Verloren im Labyrinth

Susannah Clarkes lange erwarteter zweiter Roman „Piranesi“ wandelt gekonnt zwischen Genre-Literatur und psychologischem Roman

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Jorge Luis Borges’ kurzer Erzählung Das Haus des Asterión berichtet ein Ich-Erzähler von seinem Leben in einem Labyrinth. Zunächst ist man als Leser verwirrt, da der Erzähler stets nur die Beschaffenheit seines „Hauses“ in den Mittelpunkt stellt, das er als die „ganze Welt“ versteht. Die Hinweise, dass es sich bei jenem seltsamen Haus um das knossische Labyrinth handelt und wir der Erzählung des Minotaurus lauschen, verdichten sich zusehends, bis am Ende ein Perspektivwechsel stattfindet und die Stimme Theseus‘ gegenüber Ariadne verkündet, er habe das Untier nun endlich erlegt.

Susannah Clarkes zweiter Roman nach dem Weltbestseller Jonathan Strange & Mr. Norrell trägt den Titel Piranesi und ist nicht nur deutlich inspiriert von Borges’ Minotaurus-Erzählung, sondern auch von seiner Geschichte Die Bibliothek von Babel. Daneben finden sich auch Spuren von Andrjei Tarkowskis Film Stalker sowie nicht zuletzt Christopher Nolans Inception in dieser seltsamen Geschichte. In ihrem Zentrum steht ein junger Mann, der in einer prunkvollen, unendlich anmutenden Villa lebt. Dieses halb zerfallene, jedoch immer noch prachtvolle Gebäude besteht aus zahllosen Räumen, allesamt gesäumt mit Statuen, die menschliche Handlungen abbilden. In den Räumen wüten die Gezeiten, es gibt Ebbe und Flut, letztere sorgt oft für lebensgefährliche Überschwemmungen. Gleichzeitig bläst ein meist eisiger Wind durch die offenen Decken. Nur ein Außen scheint es nicht zu geben. Lediglich der Blick auf ebenso zahllos vorhandene Innenhöfe bleibt, die aus den Fenstern der schachbrettartig angeordneten Räume zu sehen sind.

Menschen gibt es neben dem Erzähler hier auch nicht, außer einem weiteren Mann, den der Erzähler einmal die Woche zur Besprechung trifft und den er den ‚Professor‘ nennt. Der Professor erteilt ihm seltsame Aufgaben, die ihn durch die Weiten des Gebäudes führen. Er ruft den Erzähler beim Namen Piranesi, an den dieser sich selbst jedoch, wie an so Vieles, nicht mehr erinnern kann. Auch Überreste einiger weniger früherer Bewohner hat er gefunden; die Skelette hat er so angerichtet, dass sie wie Mitbewohner wirken, welche die immer gleiche Handlung vollführen. Es ist, kurz gesagt, ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben scheint und in der der Protagonist mithilfe immer gleicher Rituale ums Überleben kämpft.

Eines Tages taucht plötzlich ein dritter Mann in den Räumen auf und scheint den Professor ausfindig machen zu wollen; dazu ist er bestens informiert über Piranesi und die Beschaffenheit des Hauses. Er warnt Piranesi vor dem Professor, doch als Piranesi und der Professor wieder aufeinandertreffen, verschweigt er ihm das kurze Treffen. Gleichzeitig beginnt der Professor Piranesi vor dem Auftauchen noch einer weiteren Person zu warnen, die ihm Lügen über die Villa und ihre Beschaffenheit erzählen und so sein Leben aus dem Rhythmus bringen würde. Es kommt dennoch zu einer entscheidenden Konfrontation mit dieser geheimnisvollen Person und Piranesis Welt gerät tatsächlich zunehmend aus den Fugen.

Auf der einen Seite ist Piranesi damit ein atmosphärischer Fantasy-Roman, der in einer menschenleeren Welt spielt, die nur aus einem endlosen, leerstehenden Gebäude besteht. Die Statuen geben dem Erzähler, der nichts anderes zu kennen scheint, die Grundlagen menschlichen Handelns vor. Ihre ‚Lektüre‘ verbindet ihn, so scheint es, mit dem, was wir Leser*innen als die ‚reale Welt‘ empfinden. Auf der anderen erinnert der Text auch an Nolans bereits erwähnten Film Inception, in dem die Protagonisten regelrecht physisch in immer tiefere Traumschichten vordingen und sich darin für immer verlieren. Der Minotaurus, so Borges, sei ja letztlich auch nur die Verkörperung viel schlimmerer, unbekannter Träume. Gibt es vielleicht jemanden, der Piranesi erträumt, wie es in der ersten Erzählung in Michael Endes surrealistischem Prosatext Der Spiegel im Spiegel, an den Clarkes Roman immer wieder erinnert, der Fall ist?

So tradiert einige Motive in diesem Roman durchaus sind, so einnehmend ist die Atmosphäre, die in ihm erzeugt wird. Dass am Ende, nach einem finalen Twist, auch eine befriedigende, rationale Erklärung für das irrationale Schauspiel geliefert wird, macht den Roman erst recht interessant, vor allem, weil wir zur gleichen Zeit in die Welt des Irrationalen hineingezogen werden. Was ist nun wahr? In diesem Spannungsfeld zwischen psychologischer Prosa und Fantasy-Literatur liegt die wahre Stärke dieses Romans, das ihn entgegen jeglicher Vermarktungsstrategien das Fantasy-Genre transzendieren lässt und ihn zu einem bemerkenswerten, spannenden Roman über die Untiefen der menschlichen Psyche macht.

Titelbild

Susanna Clarke: Piranesi. Roman.
Aus dem Englischen von Astrid Finke.
Blessing Verlag, München 2020.
272 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783896676726

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