Von Hölderlin zu den Torii

In Heidelberg begründete Dietrich Seckel die ostasiatische Kunstgeschichte in Deutschland, jetzt erschienen seine Briefe aus Japan von 1936 bis 1941

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange hat er geschwankt, welche Laufbahn er einschlagen soll: Germanistik oder Kunstgeschichte. Anfang 1940 hat es sich dann entschieden. Kurz zuvor ist die „Internationale Studiengesellschaft für östliche Kunst“ gegründet worden. Dabei hat Dietrich Seckel nicht nur den berühmten Kunstsammler Baron Hosokawa kennengelernt, sondern auch einige besonders kostbare Stücke gesehen wie das grandiose 15 Meter lange Rollbild von Sesshū. Er wird Mitglied und hat sofort Ideen:

Besonders interessiert mich die Architektur, über die es auch bisher noch gar keine wirklich vernünftigen Bücher gibt (da wäre also eine Aufgabe). Sonstige Themen der japanischen Kultur, die mich locken würden, wären: Japanische Aesthetik und japanische (oder vielmehr ostasiatische) Schreibkunst vom künstlerischen Standpunkt und mit eigener Sachkenntnis. Und dann möchte ich ja mal das Forschungsgebiet einer Psychologie des Japanertums‘ wenigstens abstecken. Das ist ein vastes (und bisher auch wüstes) Feld.

Bis dahin war es ein langer und verschlungener Weg. Seckel, 1910 geboren als Sohn eines bekannten Juraprofessors, promoviert 1936 nach dem Germanistik- und Kunstgeschichtsstudium über „Hölderlins Sprachrhythmus“. Noch im gleichen Jahr geht er nach Japan, wo er an einer kotogakko, einer höheren Schule in Hiroshima Deutsch unterrichtet. Eine völlig kulturlose Stadt, ohne Theater oder Konzerte, dafür mit intriganten Kollegen, darunter einigen Nazis, und Schülern auf einem bedauernswerten Niveau. Obwohl Seckel kein Pädagoge ist, gelingt es ihm, ihnen wenigstens einige Grundlagen des Deutschen beizubringen. Wie sehr seufzt er über seine Vorgänger, die das nicht geschafft haben. Seckel ist bei seinen jugendlichen Schülern schnell sehr beliebt, sodass sich ein kleiner Kreis um ihn bildet, der ihn auch privat regelmäßig zu Hause besucht. Von der Auffassungsgabe der Japaner hält er allerdings nicht viel, sie sind ihm zu engstirnig, und er hält sie meist nicht für fähig, westliche Kunst wirklich zu durchdringen. Ihren eigenen Sinn für Ästhetik, z. B. in der Einrichtung ihrer Häuser, der Bestückung der tokonoma (kleine Nischen im Raum) mit Blumengestecken (ikebana), die jede Japanerin beherrscht, genießt und lobt er sehr. Die

vielberedete (und namentlich von den Japanern selbst immer als §1 erwähnte) ‚Naturverbundenheit‘ (ist) von uns aus gesehen eine blosse Phrase. Ich habe noch kein Volk gesehen oder von ihm gehört, das der Natur mit einer solchen teils auswählenden, teils herrisch umstilisierenden Haltung gegenüber steht wie das japanische. (…) Der japanische Garten z.B. ist ja eine einzige Künstelei, d.h. ein reiner Ausdruck des Menschen, nicht der Natur.

Viele enge Freunde findet er in Japan und speziell Hiroshima nicht, aber die bleiben ihm über viele Jahre: einige wenige Japaner, aber auch Jesuitenpater, die z. T. schon sehr lange in Japan leben und von denen er sehr viel lernt. Dennoch fasziniert ihn das Land, in den Ferien reist er viel herum, fotografiert viel, lernt von einem seiner japanischen Schüler, mit dem er auch öfter durch Japan reist, Kalligrafie. Er lernt Japan kennen, und zwar von unten, mit seinem Alltag, mit seinen Schattenseiten: dem Nationalismus, der Gottkaiserverehrung, der Überwachung.

