ArbeiterInnen im ideologieverarbeitenden Gewerbe
Ernst Müller und Falko Schmieder legen eine hervorragende, wenn auch spröde „Begriffsgeschichte zur Einführung“ vor
Von Kai Sammet
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMan muss diese Monster lieben: das von Joachim Ritter et al. zwischen 1971 und 2007 herausgegebene Historische Wörterbuch der Philosophie (schlappe 3650 Artikel), die von Reinhart Koselleck et al. herausgegebenen Geschichtlichen Grundbegriffe – beide Wälzer werden in dieser Einführung in die Begriffsgeschichte von Ernst Müller und Falko Schmieder immer wieder als Beispiele angeführt. Noch besser, wenn auch nicht wirklich „Begriffsgeschichte“ ist das Grimmsche Wörterbuch. Wer da versucht, einen Artikel zu lesen, der versinkt und erstickt im Schlaraffenland-Reisbrei der Semantik – anstrengend, anregend, zur Verzweiflung treibend und ehrfurchteinflößend wie viele Färbungen ein Wort in seiner Zeit, über die Zeit annehmen kann. Noch mehr Spaß macht: Hans Bächtold-Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 1927-1942, aber ist das Begriffsgeschichte? Dazu später.
Jedenfalls ist die hier vorgelegte Einführung hervorragend, wenn mir auch etwas zu spröd und akademisch, wo doch Begriffe solchen Spaß machen können, besonders diejenigen, um die es hier geht: diese Klitschefische historischer Semantik.
Wie hat sich das Gebiet entwickelt? Bis ins 18. Jahrhundert habe man Begriffe als „zeitlos“ aufgefasst. Das mag etwas verkürzt sein (siehe Grimmsches Wörterbuch). Sicher aber werden Begriffe und ihre Verwendung zunehmend dem Konflikt ausgesetzt. Konfliktreiche Zeiten sind Zeiten umkämpfter Begriffe. (Historische) Semantik überhaupt, so Luhmann, sei jene Form, in der ein ausdifferenziertes System beobachtet, „was in der gesellschaftlichen Autopoiesis produziert wird“. Das ist einerseits eine gute Beschreibung, andererseits falsch. (1) beobachtet das System nicht bloß, es beschreibt sich in sich, (2) beschreibt das System nicht nur, was in ihm autopoietisch produziert wurde, sondern auch – das kann es, da es konstruktivistisch, also: erfinderisch ist –, auch das, was in ihm nicht produziert wird oder vermeintlich produziert wird: Semantischer Surplus der Erfindungen. (3) gibt es im System viele Systembeschreiber, es gibt nicht nur eine Beschreibung des Systems. Kurz und gut, scheinbar stabile Entitäten/Begriffe (zum Beispiel Klasse oder Herrschaft) sind „im Grunde höchst instabile, ständig sich erneuernde, sprachlich hervorgebrachte Konstrukte“.
Die Begriffsgeschichte diene „nichts Geringerem als dem Ziel, das Selbstverständnis einer Epoche zu erfassen“. Das ist doppelt vermessen – gibt es ein Selbstverständnis oder viele? Und: man darf nicht vergessen, dass das „Selbstverständnis“ einer Epoche manchmal ein verdammtes Missverständnis sein kann. So wird oft behauptet, wir lebten in einer Wissensgesellschaft. Ich maule mal: Und warum sind dann im Moment die Fragen nach der Ursache der Höhe der Corona-Infektionen schieres Kaffeesatzlesen, nixewiss – selbst die oberst zuständige Stelle, das Robert-Koch-Institut, spricht nur achselzuckend von einem „diffusen Geschehen“?
Wie auch immer. Reinhart Koselleck, sicher einer der wichtigsten Vertreter der Begriffsgeschichte, hält es für möglich, „die Moderne von ihrer semantischen Selbstbeschreibung her gleichzeitig zu beschreiben und kritisch zu reflektieren“. Wie aber soll das gehen, wenn die, die jene Begriffsgeschichte schreiben, selbst wieder in Zeiten und Begrifflichkeiten ge- und befangen sind? Das ist wiederum vermessen – man bleibt ArbeiterIn im ideologieverarbeitenden Gewerbe. Dennoch sind Kosellecks Befunde zentral und wichtig: Begriffe können zum einen Indikator für etwas sein, zugleich Faktoren, geschichtsprägend. Ebenso zentral ist die Wahrnehmung, dass Begriffe in der Moderne der Verzeitlichung, Politisierung, Demokratisierung, Ideologisierbarkeit unterworfen sind.
