Februar 1943

Maren Gottschalk schreibt mit „Wie schwer ein Menschenleben wiegt“ eine zweite Biografie von Sophie Scholl

Von Joachim Schulze-BergmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Schulze-Bergmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Maren Gottschalk hat bereits im Jahr 2012 eine Biografie von Sophie Scholl vorgelegt, so dass die neuerliche Arbeit zu demselben Thema Erwartungen weckt. Tatsächlich gelingt es der Autorin, das kurze Leben der Sophie Scholl vor den Augen der Lesenden auszubreiten, indem sie zahlreiche persönliche Erinnerungen der Familienmitglieder, guter Freunde und Nachbarn zusammenträgt. Sie entfaltet diese Lebensgeschichte, indem sie zunächst die berufliche Karriere des Vaters aufgreift, Robert Scholl, geboren 1891, der als junger Mann als Bürgermeister einer Kleinstadt ambitioniert arbeitet, heiratet und die Ausstattungen in den angemieteten Wohnungen etabliert. Seine Frau Lisa ist 10 Jahre älter als er selbst, sie haben fünf Kinder, drei Töchter und zwei Söhne. Umzüge und beruflicher Wechsel des Vaters führen die Familie schließlich nach Ulm, wo die Kinder ihre schulische Laufbahn beenden.

Gottschalk gelingt es, die persönlichen Eigenarten und normativen Vorstellungen der beiden Eltern glaubhaft und plastisch darzustellen, so dass die Lesenden eine Vorstellung von der moralischen Orientierung entwickeln können, die für die Kinder wegweisender und haltender Hintergrund sind. Dazu gehört die pazifistische Einstellung des Vaters und die fürsorgliche, aufopfernde Haltung der Mutter, die die Grundlage eines bürgerlichen Familienlebens bilden, in dem Hausmusik, belletristische Lektüre und künstlerische Tätigkeiten gefördert und gepflegt werden.

Die Kinder gestalten ihre Freizeit in der ländlichen Umgebung ohne Aufsicht der Eltern und erleben so eine Balance von Anforderungen und eigener Gestaltungsmöglichkeit. Diese Erfahrungen verdichten sich einerseits zu einer intensiven familialen Loyalität, andererseits zu einem Gestaltungswillen, dessen persönliche Ausformungen während der adoleszenten Phase sehr unterschiedliche Inhalte bildet. Die ästhetischen Erlebnisse wie Zeichnen, literarische Bildung, Hausmusik und Naturerkundungen sowie die Erprobung des eigenen körperlichen Vermögens teilt Sophie mit den Geschwistern und guten Freunden.

Die Zwangsmitgliedschaften für Kinder und Jugendliche in den nationalsozialistischen Organisationen empfinden die Scholl-Geschwister nicht als Zumutung. Vielmehr reihen sie sich dort ein und übernehmen im Verlauf ihres Heranwachsens leitende Aufgaben bei den Jugendgruppen der HJ und des BDM. Das gilt auch für Sophie Scholl. Allerdings erweisen sich diese Aktivitäten als nur eine Erprobungsvariante eigener Entwicklungsmöglichkeiten und -aufgaben. Die sexuelle Entwicklung und damit die Erprobung und der Erwerb tradierter Merkmale der Frauenrolle stellen für Sophie Scholl ein größeres Problem dar. Im Widerstreit zwischen den aus der Kindheit eingeübten Vorbildern der Mutter, dem Beziehungsangebot des um vier Jahre älteren Fritz Hartnagel und eigenen, aber auch noch nicht definierten Vorstellungen einer gelingenden Partnerschaft erlebt Sophie affektive und normative Disharmonien, die sie über mehrere Jahre zwischen ihrem 16. und 21. Lebensjahr begleiten.

