Wenn das Fiktive ins Reale rutscht

Thomas Hürlimann erzählt auf zwei CDs seine Kindheit und Jugend im Kloster „Einsiedeln“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unlängst hat der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann zu seinem 70. Geburtstag sich und seine große Leserschaft mit 24 Prosatexten aus 40 Jahren unter dem Titel Spaziergang mit dem Kater beschenkt. Darin erinnert er naturgemäß auch an seine Zeit als Zögling des berühmten Benediktinerklosters Einsiedeln. In seiner Schulzeit wird Hürlimann unter anderem vom Subpräfekten wegen seiner lebendigen und eindringlichen Schilderung einer Naturszene buchstäblich „zum Dichter geschlagen“, glaubt doch der ohnehin rabiate Pater, der junge Hürlimann habe mit einem Plagiat betrogen.

Acht Jahre ist Hürlimann, von dem Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke, eine Sprechoper und auch Drehbücher stammen, Schüler im Kloster Einsiedeln – für den Autor eine prägende Zeit und Grund genug, seine Klosterzöglingsjahre in der ihm eigenen Art Klaus Sander, dem Gründer des Supposé Hörbuchverlags, zu erzählen. Unter anderem erinnert er dabei auch an seine Schilderung jener „Naturkathedrale“, die ihm die Schläge zum Dichter einbringen. Gut zwei Stunden dauern die gleichermaßen unterhaltsam-kurzweiligen wie lehrreich-anekdotenreichen 26 Sequenzen der beiden CDs. Ergänzt sind sie um ein 16-seitiges Booklet mit schwarzweiß Fotos des Klosters sowie der beiden Patres Kassian Etter und Daniel Meier.

„Und als sich die Pforte schloss, wusste ich, das war ein Fehler“, benennt der Erzähler Hürlimann das exakte Datum, den 3. Oktober 1963, als er von der Mutter aufs Klosterinternat nach Einsiedeln gebracht wird. Knapp 13-jährig ist er da. Bis dahin lebt er ziemlich unbeschwert im Hause seiner Eltern, umsorgt und verstanden vom Dienstmädchen Heddi, das dem kleinen Thomas morgens nicht nur heiße „Ovomaltine“ zubereitet, sondern wohl auch die eine oder andere Hausaufgabe nebenbei für ihn erledigt. Heddi steht dem Knaben bei, wenn der Religionslehrer zuhause ziemlich irritiert vorbeischaut, nachdem der Junge voller Unschuld in einer Probebeichte bekennt, dass er die Nachbarin, Frau Bertschi, begehrt habe.

Bevor Hürlimann sich an seine Klosterjahre erinnert, umreißt er die stark auf konfessionellen Gegebenheiten basierende soziale und bildungsgeschichtliche Situation seiner Geburtsstadt Zug in den 1950er und frühen 1960er Jahren. Zug war katholisch geprägt, während „die Industrie in protestantischer Hand“ war. Nach der drastischen Senkung des Steuersatzes sind die Veränderung der Stadt gravierend: wie eine Entwicklung „von Seldwyla nach Abu Dhabi“.

Ins Internat des Benediktinerklosters kommt der junge Hürlimann, weil er sich unter anderem von Marcel, dem zwei Jahre älteren Nachbarsjungen, seinem „Häuptling“, zu verschiedenen, teils heftigen Streichen verleiten lässt. So wird ein kleiner Nachbarsjunge in eine Garage eingesperrt und es dauert einige Zeit, bis er gefunden wird. Vater Hürlimann glaubt daher, dass die Disziplin des Klosterinternats seinem Sohn guttun könne. Geschickt besucht er vorab eine Schultheateraufführung mit seinem Sohn: Ali Baba und die 40 Räuber steht auf dem Programm:

Das war, glaube ich, vom Stiftskomponisten Pater Daniel Meier komponiert und ganz toll inszeniert. Dann hat mein Vater gesagt: Wenn du willst, kannst du im nächsten Jahr hier Theater spielen. Dann dachte ich: Gut, nichts wie hin.