Aber es ist ein grosser Vorzug für uns Kot.-Lehrer (kotogakko, GP), dass wir lange Zeit hindurch mit dem wirklichen Alltags- und Berufsleben hier in Berührung kommen, dass wir nicht bloss gefeiert werden, sondern uns auch mal mit dem beruflichen Kleinkram rumzuärgern haben und den Durchschnittsjapaner kennen lernen, also z. B. irgend einen gewöhnlichen buddhistischen Priester (…) und gewöhnliche Schulpauker usw. Aufgrund seiner Höhensicht kommt ein Mann wie Spranger (der Pädagoge Eduard Spranger, GP) z.T. auch zu ganz schiefen Ansichten über die Japaner – schon weil ihm in all dem Betrieb ja die Zeit mangelt, alles genauer zu studieren.

So wie Seckel kein Nazi ist, ist er auch kein Militarist – und wundert sich selbst nicht wenig, als ihm der Unterricht auf einer Kadettenschule Spaß macht. Auch hier wird er schnell bei seinen Schülern beliebt. 1939 wird er Lehrer an der renommierten Kaiserlichen Universität Tokyo. 1941 bricht der Kontakt mit seiner Mutter kriegsbedingt ab – es geht keine Post mehr zwischen Deutschland und Japan.

Das alles schreibt er seiner Mutter in vielen ausführlichen und detaillierten Briefen, plaudernd lebendig und sehr anschaulich. Er erzählt von seinem Alltag, seinen Problemen mit der Verwaltung, seiner Haushälterin und der Suche nach einem ansprechenden Haus für sich, manchmal mit einem sehr trockenen Humor:

Diese Angelegenheit hat drei Stunden in Anspruch genommen; all so was wird hier mit vielen Um- und Zwischenwegen erledigt. Nämlich so: gegen 12 kamen sie zu mir; hereingebeten, Tee angeboten, hingesetzt. Weg zu Saitos Haus. Reingebeten, hingesetzt, Tee angeboten, Haus besichtigt (von oben bis unten; die Japaner zeigen ihre Sachen sehr gern, wie die Kinder), wieder hingesetzt. Einladung des Herrn S. zum Mitttagessen im Bahnhofsrestaurant; Weg z. Bhf.; hingesetzt, jap. Tee getrunken; 20 Minuten lang erfolgte weiter nichts; dann Essen; Weg zurück zu jenem zweiten Haus; von oben bis unten besichtigt, hingesetzt (merkwürdigerweise ohne Tee) und die Angelegenheit bekakelt, wobei alles doppelt und dreifach gekocht wird; endlich Abschied, wobei rasch noch ein Teil des Grundstücks gezeigt wird, der leider bisher vergessen wurde und völlig ohne Interesse ist. Weg zurück mit Aoyama, nicht ohne in ein Haus zu gehen, das laut Schild zu vermieten ist, in Wirklichkeit vorläufig aber nicht vermietet wird, da es „im nächsten Jahr“ erst repariert werden muss.

So schreibt Seckel über alles, über die schwierige Beschaffung von Büchern, den Unterricht und seine ersten Vorträge über Hölderlin, Rilke oder Georg Binding. Und wie er merkt, dass ihn die Kunstgeschichte immer mehr anzieht, bis er sich auf sie konzentriert und die grundlegenden Werke schreibt, über die Torii (Tore vor den Shinto-Schreinen), Schreine und Tempel, die Tuschmalerei, das Porträt. Auch über die Probleme beim Japanisch-Lernen, wenn ein Zeichen gleichzeitig als daisen und oyama ausgesprochen werden kann.