Zu dieser noch auf Probe gestellten Phase intimer und privater Erfahrungen im Nahbereich treten weitere normative Orientierungsangebote und zunehmende Faktenkenntnis: Zum einen versucht Sophie eine Haltung gegenüber einer göttlichen Transzendenz zu finden, die sie als moralischen Fixpunkt versteht, auf den der Sinn des Lebens zuläuft. Andererseits stammen vom Vater und aus dem Freundeskreis immer mehr Informationen über politischen Vorgehensweisen der NS-Diktatur gegenüber Juden, Österreich und der Tschechoslowakei, welche als unmoralisch beurteilt werden.

Mit Kriegsbeginn und schließlich mit der Katastrophe von Stalingrad distanzieren sich Sophie und ihre studentische Freundesgruppe endgültig von der Diktatur und beschließen, einen aktiven Widerstand aufzubauen. Dieser Widerstand soll nach ihren Vorstellungen von der Studentenschaft ausgehen, die sie mit Flugblättern erreichen wollen. Diese Aktionen beginnen im Herbst 1942 und werden im Februar 1943 aufgedeckt.

Obwohl Sophie und ihrem Bruder Hans sowie weiteren Personen des engeren Widerstandskreises bewusst ist, dass sie bei einer Verhaftung und Verurteilung mit der Todesstrafe rechnen müssen, gehen sie dieses Risiko ein. Diese unbedingte Motivation bleibt auch bei der von Gottschalk angebotenen Narration nicht schlüssig und nachvollziehbar zurück. Denn es ist auffällig, dass Gottschalk keine von Sophie oder ihren Freunden konzipierte politische Analyse der NS-Diktatur vorlegen kann, ein Rückgriff auf politische oder gewerkschaftliche Organisationsformen fehlt ebenfalls, Kontakte zu ehemaligen Persönlichkeiten des politisch linksstehenden Widerstands aus der Weimarer Republik werden nicht genannt. Insofern bleibt bei den Lesenden dieser Biografie der Eindruck zurück, dass sich eine junge Frau aus moralischen Gründen bis zu dieser Widerstandsform radikalisierte, und dabei zu einer Entschlossenheit gelangt, die das eigene unbedingte Handeln vorantreibt, eine strategische und taktische Planung zum eigenen Schutz und zum Schutz Dritter, wie zum Beispiel der Familie, vernachlässigt.

Zusammenfassend ist dieser Biografie lobend nachzusagen, dass sie zahlreiche Aspekte aus dem kurzen Leben der Sophie Scholl zusammenträgt, wodurch für die Lesenden die Person in ihrer Entwicklung plastischer hervortritt. Kritisch anzumerken ist, dass Gottschalk ihre von Sympathie getragene Sicht auf die Person Sophie Scholl an vielen Stellen im Text durchblicken lässt, ohne dass diese dort geäußerten Wertungen sich immer plausibel aus den angebotenen Quellen ableiten.

Soll es nicht nur bei der privaten Lektüre bleiben, sondern soll diese Biografie als Arbeitsmittel für unterrichtliche Vorhaben zum Ende der Sekundarstufe I oder in der Oberstufe eingesetzt werden, so lässt sie sich gut durch vorliegende Verfilmungen dieses studentischen Widerstands und durch Material der Bundeszentrale für politische Bildung zu diesem Themenfeld ergänzen. Um den Blick auf die Lebensbedingungen in der NS-Diktatur zu schärfen, sei an die beiden Romane von Hans Fallada erinnert: Kleiner Mann, was nun? und Jeder stirbt für sich allein. Ist daran gedacht, eine Brücke zu aktuellen Widerstandformen, wie zum Beispiel im Gaza-Streifen oder den palästinensischen Wohngebieten, die politisch motivierte Suizide einschließen, zu schlagen und zum Unterrichtsinhalt zu machen, so ist der Text Der Himmel über Jerusalem von Gabriella Ambrosio zu empfehlen.

Titelbild

Maren Gottschalk: Wie schwer ein Menschenleben wiegt. Sophie Scholl.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
347 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783406755606

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