Fragen zu Friedrich Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ mit Antworten

Von Peter von MattRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter von Matt

Vorbemerkung der Redaktion: 2014 hat das Deutschen Theater Berlin Friedrich Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ aufgeführt, seine 1956 in Zürich uraufgeführte „tragische Komödie“, die zum größten Welterfolg des Autors wurde. Ein Dramaturg des Deutschen Theaters stellte aus diesem Anlass dem Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt einige Fragen zu dem Stück. Wir danken Peter von Matt, dass er uns den ihm vorliegenden Text des Interviews zugeschickt und seine Veröffentlichung in literaturkritik.de zum 100. Geburtstag Friedrich Dürrenmatts genehmigt hat. T.A.

 

Beginnen wir mit einer persönlichen Einschätzung: Wie aktuell ist „Der Besuch der alten Dame“?

Das Stück ist eine Parabel von lapidarer Wucht, im Ablauf von zwingender Kausalität und nur locker an den historischen Hintergrund von 1956 gebunden. Dadurch ist es überall aktualisierbar, genauer: die Zuschauer werden es jederzeit spontan auf konkrete Vorgänge ihrer Gegenwart beziehen. Jede Epoche hat ihre eigenen Spielarten von Korruption, Gier und finanziellem Schacher und sieht diese in dem Stück gespiegelt.

Verdankt dieses Stück von Dürrenmatt seine Aktualität paradoxerweise vor allem seiner Anlehnung an die vielzitierte Antike, der Setzung von Claire Zachanassian als antiker Rachegöttin, die Schicksal spielt?

So antik ist das Stück ja gar nicht. Dürrenmatts Kunstgriff war die Steigerung ins Groteske. Damit sprengte er das gepflegte Design des Nachkriegstheaters. Er handelt eigentlich immer vom Einbruch eines Ungeheuren in die geordnete Welt, deren versteckte Niedertracht und Ungerechtigkeit dadurch aufgedeckt wird. Mit dem Bezug auf die Antike versucht man, dieses Ungeheure irgendwie zu benennen. Es entsteht bei Dürrenmatt aber nicht aus Bildungsreminiszenzen, sondern aus einem visionären Schub. 

Eine weitere starke Anleihe ist Brecht. Ist „Der Besuch der alten Dame“ eine Art schweizerischer Brecht 2.0?

Brecht war für Dürrenmatt wichtig, aber seine Selbstfindung als Dramatiker geschah weit mehr über die barock maßlose, auch vom chinesischen Theater inspirierte Dramaturgie von Claudels „Seidenem Schuh“, die noch deutlich hinter seinem Erstling „Es steht geschrieben“ steht. Brecht wurde wichtig mit den Kunstgriffen der Verfremdungseffekte, deren sich Dürrenmatt fröhlich bediente, aber Brechts Lehre, seine Botschaft lehnte er ab. Alle Lehren und Botschaften, mit denen sich eine Gesellschaft beruhigt, waren für ihn Dekoration, die aufgerissen werden musste. Wenn man Dürrenmatt verstehen will, denkt man besser an King Kong als an den „Guten Menschen von Sezuan“.

Man hat Dürrenmatts Stück oft als Faschismusparabel gelesen. Heute wirkt es eher wie ein kapitalismuskritisches Lehrstück oder eine Studie über das Kollektiv als Täter und die Dynamik von Strukturen ohne eine individuell zurechenbare Verantwortung. Ist der Herdentrieb von einst der „Schwarm“ von heute, der Flashmob?

Ursprünglich richtete sich das Stück gegen die Ideologie der Adenauer- und Wirtschaftswunderzeit, die nichts mehr wissen wollte, von dem, was geschehen war. Man darf nicht vergessen: 11 Jahre vor der Uraufführung der „Alten Dame“ brannten die Öfen von Auschwitz noch. Es geht hier um das Kollektiv als Apparat der Selbstverblendung, um manipulierte Öffentlichkeit als Tranquilizer, die Medienwirklichkeit als Schlummertrunk der kritischen Vernunft. Wenn es gelingt, das Stück über die Rampe zu bringen, werden die Zuschauer sofort wissen, worauf es heute zielt. Unsere Psychologie ist ja leider immer noch eine des Individuums, von den Regeln der kollektiven Erregung wissen wir fast nichts. Öffentliche Moral ereignet sich heute als Shitstorm, der von der alten Lynchjustiz oft nur noch schwer zu unterscheiden ist. Deshalb ist die Figur des Ill so wichtig. Er macht eine Erfahrung, die ganz nur seine eigene ist. Er sprengt die kollektive Verblendung. Deshalb muss er umgebracht werden.

Wie lange begleitet Sie schon Dürrenmatts Stück? Wie viele Inszenierungen haben Sie schon gesehen? Und was ist aus Ihrer Sicht der theatralische „Mehrwert“ gegenüber der Lektüre?

