Durch die Wüste

Lena Wankes dystopisches Debüt „Wo einst Leben war“ leidet an zweierlei: zu vielen Mängeln und zu vielen Seiten

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon Dantes göttliche Komödie zeigte, dass sich die Qualen in den Kreisen der Hölle literarisch wesentlich unterhaltsamer gestalten lassen als die himmlischen Freuden im Paradies, die in ihrer Eintönigkeit allzu schnell langweilen. Ebenso verhält es sich bei Dystopien und Utopien. Neben den fatalen Misserfolgen aller Versuche, den Himmel auf Erden zu schaffen, ist auch dies einer der Gründe dafür, dass sich erstere seit langer Zeit schon sehr viel erfolgreicher auf dem Buchmarkt etabliert haben. Muss man schon eine Weile in den Literaturgeschichten zurückblättern, um auf eine erfolgreiche Utopie zu stoßen, werden die Buchhandlungen von immer neuen, zumeist postapokalyptischen Dystopien geradezu überschwemmt. Anders als zur Zeit des Kalten Krieges, zu der die einschlägige Literatur zumeist Atomwaffen das Ende der Zivilisation besiegeln ließ, sind es in heutigen Dystopien nicht selten die Folgen des Klimawandels.

So auch im Debütroman der erst 21-jährigen deutschen Autorin Lena Wanke, dessen Titel Wo einst Leben war ein wenig an den eines mehrfach ausgezeichneten Klassikers des Genres erinnert: Kate Wilhelms 1976 erschienener Roman Where Late the Sweet Birds Sang, dessen Titel wiederum ein Sonnet von Shakespeare zitiert. Auch seine ProtagonistInnen leben in einer Welt des Klimawandels, allerdings nicht der Erderwärmung, sondern ganz im Gegenteil derjenigen einer globalen Abkühlung, die damals von Teilen der Klimaforschung prognostiziert wurde. Doch lässt Wilhelm sie gegenüber anderen dystopischen Entwicklungen in den Hintergrund treten. Es sind vor allem um sich greifende Seuchen, die zum weltweiten zivilisatorischen Zusammenbruch führen. Die wenigen Überlebenden sind fortpflanzungsunfähig und versuchen den Fortbestand der Menschheit mithilfe von Klonen zu sichern.

Handelt Wilhelms Roman auf dem Gebiet der ehemaligen USA, so derjenige von Wanke auf dem der Bundesrepublik, die in der Zukunftsvision allerdings längst Geschichte ist. An ihre Stelle ist das nach seinem Herrscher benannte Land Kaimar D. getreten, eine endlos-öde Trümmerlandschaft unter glühender Hitze bar jeden Lebens. Unterbrochen wird sie nur durch einige Städte, deren Hochhäuser „über 100 Stockwerke[.]“ in den Himmel ragen, sowie dann und wann von einer Baustelle. Dort errichten Roboter weitere Städte. Denn nach den Plänen des Diktators sollen sie alle zu einer einzigen riesigen Stadt zusammenwachsen, die das ganze Land bedecken wird.

Die Menschen fristen in ihren klimatisierten Apartments ein offenbar ziemlich taten- und ereignisloses Dasein. „[I]hr Blick auf die Welt“ ist im Laufe der Zeit „immer stärker abgestumpft und es interessierte sie nur noch, zurück vor ihre Bildschirme und all ihre virtuellen Verpflichtungen zu kommen“. Außerdem werden sie ohne ihr Wissen ständig unter euphorisierenden Drogen gehalten. Als Nahrung dient „eine Art Pudding“, die aus „einer undefinierbare[n] Masse“ besteht. Dass ihnen bei einer solch einseitigen Verköstigung bald die Zähne ausfallen würden, scheint kein Problem zu sein. Jedenfalls kommt es in dem Roman nicht zur Sprache. Überhaupt bleibt die Darstellung der Gesellschaft und ihrer Funktionsweise unterkomplex.

Dabei werden den Lesenden keinerlei Anhaltspunkte dafür geboten, dass dies am eingeschränkten Blick der jugendlichen Ich-Erzählerin Jona liegen könnte, die sich mit ihren jüngeren Geschwistern, der 13-jährigen Emma und dem zehnjährigen Luki schon „[s]eit etwa fünf Jahren“ durch die „unendliche Wüste“ inmitten Europas kämpft. Bereits vor Handlungsbeginn haben sie ein Mädchen in einem verlassenen Hochhaus aufgegabelt, dem sie den Namen Taube geben. Sie ist mit sechs Jahren die jüngste der Gruppe. Von Jonas älterem Bruder Tobias werden sie hingegen schon zu Beginn auf dramatische Weise getrennt. Da sie ihm nun nicht mehr „das Denken überlassen“ kann, muss Jona selbst die Führung des kleinen Häufleins und somit die Verantwortung für sie alle übernehmen. Verständlicherweise fühlt sie sich dadurch nicht nur maßlos überfordert, sondern ist es auch tatsächlich.

