Hannah Arendt – heute gelesen

Richard J. Bernstein würdigt und kritisiert die „Denkerin der Stunde“

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Richard J. Bernstein, Jahrgang 1932, lehrte Philosophie an der New Yorker New School for Research und begegnete dort Anfang der 1970er-Jahre Hannah Arendt. Bewundert und respektiert werden ihre primär politisch-philosophischen Überlegungen auch von ihm. Ob aber die Verehrung von Hannah Arendt, die in Europa wie in den USA besteht, wirklich angemessen ist, bleibt eine offene Frage. Der feierlich anmutende Titel – Denkerin der Stunde – suggeriert, dass auch Bernstein zur Monumentalisierung von Hannah Arendt beiträgt. Doch das tut er nicht, im Gegenteil, er argumentiert differenziert, analytisch und kritisch. Der Originaltitel lautet wohltuend nüchtern: Why Read Hannah Arendt Now. Eine adäquate wissenschaftliche Rezeption gelingt nur auf dem Weg der kritischen Reflexion. Dazu leistet Bernstein einen wichtigen Beitrag.

Der Philosoph konstatiert die nahezu globale Leidenschaft für Hannah Arendts Werk. Ob es sich um ein „wachsendes Interesse“ handelt, bleibt abzuwarten. Arendts Aktualität sieht er darin, dass sie selbst in „finstersten Zeiten“ noch hoffnungsvoll auf einen „Lichtschimmer“ vertraut habe. Die Denkerin sorge somit für eine „Erhellung“: „Sie ist eine scharfsinnige Kritikerin gefährlicher Entwicklungen im modernen Leben, und sie macht deutlich, welche Möglichkeiten es gibt, die Würde der Politik wiederherzustellen.“ Dieses sei ein Anreiz für die Lektüre. Dass sich Hannah Arendt pointiert und provokativ äußerte, wird niemand bestreiten, der mit ihren Arbeiten vertraut ist. Bernstein äußert sich hier aber eher unbestimmt und hält ein allgemeines Plädoyer für eine unbestritten wichtige Autorin, die auf Probleme aufmerksam gemacht hat. Auf ihren eigenwilligen, von Martin Heideggers existenzphilosophischem Ansatz geprägten Umgang mit der griechischen Philosophie etwa kommt der Autor nur beiläufig zu sprechen. Arendt wird als „Perlentaucherin“ bezeichnet. Das ist behutsam formuliert. Arendt blendet die Verhältnisse von Macht und Gewalt in der Antike aus. Bestimmte Verständnisweisen, die ihr positiv erscheinen, hatten ihren historischen Ort in einer Sklavenhaltergesellschaft. Dass die Verklärung etwa der attischen Welt und Philosophie im Bildungsbürgertum bis heute verbreitet ist, ändert nichts an der geschichtlichen Realität.

Nichtsdestoweniger erscheint es berechtigt, dass Bernstein etliche Arbeiten von Hannah Arendt instruktiv vorstellt und zur Lektüre empfiehlt, so etwa ihre scharfsinnigen Analysen zum Totalitarismus im 20. Jahrhundert und die Reflexionen zur Ideologie des Terrors. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bezeichnet sie den systematischen Totalitarismus als eine „beispiellose Bewegung“ und ein „noch nie dagewesenes Regime“, das „jeden menschlichen Rest von Individualität, Spontaneität und Pluralität zu tilgen“ beabsichtige. Bernstein folgert: „Der Totalitarismus als Regierungsform mag mit der Niederlage der Nazis und dem Zusammenbruch ein Ende gefunden haben, aber totalitäre Lösungen stellten – und stellen noch immer – eine starke Versuchung dar.“ Die Philosophin warne vor der „Zerstörung des Rechts, Rechte zu haben“.