Die Uraufführung mit der Giehse habe ich nicht gesehen, da steckte ich noch in der Klosterschule. Um 1993 sah ich einmal eine eindrückliche Inszenierung im Berliner Schlossparktheater, in der das verarmte Güllen als der deutsche Osten nach der Wende dargestellt wurde. Die Verfilmung von 1964 mit Ingrid Bergmann und Anthony Quinn hat mich bewegt, vor allem Quinn als Ill. Ich bin aber wohl der einzige, der den Film nicht schlecht fand, alle Welt schimpfte darüber und sagte, Hollywood habe Dürrenmatt verunstaltet. Als Ärztin in den „Physikern“ habe ich die Giehse dann gesehen. 

Dürrenmatt selbst hat das Stück als Tragikomödie bezeichnet. Gleichzeitig hat es den Charakter eines Lehrstücks. Vertragen sich das Didaktische und das Tragikomische überhaupt?

Wo Dürrenmatt gut ist, konfrontiert er uns mit Bildern und Zeichen, die uns treffen, obwohl wir sie nicht vollständig deuten oder in eine Lehre umsetzen können. Es sind Bühnenereignisse, die ausgehalten sein wollen. Die Umdeutung in ein Lehrstück mit formulierter Moral ist bereits eine Entschärfung, so wie Dürrenmatt heute ja generell verharmlost wird. Man muss das Zeichen inszenieren, nicht die angebliche Bedeutung. 

Zu welchem Genre zählen Sie das Stück?

Es liegt auf einer Linie mit Jarrys „Ubu“, Wedekinds „Lulu“, dem Brecht des „Baal“ und dem späten Heiner Müller. Die Gefahr ist immer, dass man die „Alte Dame“ zu einem Volksstück macht, irgendwo zwischen Zuckmayer und Horváth, dann wird alles langweilig. Wenn die Dimension des Monströsen fehlt, das jeden Abbildrealismus sprengt, ist das Pulver nass.

Das Spekulieren auf den Tod hat in heutiger Zeit durch Firmen, die auf den Tod ihrer Mitarbeiter Versicherungen abschließen, eine perfide Wirklichkeit gefunden. Die Verführbarkeit der Menschen beim Gedanken an ihr eigenes Wohl hat sich in den letzten 60 Jahren also nicht verbessert?

Die Strategien der Verführung sind immer da, sie haben sich durch die neuen Medien noch potenziert. Aber man erkennt die Verführung immer erst, wenn sie schon geschehen ist oder wenn andere ihr verfallen. Dass man den Tod in Kauf nimmt, den eigenen oder den von andern, gehört zum Kick jeder radikalen Verführung. Das potenziert sich, wenn die Verführung ein Kollektiv erfasst, uns alle als Schwarm.

Clara ist sich der Umsetzbarkeit ihres Planes zu jeder Zeit auffällig sicher. Kennt sie ihr Dorf so gut? Oder hat sie die Menschen in ihrer Verführbarkeit allgemein durchschaut?

Clara wurde verführt und dann verworfen, das hat sie seelisch zerstört, und es hat sie geschult, sie wurde darüber selbst zu einer Virtuosin der Verführung. Sie erreicht nicht nur die Ermordung Ills, den sie immer noch liebt, sondern – wenn man ein bisschen weiter denkt – schafft sie auch den Beginn einer ungeheuren wirtschaftlichen Blase. Diese Güllener werden sich selbst in einen Börsen- und Immobiliencrash hinein spekulieren, wie wir ihn heute nur allzu gut kennen.

Würden Sie sagen, dass es bei Clara Irritationen, Veränderungen, Entwicklungen gibt oder bleibt sie eisern und unbeirrbar wie das Schicksal?

Das ist eine Frage der Optik und des inszenatorischen Vorentscheids. Als zerstörte Frau wurde sie mächtig. Die Liebende, die sie einst war, begleitet sie wie ein Schatten. Aber ob man das zeigen kann?

Ist Alfred Ill die einzige Figur mit einer echten charakterlichen Entwicklung in dem Stück?

Er ist das Opfer der Verführung aller andern, nur sieht das außer ihm und Clara niemand. Die andern sind ja geblendet. Deren Augen werden erst in der kommenden Katastrophe aufgehen. Keine Verblendung ohne Katastrophe. Das ist ein Weltgesetz.

Wie wichtig ist die Liebesgeschichte zwischen Alfred und Clara? Und wie viel Liebe steckt noch in dem Räderwerk der Rache?

Es lohnt sich, das Stück auf diese Frage hin genau zu studieren, weil die Verblendung der ganzen Gesellschaft ja auch eine Explosion der Lieblosigkeit ist. Dürrenmatt stellt die Frage nach der Liebe in diesem Stück tatsächlich, wenn auch versteckt. Er ist überzeugt, dass die Liebe den Menschen retten könnte, sieht aber in der Weltgeschichte nur Belege dafür, dass es nie geschehen wird. Insofern steht er dem Heiner Müller der „Hamletmaschine“ näher als Brecht.

Dürrenmatt hat wohl in der Liebe keine guten Erfahrungen gemacht, wenn man das Stück als Liebeszerstörer liest. Täuscht das?

Im Unterschied etwa zum Fall Frisch kommt man bei Dürrenmatt nicht weit, wenn man aus dem Werk auf die Biographie schließen möchte. Er war selbst ein ziemlich rätselhaftes Ereignis.