„Mein Credo lautet: Ich werde gewesen sein.“

Ein Nachruf auf Theodor Weißenborn

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Am 9. Januar ist Theodor Weißenborn nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 87 Jahren gestorben. „Er verstarb“, heißt es in Zeilen seines Sohnes, „wie man es jedem Menschen nur wünschen kann: In Würde, schnell und ohne langes und großes Leiden.“

Theodor Weißenborn, seit 1971 Mitglied des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland und mit diversen Literatur- und Hörspielpreisen ausgezeichnet, wurde am 22. Juli 1933 in Düsseldorf geboren. In den 1950er und 1960er Jahren studierte er an wechselnden Orten Kunstpädagogik, Kunstgeschichte, Germanistik, Romanistik, Philosophie, medizinische Psychologie und Psychiatrie. Früh legte er, der sich später intensiv mit Gestaltpsychologie, Biblio- sowie Poesietherapie beschäftigte, ein Bekenntnis zur Anti-Psychiatrie Franco Basaglias ab, noch früher trat er aus der katholischen Kirche aus.

Seinem zutreffenden Selbstverständnis nach war Theodor Weißenborn ein „Citoyen“ – 1986 war er Kandidat der Friedensliste für die Bundestagswahl im Wahlkreis Bitburg – und „außerparlamentarischer Querdenker, Grenzgänger zwischen den Lagern oder Sasse zwischen sämtlichen Stühlen“. Nicht von ungefähr trägt sein letztes, in erster Auflage 2019 erschienenes Buch den in Corona-Zeiten vermutlich doppelt anstößigen Titel Querschüsse. Gedanken und Memoiren eines Ketzers. Darüber hinaus zeichneten ihn, der bei aller Freundlichkeit und Höflichkeit im privaten wie beruflichen Umgang durchaus seine „Ecken“ haben konnte, eine hohe politisch-moralische Streit- und Kampfeslust, charakterliche Unbeugsamkeit im rechten Moment und an gebotener Stelle der Wille zu nachsichtiger Duldung aus. Ob diese Selbstpositionierungen und Eigenschaften mit dazu beigetragen haben, dass ihn „der Betrieb“ , das große Feuilleton, in den letzten beiden Jahrzehnten geschnitten hat?

Als Dichter par excellence und zugleich engagiert-widerständiger Intellektueller im Sinne Jean-Paul Sartres hat Theodor Weißenborn seit den 1950er Jahren ein formal, stilistisch und thematisch vielfältiges, weit verzweigt in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften publiziertes Werk vorgelegt. Seine Arbeiten verdanken sich zu einem Gutteil der „Empörung angesichts der entwürdigenden Lebensbedingungen“, „denen große Gruppen von Menschen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind“: Neben mehreren, z. T. zu einem Zyklus verbundenen Romanen – Hieronymus im Gehäus (1992), Die Wohltaten des Regens (1994) und Der Nu oder Die Einübung der Abwesenheit (1999) – findet sich eine große Anzahl an Erzählungen, Kurzgeschichten, Gedichten, Hörspielen und Briefen naturalistischen oder realistischen Charakters und mal poetischen, sachlichen, satirischen, parodistischen, ulkhaften, grotesken, sarkastischen oder auch bissigen Tons.

Stellvertretend seien hier Prosatexte wie Brief einer Mutter (1969), Requiem für ein Du (1977), Zu den Kellergebrüchen (1983) und Pro Ecclesia (1987) sowie Hörspiele wie Der Papi (1967), Korsakow (1968), Ein Zeugnis humanistischer Reife (1970) und Der Sündenhund (1989) genannt. Darüber hinaus liegen zahlreiche essayistische Texte wie Aufruf zur Zersetzung (1968) oder Sprecher der Sprachlosen (1972) und Gespräche wie Worüber man nicht schweigen kann, davon muß man sprechen (mit Wolfgang Thorns; 1993), Zwischenbilanz (mit Martin Wollschläger; 2002) oder Literaturtheorie und literarische Praxis (mit Günter Helmes; 2003) vor. Seinesgleichen suchen sicherlich die Briefsatiren Die Paten der Raketen (1986) und das „Panoptikum schizophrener Moral“ Rüstung – Jein und Amen! (1986/1987; 2003), mit denen Weißenborn unter Decknamen Spitzenpolitiker und zahlreiche Vertreter des öffentlichen Lebens aus unterschiedlichen Bereichen (vor allem die Kirchen) in den 1980er Jahren aus der Reserve lockte und sich selbst bloßstellen ließ.

