Der schönste Sommer ihres Lebens

Jacques Poulin erzählt in „Volkswagen Blues“ von einer Reise durch Amerika

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein ungleiches Paar macht sich auf den Weg von Kanada in die USA: ein nicht besonders erfolgreicher und nicht mehr ganz junger Schriftsteller mit dem Künstlernamen Jack Waterman und die Halb-Innu Pitsémine, die aufgrund ihrer langen, dünnen Beine auch die „Große Heuschrecke“ genannt wird. Aus der Zufallsbekanntschaft wird – eigentlich möchte sie bloß ein wenig mit dem Auto mitgenommen werden –, unterwegs in einem maroden VW-Bus, eine besondere, vielleicht sogar wunderbare Freundschaft auf Zeit, an der schnurrend auch der Kater des Mädchens teilhat. Waterman begibt sich auf Spurensuche, er möchte seinen Bruder Théo wiederfinden – und die Große Heuschrecke begleitet ihn auf seiner Reise durch Amerika. In Kanada gilt Jacques Poulins Roman, 1984 erstmals publiziert und nun rund 35 Jahre später ins Deutsche übertragen, weithin als ein „Kultbuch“ – warum das so ist, fragen sich vielleicht die eine Leserin und der andere Leser zu Beginn.

Jacks letzte Begegnung mit Théo lag fünfzehn bis zwanzig Jahre zurück. Er war auf Reisen gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Irgendwann hörte er auf, Postkarten zu schreiben. Nun fährt Jack los, um ihn zu suchen. Der Schriftsteller und die Große Heuschrecke kommen mühelos ins Gespräch, vor allem auch deswegen, weil beide sich eher knapp, schmucklos und doch humorvoll ausdrücken. Das Mädchen ist für Jack von Anfang an eine gute Reisegefährtin: „Sie klang sehr überlegt, und es war schön, ihr beim Denken zuzuhören.“ Das etwas marode Fahrzeug kann sie auch manövrieren und sogar souverän steuern. Ihr Vater war Lastwagenfahrer:

Die Große Heuschrecke wirkte, als hätte sie ihr ganzes Leben hinter dem Lenkrad eines VW zugebracht. Um die Steigungen zu bewältigen, holte sie tüchtig Schwung, schaltete exakt in dem Moment zurück, in dem der Motor schlappzumachen drohte, gab oben angekommen Gas und bremste vor der nächsten Kurve stotternd ab, um die Drehzahl zu verringern, ehe sie in den dritten schaltete, um die Bremswirkung des Motors zu nutzen.

Prosaisch und anschaulich beschreibt Poulin ihre Fahrkünste, und auf diese Weise ist der ganze Roman erzählt, niemals feierlich, aber sorgfältig, behutsam, mitunter lakonisch und ohne überflüssige Adjektive. Der Schriftsteller und die gelernte Kfz-Mechanikerin begeben sich auf eine Entdeckungsreise, die sehr viel länger dauert als beide zu Beginn ahnen. Sie haben Zeit – oder nehmen sich die Zeit – für eine detektivische Tour. Jack denkt bald: „Dieses Mädchen war etwas Besonderes. Er kannte sie noch nicht sehr gut, hatte aber jetzt schon das Gefühl, er sei ganz nah bei ihr und sie ganz nah bei ihm.“ Mancher Leser mag erwägen, dass eine konventionelle, sentimentale Liebesgeschichte naht oder beginnen könnte. Doch Poulin verzichtet darauf – und das ist wohltuend –, ebenso auf allgemeine Betrachtungen zu Politik und Gesellschaft. Die beiden sprechen übers Küssen, aber sie küssen einander nicht. Jeder Literat kennt eine Frage, die Autoren gern gestellt wird: „Woran schreiben Sie gerade?“ Das Mädchen verzichtet auf solche impertinenten Fragen, nicht weil sie desinteressiert wäre, sondern weil sie niemals taktlos ist. Das Handwerk des Schreibens macht Jack Mühe:

Derzeit hatte er kein Buch in Arbeit. Er steckte mitten in den Qualen, die Schriftsteller durchleiden, wenn sie ein Buch beendet haben und – um dessen Schwächen wissend und noch unfähig, das nächste anzugehen – ihr ganzes Talent in Zweifel zu ziehen. Aber da er nicht schrieb, konnte er lesen, und da er pausenlos an seinen Bruder dachte, suchte er Bücher, die zu der Reise nach St. Louis passten.

Ein Schriftsteller wie Waterman „schreibt in fieberhafter Lust“ – oder er schreibt gar nicht. Die Große Heuschrecke sieht ihn, nicht oberflächlich, sondern scheinbar wie von innen her, und so erkennt sie, wovon er bewegt ist. Sie fragt, ob er an seinen Bruder denken würde. Jack bestätigt das. Sie sagt: „Merkt man.“ Jack möchte wissen warum, erhält aber keine Antwort. Wenig später erzählt er, dass er sich schuldig fühle, seinen Bruder nicht eher gesucht zu haben. Die letzte Postkarte sei eine „Art Hilferuf“ gewesen. Das habe er damals nicht verstanden, aus zwei Gründen:

Erstens hatte er damals gerade an einem Roman gearbeitet und deshalb nicht recht mitbekommen, was um ihn herum vorging; zweitens hatte Théo seine Nachricht sozusagen verschlüsselt, weil er zu stolz gewesen war, unmissverständlich um Hilfe zu bitten.

