichtbare Gefahr in eine identifizierbare verwandeln, indem sie das Virus menschlichen Akteuren zuschreiben, sondern auch darin symptomatisch für die Postmoderne sind, dass sie der Anerkennung der Vergänglichkeit des Lebens aus dem Weg gehen, die „schwer erträglich“ ist, und dennoch zugleich „notwendig und produktiv“ für die Lebensbejahung ‒ weil anders das Leugnen des Virus die menschenverachtende Haltung nach sich zieht, Tote in Kauf zu nehmen. Religionen, so erlaubt Birgit Meyers Beitrag zu erkennen, sind ein Kontrapunkt zu solchen destruktiven Tendenzen eines Scheinrationalismus, weil sie mehr vermögen als resignative Schuld-Narrative zu entwerfen: Sie sind ein Archiv von Praktiken der Anerkennung „außerordentlicher Mächte“, denen Menschen ausgesetzt sind, weil sie eben nicht gänzlich souveräne Individuen sind, sondern „Teil komplexer Netzwerke, die Menschen, Tiere, Pflanzen und eben auch Viren miteinander auf sichtbare und unsichtbare Weise verbinden“.

Netzwerk ist gegenwärtig jedoch eher das Stichwort für die digitalen Kompensationen des Ausfalls von Nähe und Gemeinschaft, und auch in der Bewertung von IT und KI gehen die Beiträge des Bandes fruchtbar auseinander: Plädieren einige optimistisch dafür, „das beste aus zwei Welten“, der analogen und der digitalen, auch nach dem Ende der Covid-19-Pandemie beizubehalten (Dorothea Wagner), heben andere wohltuend den „sozial disruptive[n]“ Charakter von Informationstechnologien hervor (Gabriel), der im politischen Einmahnen von Digitalisierungsoffensiven meist zu kurz kommt, aber auf der Hand liegt: Wären sie nicht disruptiv, dann würden sie sich nicht zur Abstandwahrung eignen. Auch Gert Scobel dämpft den Digitalisierungsoptimismus, denn „[s]elbst der chinesische Überwachungskapitalismus als heimlicher Vorreiter digitaler Gesellschaftsmodelle war kaum erfolgreicher als seine analogen europäischen Alternativen“ in der Eindämmung der Pandemie. 

Der Sammelband ist ein gelungen komponierter, wichtiger Beitrag auch zu einer anderen Debatte, die mit Hinweis auf das Infektionsrisiko in der Politik weitgehend gemieden wird: der Abwägung zwischen Lebensrisiko und Lebensqualität, die angesichts der von Covid-19 grell beleuchteten Vergänglichkeit menschlichen Lebens gerade nicht fehl am Platz ist, sondern dringend nötig. Denn auch die Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens sind zum Teil mit hohen Risiken behaftet, die fundamental in das Leben von Einzelnen und Gemeinschaften eingreifen und beide dauerhaft nicht zum Guten zu verändern drohen.

Die Demokratiegefährdung, die die Covid-19-Pandemie mit sich bringt, wird im zweiten Band in schlechtestmöglicher Weise deutlich: Karen Gloys Demokratie in der Krise? Überlegungen angesichts der Corona-Krise trägt das Virus im Titel, legt jedoch nur anlässlich seines Auftretens dar, dass debattenbasierte liberale Demokratien der Beschleunigung und Wissensdifferenzierung nicht gewachsen sein können und dirigistischeren ostasiatischen Staaten unterliegen. Sie plädiert darum für eine „gelenkte Demokratie“. Um dies zu zeigen, legt Gloy zuerst Zeitmodelle verschiedener Gesellschaftssysteme in historischer Perspektive dar, um dann liberale Demokratien mit „Regierungsformen mit diktatorischem Einschlag“ zu vergleichen, in denen die Viruseindämmung besser funktioniert habe. Gloys einzige Quelle zur Covid-19-Pandemie ist der deutschsprachige Wikipedia-Artikel, dessen Abrufdatum zudem fehlt. Diese Absenz wissenschaftlicher Quellen ist exemplarisch für den Band, der unter atemberaubender Absehung von historischer, soziologischer, anthropologischer und jeglicher anderer Forschung umfassende historische Panoramen entwirft und dabei ständig in die Falle des Klischees geht, wie in der Feststellung, „die Hopi, ein Indianerstamm aus dem Colorado-Becken Arizonas (USA)“, würden „im Unterschied zu unserer triadischen Zeiteinteilung nur eine duale“ kennen ‒ so als hätte es nie eine genozidale Kolonialisierung Nordamerikas gegeben, in der fast alle indigenen Kulturen untergegangen sind und überlebenden nations westliche Maßstäbe oktroyiert wurden. 

In Gloys Zeitmodellen spielen Geschichte und Erinnerungskultur keine Rolle, und dieses Fehlen erweist sich als fatal auch beim Nachdenken über die Covid-19-Pandemie, etwa wenn in einer Fußnote en passant davon die Rede ist, „[u]nsere Kultur“ habe sich entgegen ökonomischeren Modellen dazu entschlossen, „kränkelndes, gebrechliches, nicht lebensfähiges Leben unter allen Umständen zu bewahren“, was zu einer „würdelosen Verlängerung des Lebens am Tropf der Chemie“ führe. Das ist die Rhetorik und die Logik der Euthanasie genannten Morde an Kranken und Behinderten im Nationalsozialismus, die auf ein Erbe des Sozialdarwinismus zurückgreifen konnten. 

