Eine Londoner Fahrradkurierin spielt Richard III.

„Ein englischer Winter“ – der von 1978/79 mit dem folgenreichen Generalstreik – dient Thomas Reverdy als Hintergrund für einen Roman voller Gefühl und Verstand

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

L‘hiver du mécontentement („Der Winter des Missvergnügens“) heißt der im Jahre 2018 erschienene Roman von Thomas Reverdy im französischen Original. Kenner der Stücke William Shakespeares denken an die Eingangsworte von Richard III. In der gleichnamigen historischen Tragödie wird – in deutscher Übersetzung von Schlegel/Tieck – „der Winter unsers Missvergnügens glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks“. Dieser inhaltlich wichtige Bezug geht im deutschen Titel verloren. Ein englischer Winter ist es durchaus, der von 1978/89. Stefan Heyms Buch Der Winter unsers Mißvergnügens, über die Situation in der DDR nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns am 16. November 1976, oder John Steinbecks Buch mit fast identischem Titel standen einer direkteren Übersetzung sicherlich im Wege.

Was war nun so missvergnüglich in jenem englischen Winter? Vor allem die Politik der Labour-Regierung unter Premierminister James Callaghan, der die Aufkündigung des Sozialvertrags durch die historisch mit seiner Partei verbundenen Gewerkschaften nicht verhinderte. Das Land stand vor dem wirtschaftlichen Kollaps, die Preise für Brot und Benzin verdoppelten sich. Als die mächtige Gewerkschaft Transport and General Workers‘ Union mit ihren Hunderttausenden von Mitgliedern den Streik ausrief, brach das Land zusammen. Es war Larry Lamb, Chefredakteur der auflagenstarken britischen Boulevardzeitung The Sun, der in einem Leitartikel die Worte Shakespeares auf jenen Winter anwandte.

London war nicht wiederzuerkennen: Müll und Sperrmüll und Schutt mussten geschwefelt werden, damit die Ratten nicht die Oberhand gewannen. Tollwut und Pest drohten. Wer noch Arbeit hatte, legte die weiten Wege in der Metropole mit dem Auto, als Tramper, zu Fuß oder per Fahrrad zurück. Fahrradkuriere wurden wichtig für die Übermittlung der Briefpost. Die schnellste Kurierin in London war Candice, die Heldin des Romans, die gerade an einer Schauspielschule angefangen hatte. „Candice wird immer schöner. So etwas passiert, wenn man jung ist und nicht aufpasst.“

Bevor man dieses originelle Urteil des Autors liest, hat man einiges über die junge Frau erfahren. Sie lebt allein und ist von den Eltern vor allem wegen des grobschlächtigen Vaters entfremdet. Zu Weihnachten gibt es in dieser Familie mehr Zänkereien als Geborgenheit. Candice liebt die Musik und kann im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen nichts mit den Beatles anfangen. Sie „braucht eine Energie, die näher an der Härte der Straße ist“.

Candice wird die Hauptrolle in einem interessanten Theaterexperiment spielen. Eine nur aus Frauen bestehende Truppe studiert Richard III. von William Shakespeare ein. Die Regisseurin Nancy von der Schauspielschule sagt, eine Tragödie sei immer die der Frauen. Die Sicht der Truppe auf den mörderischen Titelhelden des Dramas ist interessant. Ihm wird eine gelangweilte Schauspielerpersönlichkeit nachgesagt, mit mehr Lust an Spiel und Manipulation als an der Königswürde. Die Eroberung der Macht wird für ihn zum großen Spaß. Ohne die Opfer der Frauen wäre Richard ein Clown wie der „Große Diktator“ in Charlie Chaplins Film. „Erst die Würde der Opfer macht ihn zum Täter.“ In der berühmten Szene mit Lady Anne, deren Mann und deren Schwiegervater von Richard umgebracht wurden, ist seine letzte List die vollkommene Selbstaufgabe. Richard macht Anne den Hof, belügt sie schamlos und tituliert sie, als sie ihn beschimpft und beleidigt, als „Engel“ und „süße Heilige“. Er entblößt seine Brust und führt die Spitze der Klinge an sein Herz. Anne sticht nicht zu. Er hat sie verblüfft.