Den Ansprüchen der Nazis kann er sich nicht immer entziehen, zumal er Mitglied des NS-Lehrerbunds sein muss. Trotz der Zensur in Nazideutschland schreibt er manchmal sehr deutlich, was er von den Machthabern hält (nämlich nichts), mit seiner Mutter hat er zudem einen Code vereinbart, dass er Deutschland meint, wenn der von der „Familie D.“ schreibt, und dass er ein Pluszeichen vor einen Satz stellt, wenn er das Gegenteil meint – so kann er seine Haltung deutlich genug machen. Über die deutsche Kunst nach 1933 hat er ein eindeutiges Urteil: „ein wunderbares Gemisch von Kitsch, Unbegabtheit und Spiessigkeit“. Und er ist dann froh, dass er irgendwann die ihm verhassten „kulturpolitischen Tätigkeiten“ für die Annäherung zwischen NS-Deutschland und Japan einschlafen lassen kann.

Eine sehr genaue Einschätzung hat er auch von den Menschen, die er in Japan trifft. Von Graf Dürckheim, dessen Fleiß und Umtriebigkeit er schätzt, hält er persönlich nicht viel, er sei

in manchen Dingen, wenn man ihn näher kennen lernt, nicht gerade so sehr erfreulich. Kolossal eitel, egoistisch, wichtigtuerisch, beinah krankhaft rührig und betriebsam, was sich besonders in seiner Einmischung in lauter Dinge zeigt, die ihn nichts angeht.

Horst Hammitzsch, ein Japanologe, der als a. o. Professor nach Leipzig geht, sei ein „angeheirateter Neffe von Adolf Hitler“, der Herausgeber ergänzt, dass er tatsächlich deutliche Sympathien für den Nationalsozialismus zeigte. Über einen Direktor schreibt er, er habe „eine etwas froschartige Existenz“.

Die Briefe an seine Mutter, die 1941 wegen des Kriegs abbrechen, sind eine wunderbare Quelle über das damalige Leben in Japan, aus der Sicht eines Deutschen und mit großem Verständnis gesehen. Seckel beschreibt Natur und Klima in poetischen Bildern (der Fuji „in pfirsichfarbener Abendbeleuchtung“) und die bis dahin im Westen nur wenig beachtete Architektur und Kunst mit großer einfühlender und gleichzeitig wissenschaftlicher Einsicht. Vom Grab des Kaisers Meiji schwärmt er sehr ausführlich:

Das war nun wieder mal ein ganz grosser Eindruck, und angesichts dieser Schlichtheit, Monumentalität und Weihe schämte man sich als Europäer etwas über entsprechende Gebilde bei uns … (wozu ich auch sog. Denkmäler rechne) (…) Alles klar, schlicht, natürlich, grosszügig, stilvoll, ruhig.

Die Briefe sind oft humorvoll und auch selbstironisch. Sie zeigen die warmherzige Persönlichkeit des nicht einmal Dreißigjährigen, der sich auch immer wieder sehr um die Gesundheit seiner Mutter sorgt und bei Familienproblemen interveniert und Ratschläge gibt. Von sich selbst schreibt er, in dieser Zeit als Lehrer sei er „ein gut Stück ‚jünger‘ u. menschen-umgänglicher geworden“.

1948 habilitiert Seckel sich in Heidelberg und begründet mit seinem Lehrstuhl die ostasiatische Kunstgeschichte in Deutschland. 1976 wird er emeritiert, arbeitet aber noch fleißig bis kurz zu seinem Tod 2007. Sein Leben lang war er ein neugieriger Geist, der sich für Japan begeisterte und mit wachem Verstand und kritischem Geist durchdrang, abseits von dem, was in Europa an Vorstellungen über Japan kursiert, die er mit den Worten „rosaroter Unsinn, Sentimentalität und Idealisierung“ kritisiert.

Titelbild

Dietrich Seckel: Berichte aus Japan. Briefe an seine Mutter, Hiroshima 1936 bis Tokyo/Urawa 1941.
Iudicium Verlag, München 2020.
618 Seiten , 82,00 EUR.
ISBN-13: 9783862050529

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