Es ist keineswegs übertrieben, Gloys Band in diesem Kontext zu verorten, denn sie sieht im liberalen Beharren auf Selbstbestimmung „die Auflösung eines jeden Ordnungssystems“, in dem „keiner den anderen über sich anerkennt“. Wer wen über sich anerkennen soll, wird im Laufe des Bandes deutlich: Jüngere verspielten, so Gloy, durch ihr Beharren auf „einer Konsum-, Event- und Spaßgesellschaft“ die Lebenschancen der Alten. Solches Schüren des Generationenkonflikts lässt den Hinweis Kai von Klitzings im oben besprochenen Band von Kortmann und Schulze umso gerechtfertigter erscheinen, dass Generationengerechtigkeit das Interesse von Kindern an einer vom Einkommen und Bildungsstatus der Eltern unabhängigen Bildung und Ausbildung zu berücksichtigen hat, was politisch aber kaum geschieht und in der Pandemie noch weniger als ohnehin. Kings Beitrag im selben Band erhellt Gloys Ressentiment, wenn er auf die grundsätzliche „intergenerationale Ambivalenz der Erwachsenen gegen die Jüngeren“ hinweist, die ein längeres Leben vor sich ahnen dürfen. In der „manischen Welterfahrung“ der Postmoderne, so King, in der die Gegenwart von Konsum und Events die Vergänglichkeit des Lebens verdecken soll, kann die Generationendifferenz normalerweise verschleiert werden; die Covid-19-Pandemie unterbricht diese Verdrängung der Sterblichkeit, da sich das Infektionsrisiko hauptsächlich (wenn auch nicht allein) am Lebensalter zu bemessen scheint. Jede unterbrochene Verdrängung schürt Angst, und Gloys Band ist ein Dokument der Angst, der keine peer review Einhalt geboten hat, und das Sicherheit im Totalitarismus verortet.

Wie politische Reaktionen auf das Infektionsgeschehen eben solche Echos der Angst erzeugen, dem geht knapp ‒ und doch mit größter argumentativer Sorgfalt ‒ der dritte und kürzeste Band nach: Andreas Brenners CoronaEthik. Ein Fall von Global-Verantwortung? Brenner fragt, was die viel beschworene politische Verantwortung in der Covid-19-Pandmie faktisch heißt, und an welche Entscheidungsgrundlagen sie sich halten kann. Fundamental heißt dies für Brenner: Triage vermeiden, denn sie ist zwar militärisch sinnvoll, aber ethisch unhaltbar, weil eine Abwägung zwischen Menschenleben keine Güterabwägung ist, sondern eine Zumutung. Verantwortung heißt auch nicht, so die harte, aber triftige weitere Prämisse, für eine Risiko-Ethik zu plädieren, denn Ethik ‒ die Frage nach dem richtigen Handeln ‒ erlaubt keine Ausnahme, auch nicht im Angesicht erhöhten Lebensrisikos. Darum entspringt das richtige Handeln in der Krise nach Brenner der Entscheidung auf Grundlage einer Güter- und Handlungsfolgen-Abwägung. Das ist zum einen die Debatte, ob Freiheit oder Sicherheit der Vorrang gegeben wird ‒ und die Gloy als ein Zeichen der Krise der Demokratie wertet ‒, zum anderen die Beachtung des Umstandes, dass Infektionsschutzmaßnahmen isoliert betrachtet verantwortungsvoll erscheinen können, mit Blick auf ihre globalen und Langzeit-Folgen aber als enorm risikoreich. Wie Kortmann und Schulze unterstreicht Brenner, dass es, um der intergenerationellen und globalen Verflechtung jedes Einzelnen in der Pandemie gerecht zu werden, einer multidisziplinären Debatte bedarf, nicht der Beschränkung auf die Disziplin der Virologie und das Handlungsfeld der Wirtschaft. Die Pandemie aber wurde „als eindimensionales Phänomen betrachtet, das zwar großen Schaden anrichten kann, sich aber mit einer Strategie überwinden lässt.“ Dem ist nicht so, weil wir in einem „empfindlichen komplexen und pluralen System leben“ ‒ und, so möchte man hinzufügen, Epi- und Pandemien zu den zentralen Erfahrungen der Menschheitsgeschichte gehören, deren Spuren sich in jeder akademischen Disziplin finden, von der Humanmedizin über das Recht bis zu den Literaturwissenschaften und der Theologie.

Angst schürt Politik, die diese Komplexität vernachlässigt, was in Demokratien verheerend wirkt, so Brenner, weil alle Folgeentscheidungen eindimensionaler Maßnahmen sich am Meinungsbild der Mehrheitsbevölkerung orientieren und sich somit die Politik von Angst treiben lässt. Wohin, sieht man bei Gloy. Dagegen tut es wohl, bei Brenner zu lesen: „Das Pochen auf souveräne Macht ist ethisch bedeutungslos, zur Konfliktlösung sind Entscheidungen gefragt“, und Entscheidungen treffen kann man nur zwischen Optionen, die zu diesem Zweck zuallererst identifiziert und dann abgewogen werden müssen. Alternativlosigkeit ist keine Entscheidungssituation, und damit nach Brenner weder verantwortungsvoll noch überhaupt Politik, sondern der Schleichweg aus der Demokratie hinein ins Diktat.

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Bernd Kortmann / Günther G. Schulze (Hg.): Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft.
Transcript Verlag, Bielefeld 2020.
320 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-13: 9783837655179

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Karen Gloy: Demokratie in der Krise? Überlegungen angesichts der Corona-Krise.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
161 Seiten , 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783826071263

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Andreas Brenner: CoronaEthik. Ein Fall von Global-Verantwortung?
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
110 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783826071713

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