Bei einer Probe sieht Candice im Theater eine kleine Frau mit Betonfrisur: Margaret Thatcher, Vorsitzende der Konservativen Partei, bald Premierministerin. Mit Vermittlung des größten aller britischen Schauspieler, Sir Laurence Olivier, hat sie sich zur Sprecherziehung angemeldet. Candice sieht in ihr eine Person ohne Klasse und Stil. Der Autor will keine Gleichsetzung von Richard und Frau Thatcher; die Dimensionen würden nicht stimmen. Eines aber haben sie gemeinsam: sie fühlen sich stark und hassen die Schwachen. Der Politikerin geht es um die Macht. In ihrem Jahrzehnt als Regierungschefin wird sie in Großbritannien die Herrschaft der „Starken“ (sprich: der Reichen) zynisch verfestigen, Gewerkschafter wie Terroristen behandeln, auch die Ärmsten mit der Kopfsteuer schröpfen. Sie wird 0 (in Worten: null) neue Arbeitsplätze schaffen. „Dieser Traum ist nun ausgeträumt“, sagt Margaret Thatcher. Sie findet das alternativlos. Zur Premiere von Richard III. sitzt sie im Publikum, und ein Claqueur sorgt für Applaus. Beim Auftritt von Candice ist allen im Saal klar, auf wen ihr Blick zielt, als sie die Worte über den „Winter unsers Missvergnügens“ deklamiert.

Candice gibt ihren Beruf als Fahrradbotin auf, Tasche und Jacke landen im Müll. Da liegt der Brief an einen John Jones. Wegwerfen? Das bringt sie nicht fertig. Sie radelt zur angegebenen Adresse, einem alten Haus, schwarz von Schmutz und Ruß. Die Hauswirtin sagt ihr, „der junge Jones“ bewohne das Apartment, das sein Großonkel gemietet habe. Als Musiker trete er in Jazzclubs auf, sei in Ordnung und bezahle die Miete pünktlich. Candice klingelt bei Jones, den sie in einem Klub flüchtig kennengelernt hat. Sie spürt, dies ist einer jener Augenblicke, wo einem das Leben komplett entgleitet. Sie schauen einander lange in die Augen. Doch Liebe ist ein „Komödiending“.

Was hat Jones nicht alles gemacht, weil die Musik nichts mehr einbringt! Er war Verkäufer, Nachtwächter, Aushilfsbarkeeper und „Faxman“, der von den Faxgeräten im Keller zu den Büroetagen rannte und zurück. Er hat seinen Job bei British Petroleum verloren, wo er in Zeitungsausschnitten alle Erwähnungen dieser Firma finden und sortieren musste. Jones verrät Candice nicht, dass er tagelang nichts isst und nicht mehr komponieren kann. In dem Brief, den er eines Tages öffnet, wird seine Klage gegen die Entlassung durch BP vom Gericht abgewiesen. Schließlich steht er am Rand der Pier von Southend, vor der Fahrrinne, die durch die Themse zum Meer führt. Jones träumt von einer Musik ohne Anfang und Ende. Hier ist kein Platz mehr für ihn, vielleicht kommt er wieder.

In Frankreich erreichte der Roman die „short list“ für den Prix Goncourt. Das ist gut nachzuvollziehen bei einem Buch, das einfühlsam und intelligent schildert, wie die sogenannte „große Politik“ den „kleinen Leuten“ das Leben verdirbt. In souveräner Sprache, für deren tadellose deutsche Fassung der Übersetzerin Brigitte Große zu danken ist, wird detailreich, ironisch und ohne Wehleidigkeit von zwei aufrechten und klugen Menschen erzählt, die Besseres verdient hätten als ein Leben im kalten Kapitalismus. Zugleich ist der Roman eine Warnung, welches Unheil nicht nur britische Politiker mit „Sonderwegen“ anrichten können.

Gegenüber der Geschichte um Candice und Jones wirken lange Ausführungen über die politische Lage als Fremdkörper. Von den vietnamesischen Boatpeople über die UdSSR und Afghanistan bis zum Iran – das liest sich wie eine Presseschau, freilich mit geistreichen Spitzen.

Viele Leser hören in die Musik hinein, die für die Protagonisten des jeweiligen Buchs wichtig ist. „Der Soundtrack zum Roman“ enthält ein Überangebot mit 34 Songtiteln aus verschiedenen Alben. Sie sind zugleich Motto der Romankapitel. Es beginnt und endet mit Pink Floyd. Run Like Hell gibt das Tempo für die auf ihrem Fahrrad wie im Flug durch Londons Straßen sausende Candice vor, und The Show Must Go On bildet den bedauerlich realistischen Abschluss.

Titelbild

Thomas Reverdy: Ein englischer Winter.
Aus dem Französischen von Brigitte Große.
Berlin Verlag, Berlin 2021.
240 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827014092

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