Aber was sind denn nun Begriffe? „Ideas“, Vorstellungen, geronnene Bedeutungen? Nur Wörter plus Referent? Abstraktionen, die irgendwie etwas Kulturelles, Soziales, Politisches abbilden? Sind sie einfach Kürzel zur Entlastung von Reizüberflutung, wie Arnold Gehlen meint? Drücken sie (Marx) gesellschaftliche Verhältnisse aus? Schon, aber was heißt das? Weiter: Entscheidend, so der späte Wittgenstein, ist der Gebrauch von Wörtern: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“. Aber geht es nur um Worte? In der Wissenschaftsgeschichte spricht Hans-Jörg Rheinberger von einem ‚epistemischen Ding‘. Was ein Gen ist, ist nicht nur durch sprachliche Konventionen/Entwicklungen gesteuert, in seine Definition gehen Laborprozeduren und -materialitäten ein. Selbst der Begriff des Begriffs also wird problematisiert werden müssen. Da sind wir bei der „Außenseite der Begriffe“ (eine gute, aber eben: eine Metapher). Wie sind Sachgeschichte und Begriffsgeschichte miteinander oder gegeneinander verbunden, relationiert? Koselleck geht von einem „dialektischen Verhältnis von Sprache und Realgeschichte aus – die Sprache ist geschichtlich geprägt, und die historischen Prozesse sind sprachlich geprägt“ – oder sie können gar Wirklichkeiten schaffen, siehe das ewige Gerede Trumps vom Wahlbetrug, der für viele Millionen US-Amerikaner Wirklichkeit ist.
Koselleck et al. gingen davon aus, dass die Begriffe, die in den Geschichtlichen Grundbegriffen behandelt wurden, „Grundbegriffe“ seien: „eine bestimmte Klasse von Wörtern, und zwar Wörtern von besonderer Bedeutung in historischer und pragmatischer Hinsicht“. Als Grundbegriff kann ein Begriff dann aufgefasst werden, wenn alle konfligierenden Parteien/Gruppierungen auf ihn angewiesen sind, sich auf ihn beziehen. Allerdings sind die Grundbegriffe von Koselleck et al. Begriffe der Politgeschichte.
Schmieder und Müller notieren zu Recht, dass zum Beispiel das Historische Wörterbuch der Philosophie reine „Terminologiegeschichte“ sei, die kommunikative Funktion, die gesellschaftlichen Verwendungen, kommen nicht in den Blick. Des Weiteren: beide obenerwähnten großen Schlachtschiffe der Begriffsgeschichte seien teils veraltet – oder eben selbst in ihren Auffassungen von Begriffen an bestimmte Begrifflichkeiten und Denkweisen gebunden. Desiderate einer veränderten Begriffsgeschichte könnten also unter anderem, sein: (i) Das Schreiben einer Begriffsgeschichte unter Einbezug von Gegenbegriffen, (ii) Erweiterung und Ergänzung durch Erörterung neuer, für uns relevant gewordener Begriffe wie zum Beispiel: Globalisierung, Nachhaltigkeit, (iii) Begriffsgeschichte verdankt sich einer bestimmten europäischen Denkweise – aber sind Begriffe in der Form, wie wir sie zu verstehen wünschen, für andere Kulturkreise Indikatoren und Faktoren? (iv) Die Ausdifferenzierung von Subsystemen bedingt eine „rasante Vervielfältigung und Vieldeutigkeit der Begriffe“, die in Subsystemen unter Umständen ganz andere semantische Farbenspiele abgeben können. (v) Wie soll man angesichts der Historizität und Ethnozentrizität eine Beobachterposition auf die eigene Art, Begriffsgeschichte zu schreiben, einnehmen? (vi) Und schließlich: gibt es in den archäologischen Tiefenschichten unserer Gesellschaften nicht viel wirkmächtigere Begriffe? Was ist mit der Dichotomie männlich/weiblich – um ein Beispiel zu nennen. Müsste die Begriffsgeschichte sich nicht in Richtung einer – sagen wir – historischen Anthropologie öffnen?
Wenn Begriffe Denkwelten strukturieren, damit Leben, damit Geschichte, wie wäre es dann, wenn wir uns zum Beispiel einen Zipfel des Begriffs „Leiche“ aus dem Handwörterbuch des Aberglaubens schnappen. Die zugehörigen Ergänzungen, von „Leichenbitter“ bis „Leichenzug“, umfassen insgesamt 144 Spalten, also 72 Seiten. Man kann also nicht grade sagen, dass der Begriff „Leiche“ und die Begrifflichkeiten drumherum für Menschen irrelevant gewesen wären:
Noch heute treffen wir vielfach das Gefühl, daß die Leiche heimlich lebe, die Unmöglichkeit, sich den Verstorbenen wirklich tot vorzustellen. Der Tote hört und sieht alles, was bis zum Begräbnis um ihn vorgeht, nur kann er nicht sprechen, der Tote hört noch 3 Stunden oder länger, die Seele löst sich erst nach 2 Stunden oder erst beim Glockengeläute, er geht im Hause um und beobachtet die Trauer der Überlebenden.
Das mag von heute aus als ‚Aberglauben‘ abgetan werden, aber: wer hat nicht schon in Gedanken mit einem nahen Toten gesprochen? Auch diese Auffassungen über die „Leiche“ könnten wirkmächtige Geschichte sein – ein Begriff als Indikator und Faktor.
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