Richtig ist auch, Hannah Arendt als „wichtige politische Denkerin“ zu bestimmen, bemerkenswert sind ihre Ausführungen zur Migrationsfrage. Sie spreche von den „Absurditäten des Bemühens, sich in einem neuen Land möglichst schnell anzupassen“. Bernstein vergleicht ihre Sichtweisen auf das Los der Verfolgten des NS-Regimes mit der Gegenwart. Es gebe heute andere „Flüchtlings- und Internierungslager“. Trotz vieler NGOs, die Sorge für Geflüchtete trügen, würden „souveräne Staaten“ ihr Recht verteidigen, „darüber zu bestimmen, wen sie als Flüchtling aufnehmen und wen nicht“ – es gehe vor allem darum, Flüchtlinge „fernzuhalten“ oder „auszuschließen“. Die Flüchtlingslager würden heute immer größer werden: „Die Lager sind das einzige ‚Land‘, das die Welt denen anzubieten hat, die vor Kriegswirren, Verfolgung und dem Elend vor extremer Armut und Hunger fliehen.“ Bernstein verzichtet hier darauf, die wohlfeile öffentliche politische Rede zu kritisieren, in der bewusst nebulös und genauso hilflos von einer notwendigen Bekämpfung der Fluchtursachen gesprochen wird. Er macht aber auch nicht deutlich, inwieweit Arendts Denken und ihre stichhaltigen Analysen heute dazu helfen könnten, humanitäre Katastrophen wie die Flüchtlingskrisen politisch vernünftig, menschenwürdig und -freundlich zu lösen. Stattdessen formuliert Bernstein zutreffend und ernüchternd:

Das Problem heute ist, dass selbst Länder, die noch Asyl gewähren, angesichts der schieren Zahl der Asylsuchenden völlig überfordert sind. Das Asyl war als Praxis für individuelle Ausnahmefälle gedacht, nicht aber für Massen von Flüchtlingen. Was Arendt über staatenlose Flüchtlinge in der NS-Zeit schrieb, gilt heute sogar noch stärker. Ob jemand gezwungen ist, sein Heimatland zu verlassen, hat wenig damit zu tun, was er getan oder gedacht hat. Das eigentliche Unglück der Rechtlosen besteht nicht einfach darin, dass sie ihre Heimat und jeglichen staatlichen Schutz verloren haben, sondern dass sie überhaupt keiner Gemeinschaft mehr angehören.

Die oft so einfühlsame Denkerin Arendt, so Bernstein, sei aber auch unsensibel gewesen, vielleicht – so könnte ergänzt werden – sogar mitunter naiv oder politisch blind:

Sie behauptete, gesellschaftliche Diskriminierung dürfe nicht mit politischen Mitteln abgeschafft werden. Wenn weiße Eltern ihre Kinder an Schulen schicken wollten, an denen nur weiße Kinder seien, so habe die Regierung kein Recht, sich hier einzumischen. … Sie suggerierte sogar, schwarze Eltern würden ihre Kinder missbrauchen, um politische Kämpfe unter Erwachsenen auszufechten.

Die „rassistische Segregation“ in den USA war für sie ein „soziales Phänomen“. Bernstein folgert, dass sie die Diskriminierung der Schwarzen in den USA überhaupt nicht verstanden habe – auch wenn sie „jegliche rassistische Ideologie“ ihr ganzes Leben lang verurteilt hat –, und bemerkt zugleich, dass man zuweilen „mit Arendt gegen Arendt denken“ müsse, auch um dem „heutigen Rassismus entgegenzutreten“.

Die bekannte Schrift Eichmann in Jerusalem beurteilt Bernstein richtigerweise ambivalent und kritisch, insbesondere Arendts Verdikt über die von den Nationalsozialisten eingesetzten Judenräte, die zur organisatorischen Verwaltung der Ghettos bestellt wurden. Arendt insinuiert, dass ohne die Judenräte kaum sechs Millionen Juden im Holocaust ermordet worden wären. Bernstein schreibt, dies sei eine der „empörendsten und unverantwortlichsten Behauptungen in Arendts Bericht“:

Sie lässt die Vielfalt an Verhaltensweisen dieser jüdischen Führer außer Acht, von denen einige lieber Selbstmord begingen, als die Befehle der Nazis zu befolgen. Die Wahrheit ist, dass niemand mit Bestimmtheit sagen kann, wie viele Juden umgebracht worden wären, wenn es die Judenräte nicht gegeben hatte.

Zudem sei Arendts Darstellung von Eichmann „nicht besonders zutreffend“ gewesen. Er war sehr viel stärker von der NS-Ideologie beeinflusst als sie angenommen hat. Arendts Vorstellung, in Eichmann sei die „Banalität des Bösen“ wirksam gewesen, sei jedoch relevant und zutreffend, „denn wir müssen uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass man kein Monster sein muss, um schreckliche Verbrechen zu begehen“.