Mit dieser kleinen Gruppe ist das Personal des Buches recht überschaubar. Daran ändert auch nichts, dass im Laufe der Handlung zwei weitere Personen hinzustoßen – ausgerechnet der Sohn des Herrschers und sein Freund. Wie es dazu kommt, ist ausgesprochen unglaubwürdig. Doch nicht nur das, die gesamte von Wanke erdachte Welt ist in mancherlei Hinsicht unstimmig. So ist etwa ständig von der aufgrund einer immerwährenden sengenden Hitze „[v]ertrocknete[n] Landschaft“ und dem „tote[n] Boden“ die Rede, doch folgt die Gruppe die meiste Zeit einem Flusslauf, der immerhin tief genug ist, um einen Hubschrauber darin zu versenken.

Mit Hilfe eines Kompasses sind Jona und die ihren auf dem Weg nach Norden. Dies wurde ihnen von ihren Eltern aufgetragen, da sie dort Sicherheit vor dem tyrannischen Herrscher finden würden. Was sie am Ziel erwartet, wissen sie allerdings nicht. Unterwegs werden die Geschwister mehrfach getrennt, verraten und gefangenen genommen, können aber jedes Mal wieder entkommen und finden immer wieder zusammen. So zieht sich ihr Weg in den Norden für sie selbst wie auch die Lesenden über etliche hundert Seiten hinweg schier endlos in die Länge. Immerhin kommen einige von ihnen irgendwann tatsächlich an und finden sich auf einer unter einer Kuppel gelegenen Insel wieder, auf der Nutztiere und -pflanzen gedeihen. Aber auch diese Gesellschaft ist nicht wirklich stimmig konstruiert. Einerseits ist sie hochtechnisiert und das Wachstum der Pflanzen und die Reproduktion der Tiere werden „manipuliert“, andererseits leben die Geschwister in einem „kleine[n] Holzhaus“ und die Eier werden per Hand in einem „Stall“ gesammelt, um in einem „kleine Korb“, den sich jemand „vor den Bauch gedrückt“ hat, nachhause getragen zu werden. Wer nun allerdings erwartet hätte, dass die Geschwister in dieser ländlich anmutenden Idylle happily ever after leben würden, wird sich enttäuscht sehen.

Nimmt sich der Roman lange als ein auf ein jugendliches Publikum zielender Vertreter des Subgenres Grimdark aus, so kippt er schließlich doch in Hopepunk um. Denn „[a]m Ende“ dreht sich für Jona alles nur um „die Hoffnung, die uns dazu brachte, einfach immer weiter zu machen“. Denn „[w]o einst Leben war“, könnte „wieder Leben entstehen […], selbst wenn dafür erst schreckliches Chaos herrschen müsste“. Offen aber bleibt die Frage, ob „es das wert gewesen“ sein wird.

Erzähltechnisch wirkt der Roman unausgereift. Nun sind handwerkliche Mängel in einem Debüt nicht ungewöhnlich, ja geradezu zu erwarten. Im vorliegenden Fall überraschen sie umso weniger, als Wanke die Geschichte nach eigenen Angaben bereits im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren geschrieben hat. Die wenigen ihr zur Verfügung stehenden Stilmittel setzt sie immer wieder aufs Neue ein. Um die Dramatik zu erhöhen, greift sie etwa besonders gerne zu sich steigernden Wiederholungen („Es ging zu schnell. Viel zu schnell.“, „Ich hatte Hunger. Unfassbaren Hunger.“, „Ich schlief nicht. Ich würde nie wieder schlafen.“). Hinzu kommen schiefe Bilder („Ich verbrachte minutenlose Stunden in der Ewigkeit der Gefängnismauern“, „Müdigkeit überkam mich, zupfte und zerrte an mir, doch ich schickte sie fort.“) und pathetische Phrasen („Ich wollte das Leben in jedem Atemzug, in jeder Bewegung. Das Leben in seiner tiefen, unbezwingbaren Form.“). So wird die Handlung im stets gleichbleibenden Tonus höchster Dramatik Seite um Seite weitergesponnen. Gleichbleibend sind auch die Stimmungen und Emotionen Jonas und ihrer Geschwister. Sind diese stets ängstlich, so ist jene ständig überfordert. Verzweifelt, hoffnungslos und nach Todesfällen traurig sind sie alle. Leben einzuhauchen versteht die Autorin ihnen dennoch nicht. Dazu sind die Charaktere der Geschwister – wie auch die der wenigen anderen Figuren – zu oberflächlich angelegt.

Vor allem aber ist der Roman viel zu lange. Idee und Plot hätten vielleicht für eine Kurzgeschichte getaugt, aber nicht für einen Wälzer von mehr als 600 Seiten. Sich – zumal in jungen Jahren – für ein Debüt weniger vorzunehmen, wäre zwar nicht mehr, doch vielleicht besser. Jedenfalls zeigt der Roman, dass vom Höllisch-Dystopischen doch nicht immer unterhaltsamer oder gar spannender erzählt wird als vom Himmlisch-Utopischen.

Titelbild

Lena Wanke: Wo einst Leben war.
Lektora, Paderborn 2020.
628 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783954611607

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