Doch die Wirklichkeit holt den kleinen Hürlimann gleich ein. Denn im Kloster herrscht ein strenges Regiment nach 200 Jahre alten Regeln. Es ist kalt und feucht, im Winter sind die Waschlappen oft gefroren – und das nach einer Nacht in einem Schlafsaal mit 40 anderen Schülern: „Das Allerschlimmste war: Am Morgen schrillte eine Glocke, zehn nach fünf, man musste aufstehen. Es dauerte aber bis halb acht, bis es Frühstück gab“. Die Zöglinge werden in Kutten gesteckt, übernehmen mit den Kutten auch den Köpergeruch des Vorgängers. Am Essenstisch herrscht eine hierarchische „Ordnung“: Erst bedienen sich die älteren Schüler, bevor die „Novizen“ an der Reihe sind. Und nebenbei erfolgt bei so vielen pubertierenden Jungen offenbar auch gleich direkte „Aufklärung“: „Nach dem ersten Frühstück war ich aufgeklärt“. Kein Wunder, dass der Schüler in dieser hierarchisch und rigiden Welt mit einem weiteren Zögling bald Fluchtpläne hegt, ein Plan, der jedoch nicht aufgeht, da die Vorbereitungen der beiden nicht unbemerkt bleiben und verraten werden. So gilt es sich ins Klosterleben mit einigen nicht gerade zimperlichen Erziehungsmethoden einzuleben. Insbesondere der Präfekt ist eine wahre „Alptraumfigur“ und für jede Schikane zu haben: „Der hat auch den Zöglingen die schlimmsten Absichten unterstellt. Damit hatte er Recht, denn so einem Menschen gegenüber wird man niederträchtig.“ Seine Klostererfahrungen, so Hürlimann, hätte ihn jedoch auch gelehrt, in einem „diktatorischen System“ zu überleben.

Ein ganz anderer Geist weht offenbar in der Schule: Der strengen Internatsordnung steht „geistige Weite“ der meisten Lehrer gegenüber: Hürlimann lernt „die antike Welt“ kennen – auch 60 Jahre später noch ein wertvolles „Geschenk“ für ihn. Er liest Nietzsche, Freud, kann Theater spielen, kommt mit zeitgenössischer Literatur, u.a. mit Max Frisch, in Berührung. Pater Daniel Maier, bei dem Hürlimann eigentlich Klavier spielen lernen sollte, versorgt ihn mit Benn-Gedichten und verhilft ihm so „zu einem ersten großen Sieg über den Vater“. Denn nach dessen Wunsch sollte der Sohn Klavier bei Pater Daniel lernen. Hürlimann entwickelt sich zum Vielleser und beteiligt sich eifrig am Verleihhandel von Büchern; begehrt sind solche, in denen Liebe und Sexualität eine zentrale Rolle einnehmen. Alles was er in diesen Jahren „spezifisch“ von Liebe verstanden habe, habe er „Martin Walser zu verdanken“, insbesondere dessen Roman Das Einhorn, erzählt Hürlimann.

Dass er mit seinem Erzähl- und Fabuliertalent auch früh „Geschäfte“ machen kann, lernt der junge Hürlimann schnell. Er schreibt Aufsätze für andere und er erzählt Bonanza zu Ende. Denn der Klosterablauf bringt es mit sich, dass vor dem Schluss der Sendung der Fernsehapparat ausgeschaltet wird.

Dass auch die Zeichen der Zeit an Einsiedeln nicht vorbeigehen, wird spätestens dann klar, als eines Morgens statt mit Klängen von Vivaldi die Schüler mit „I can‘t get no satisfaction“ über Lautsprecher geweckt werden: Vivaldi sollte gegen Mozart ausgetauscht werden, so der Wunsch von Schülern, denen es aber gelingt in der Mozart-Plattenhülle die Stones zu verstecken.

Mit Einsiedeln erweist sich Thomas Hürlimann einmal mehr als ein unterhaltender und gewitzter Erzähler, der es versteht, Spannungsbögen zu erzeugen, treffsichere Pointen zu setzen. Das Vergnügen ist umso größer, als er manche Szene mit einem herzhaften und herzerfrischenden Lachen untermalt. So ist Einsiedeln ein gleichermaßen heiterer wie an manchen Stellen auch ernster Hörgenuss, der viele Szenen der Kindheit und Jugend Hürlimanns verlebendigt und der nach knapp 130 Minuten eine Wiederholung verlangt.

Titelbild

Thomas Hürlimann: Einsiedeln. Thomas Hürlimann erzählt seine Kindheit und Jugend im Kloster.
Supposé Verlag, Berlin 2020.
CD , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783863852016

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