Bernstein kommt sodann auch noch auf kürzere Essays und Arbeiten Arendts zu sprechen, die heute lesens- und bedenkenswert seien, insbesondere über die „Meinungsbildung“ in der Gesellschaft:

Es gibt heute die gefährliche Neigung, anderen, die anderer Meinung sind als wir, nicht zuhören zu wollen. Wir wollen andere Sichtweisen nicht wirklich in Erwägung ziehen, es sei denn, um sie zu verurteilen oder uns darüber lustig zu machen.

So würden heute „Fakten in bloße Meinungen“ verwandelt:

Arendt erkannte scharfsinnig, was wir heute erleben. Selbst die Grundkategorien von wahr und falsch, von Fakten und Lügen sind gerade dabei, sich aufzulösen. In der Folge eröffnen sich für die Lüge grenzenlose Möglichkeiten, die zudem häufig nur auf wenig Widerstand stoßen. Üblicherweise wurden politische Lügen ganz bewusst zu Täuschungszwecken verwendet. … Arendt weist darauf hin, dass der Täuschende am Ende möglicherweise seine eigenen Lügen glaubt.

Die politische Wirklichkeit in den USA im Umfeld der Präsidentschaftswahlen hat dies sehr deutlich vor Augen geführt. Bernstein schreibt weiter:

Menschen, die das Gefühl haben, sie seien abgehängt und vergessen, sehnen sich nach einem Narrativ, das den Ängsten und der Not, die sie erleben, einen Sinn gibt – einen Sinn, der Erlösung von all ihren Sorgen verspricht. In einer solchen Situation kann ein autoritärer Führer die Ängste der Menschen ausnutzen und die Unterscheidung zwischen Lügen und Realität verwischen.

Auch Arendts souveräne und klarsichtige Ablehnung der „Vorstellung einer Kollektivschuld“ ist vernünftig – in Zusammenhang mit dem NS-Regime. Somit würden „alle Unterschiede zwischen denen, die verantwortlich waren und sich des Mordes schuldig gemacht hatten, und denjenigen, die das Regime stillschweigend unterstützt hatten“, eingeebnet:

Sie war der Überzeugung, dass in einem Gerichtsverfahren einem Einzelnen der Prozess gemacht werde – nicht einem bürokratischen System – und dass es Aufgabe der Richter sei, darüber zu urteilen, ob Eichmann schuldig und für seine Straftaten verantwortlich war.

Gegenwärtig wird das in einem anderen Bereich der Gesellschaft sichtbar. Manche Würdenträger in der katholischen Kirche greifen in Deutschland die Wendung von Machtstrukturen in der Kirche auf. Sie sprechen von der „DNA der Kirche“ oder „Strukturen der Sünde“ in der Hierarchie, die den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen begünstigt hätten. Das larmoyante Räsonnement über vermeintlichen oder tatsächlichen Klerikalismus oder einen männerbündischen Korpsgeist unter Priestern besteht. Dient das in irgendeiner Weise der Aufklärung von Verbrechen? Niemand kann seine persönliche Verantwortung an ein Kollektiv, an eine Institution oder an irgendjemand anderen delegieren. Was sich heute in der Kirche aufklärerisch gibt, führt faktisch zu einer Verschleierung – denn Schuld ist immer an die handelnde Person gebunden. Zur Rechenschaft gezogen werden muss also der Einzelne für seine Taten. Das hat Hannah Arendt gewusst und deutlich gemacht.

Richard Bernstein hat ein wichtiges, knappes und klarsichtiges Buch über die bedeutende politische Denkerin vorgelegt. Er zeigt, warum es bisweilen nötig sein kann, kritisch gegen Arendt zu denken – und warum es wichtig bleibt, mit Arendt philosophisch und politisch zu denken. Niemand muss die streitbare Philosophin und ihre Texte glorifizieren, um ihre unbestreitbare Bedeutung hervorzuheben. Dass es sich lohnt, kontrovers über Hannah Arendt nachzudenken, zeigt dieses Buch auf beste Weise.

Titelbild

Richard J. Bernstein: Denkerin der Stunde. Über Hannah Arendt.
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
140 Seiten , 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429440

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