Theodor Weißenborns Werke, deren etliche in annähernd dreißig Sprachen übersetzt oder weltweit als Rundfunkproduktionen ausgestrahlt wurden, behandeln existentiell-seelische, weltanschaulich-religiöse, politisch-soziale und künstlerisch-selbstreflexiveThemen. Sie stellen bevorzugt gesellschaftlich diskriminierte, stigmatisierte, pathologisierte oder marginalisierte Figuren wie Alte, Künstler, psychisch Kranke oder Menschen mit Behinderung sowie literaturkritische und literatursoziologische Fragen ins Zentrum ihres eminent kulturkritischen Interesses. Dieses Interesse will aus einem emanzipatorischen Grundimpuls heraus dem „Homo adaptus simplex“ und dessen Vergesellschaftungsformen wehren. Dabei nahm sich Weißenborn in seinen Texten insbesondere auch misshandelter Kinder an.

Darüber hinaus war er über Jahrzehnte als Kabarettist, Seminarleiter, Publizist, Redner, Aktivist und Provokateur im literarischen und öffentlichen Leben präsent. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang vor allem die Freundschaft mit Heinrich Böll, der ihn Anfang der 1970er Jahre gegen den Vorwurf der Gotteslästerung in Schutz nahm, sowie Wochenendseminare in Hochschulen und kirchlichen Akademien, Auftritte im Rahmen friedenspolitischer Initiativen Mitte der 1980er Jahre sowie ungezählte Lesungen in Schulen, Volkshochschulen, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen.

Der literarischen Originalität, den philosophischen und literaturtheoretischen Gehalten sowie der intendierten aufklärenden, auf eine veränderte individuelle und kollektive Praxis zielenden Wirkung nach verdienen neben den erzählenden auch Weißenborns diskursive und operationale Texte besondere Aufmerksamkeit. Sie standen auch stets im Zentrum des Interesses von Literaturkritik und Publikum. Übersehen werden sollte allerdings nicht, dass sich Weißenborn phasenweise auch als sprachlich varianten- und gestaltungsreicher Lyriker zu Wort gemeldet hat (bspw. Fallen im Schacht der Zeit, Aus einem deutschen Lesebuch, Blasphemie, Beiläufig, Tat tvam asi, Realpugnanz, + = –, – = +).

Seit den 1990er Jahren war für den Bereich „Gesellschaftskritik“ eine gewisse „Milde“ bei Weißenborn zu beobachten. Zwar wurde er beispielsweise in seiner Kritik an der Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratie nicht müde darauf hinzuweisen, dass „Mehrheitsbeschlüsse […] kein Mittel der Wahrheitsfindung und kein Ausdruck von Weisheit oder moralischer Größe“ sind, doch war zumindest phasenweise eine „Abkehr von der Anthropozentrik“ und all dem, was damit an Politisch-Gesellschaftlichem in Zusammenhang steht, nicht zu übersehen. An die Stelle dieser „Anthropozentrik“ trat nun verstärkt

die Wahrnehmung des Überzeitlichen, die Erfahrung alltäglicher Mystik, neuer (und alter) nicht verfaßter Religiosität, die Überwindung zerstörerischer Dichotomien dank ausgleichender Gewichtung von Nomos und Anti-Nomos auf einer Meta-Ebene, also ein gelassener Umgang mit Antinomien, mit in der tragischen Verfaßtheit des Seins wurzelnden menschlichen Konflikten.

Erst in jüngerer und jüngster Zeit – siehe u.a. zahlreiche Veröffentlichungen in Rotfuchs, Konkret und neues deutschland sowie die Querschüsse – zeigte sich, dass der hochbetagte Theodor Weißenborn angesichts massiver innenpolitischer Fehlentwicklungen wie Sozialabbau, Verarmung breiter Gesellschaftsschichten (auch geistig-kulturell) und Entdemokratisierung sowie angesichts dramatischer internationaler Zuspitzungen wieder zur „gekonnten Aggression“ (Alexander Mitscherlich) früherer Jahrzehnte zurückgefunden hatte. Von daher war er bis zuletzt jung geblieben in eben der besonderen, viel zu seltenen Art, wie sie Bob Dylan in Forever young beschrieben hat.

Da heißt es gegen Ende – und damit sei Theodor Weißenborns als Haupttitel diese Nachrufs verwendetem „Credo“ mit Blick auf sein Werk ausdrücklich widersprochen: „May your song always be sung“.