Beim Grenzübergang in die USA wird Jack von einer Beamtin gefragt, welche Art von Erzählungen er schreiben würde. Die Frage überfordert ihn. Er ist außerstande, „das Hauptthema seiner Romane zu benennen“. Wer Themen bestimmen kann, schreibt auch eher Thesenromane. Waterman denkt über seine Arbeit nach. Was soll er antworten? Die Überlegungen charakterisieren knapp und treffend zugleich Poulins Art zu schreiben: „All seine Romane waren auf dieselbe Weise entstanden: Er hatte zwei Figuren vor einem bestimmten Hintergrund zusammengeführt und ihnen – möglicherweise ohne einzugreifen – beim Leben zugesehen.“

Jacques Poulin schreibt dezent und mit Empathie. Er mag seine Gestalten, er zeichnet sie leise konturiert, mit Sympathie, Humor und Liebenswürdigkeit. Berührend und amüsant ist die Szene, in der sich die Große Heuschrecke mit heiterem Ernst „Moralpredigten“ wünscht. Was erwidert Jack? Sie sei ein freier Mensch und nicht sein Eigentum, zudem sei er müde. Das Mädchen sagt dann: „Am liebsten mag ich an Ihnen, dass sie sanft sind und so respektvoll mit den Leuten umgehen.“ Jack bestreitet, sanft zu sein – und ist sanft. Er schätzt auch ihre freimütige Art. Die Große Heuschecke äußert sich geradeaus, zuweilen etwas vorwitzig, aber nicht grenzüberschreitend. Gelegentlich setzt sich Jack damit auseinander, wer zu den sanftmütigen Menschen gehört und wer nicht – und stellt eine theoretische Klärung vor. Man müsse „zwischen wirklich und nur scheinbar sanften Menschen unterscheiden:

Die nur scheinbar Sanften waren schwach oder ängstlich; sie kamen mit dem Leben nicht zurecht und waren unfähig zur Aggression. Die wirklich Sanften waren die mit Selbstvertrauen; sie fühlten sich nicht bedroht und wurden niemals aggressiv. Er selbst zählte sich zur ersten Kategorie.

Die Große Heuschrecke hört ihm aufmerksam, ohne ihn zu korrigieren. Sie sagt einfach: „Egal ob Sie nun wirklich sanft sind oder nur scheinbar, ich habe Sie gern.“

Als die beiden die Golden Gate Bridge bewundern, sind sie dem Ziel ihrer Reise nicht mehr fern – eigentlich war es Jacks Ziel, aber das hat sich unterwegs einfach geändert: Sie fahren gemeinsam und kommen gemeinsam an. Jack wird wenig später seinem Bruder begegnen, der schwer krank ist und sich sehr verändert hat – die kurze Geschichte eines sehr traurigen Wiedersehens markiert das Ende dieser Fahrt. Théo erkennt Jack nicht mehr, selbst wenn der Schriftsteller meint, im Blick seines Bruders eine „stumme Frage“ zu erkennen. Auch die Wege von Jack und der Großen Heuschrecke trennen sich bald für immer. Eigentlich, so sagt er, sei er ohnehin lieber allein. Ihr geht das ähnlich. Einen Sommer lang seien aber auf gewisse Weise zusammen gewesen. Die Große Heuschrecke meint sodann: „Man kann ja nicht immer konsequent sein!“

Vielleicht hatten die beiden einen ganzen Sommer lang einfach die beste Zeit ihres Lebens. An die Umarmung zum Abschied werden sie sich bestimmt noch lange erinnern. Wer das Buch gelesen hat, wird diesen sehr besonderen Roman nicht vergessen – und sich denken: Das ist irgendwie doch eine Liebesgeschichte, nur ganz anders als alle anderen. Könnte Jacques Poulins Roman deswegen als „Kultbuch“ gelten? Auf diese Frage muss niemand eine Antwort kennen. Wahrscheinlich ist auch das Nachdenken darüber nutzlos. Wie schön, dass der Volkswagen Blues nach so vielen Jahren endlich in deutscher Sprache vorliegt. Dieser Roman wird viele Menschen hierzulande in diesen nicht einfachen Zeiten einfach glücklich machen und erfreuen – und das ganz bestimmt mehr als einen Sommer lang.

Titelbild

Jacques Poulin: Volkswagen Blues. Roman.
Aus dem kanadischen Französisch von Jan Schönherr.
Hanser Berlin, Berlin 2020.
256 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446267619

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