Schwarzes Hamburg – weißes Hamburg

Das weiße Hamburg-Buch bietet einen ungewöhnlichen Blick auf die Mikroräume des Positiven

Von Wolfgang BühlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Bühling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Hammonia, o wie so herrlich stehst Du da!“. Nicht erst in Zeiten von Elbphilharmonie, Musical-Euphorie und immer größer angelegtem Hafengeburtstags-Spektakel versteht man sich in Hamburg auf das Stadtmarketing. Das Bild der Hansestadt war auch in früheren Jahrhunderten positiv besetzt: Weltoffenes Flair, Gewerbefleiß, wohltätige Reeder und Kaufleute prägten die nationale und internationale Rezeption bereits in früheren Jahrhunderten. Einen etwas anderen Blickpunkt  nahmen die Autoren Michele Avantario und Klaus Sieg mit ihrer 2016 erschienenen Publikation Das schwarze Hamburg-Buch ein, in der sie Mord und Totschlag, Sklavenhandel, Terror und Vertreibung sowie alle anderen denkbaren Scheußlichkeiten in der Geschichte der Hansestadt unter ihre historische Lupe nahmen. Es war schon fast zwangsläufig, dass hierzu ein Pendant erscheinen würde, welches nun mit Das weiße Hamburg-Buch aus der Feder des gleichen Autorenteams vorliegt. Allerdings war es nicht deren Absicht, das gute Hamburg mit den allseits bekannten Vorzeigeobjekten wie etwa Laeisz-Halle und Jenisch-Park vorzustellen. In diesem Band werden Mikroräume fokussiert, Unbekanntes ausgegraben und an vergessene Persönlichkeiten erinnert. „Das weiße Hamburg-Buch erzählt von demokratischen Aufbrüchen, glorreichem Aufbegehren, erfolgreicher Gegenkultur, genialen Tüfteleien, sozialem und technischem Fortschritt“, heißt es dazu im Vorwort.

Zum technischen Fortschritt trug nicht zuletzt Alfred Nobel bei, der 1865 auf dem „Krümmel“ genannten Geestabhang an der Elbe bei Geesthacht eine Produktionsstätte für Nitroglycerin errichtete und später das Dynamit erfand. Dass ein Beitrag hierzu in den vorliegenden Hamburg-Titel aufgenommen wurde, ist bei näherem Hinsehen erklärbar. Ab 1868 war Geesthacht bis zum Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 Teil der Hansestadt. Von den Nobelschen Laboren und Produktionsanlagen zeugt heute nur noch ein baufälliger Wasserturm. Was das Kulturelle angeht, wird Matthias Claudius und sein Wandsbecker Bothe gewürdigt und die Rolle dieser – allerdings kurzlebigen – Zeitung bei der Begründung moderner Publizistik im Zeitalter der Aufklärung. Bezüglich volkstümlicher Kultur wird an die „Gebrüder Wolf“ erinnert, gebürtige Hamburger jüdischer Abstammung, welche ursprünglich Isaac hießen und ab 1895 bis zur Machtergreifung in wechselnder Zusammensetzung der Familienmitglieder die Hamburger Volkssängerszene wesentlich prägten.

Geniale Tüfteleien: Ob das Heftpflaster eine originäre Idee des Apothekers Beiersdorf war oder ob hier Vorbilder aus dem späten Mittelalter Pate standen, muss dahin gestellt bleiben. Auf jeden Fall erhielt er 1882 ein Patent auf sein „gestrichenes Pflaster“. Aber auch die Pop-Szene kommt zu ihrem Recht, die Autoren gehen Fragen nach wie: Warum kaufte Jimi Hendrix eine Gitarre in Wandsbek und wie kam Andy Warhol nach Pöseldorf? Auch Kuriosa finden Erwähnung, zum Beispiel die Einführung des Eis am Stiel in Deutschland durch eine Hamburger Firma. Exempel für das im Vorwort genannte „glorreiche Aufbegehren“ sind die Initiative Eppendorfer Mieter für die Rettung eines heute denkmalgeschützten Mietshauses vor dem Abriss durch einen Bauspekulanten und die Besetzung des Schornsteins auf dem mit Dioxin verseuchten Boehringer-Gelände 1981. Letzteres gilt als Initialzündung für die Hamburger Umweltbewegung. Auch andere der hier darlegten positiven Entwicklungen in Hamburg waren nur gegen das Establishment durchzusetzen, wie z. B. die erste „Tempo 30-Zone“ Deutschlands. Die Autoren fokussieren insgesamt nicht zuletzt Themen zu Frauen- und Menschenrecht sowie zur Umweltbewegung und machen keinen Hehl daraus, dass für sie ein gutes Hamburg auch ein „buntes Hamburg“ sein muss.

Abschließend bleibt die Feststellung, dass auch ein weißes Hamburg-Buch durchaus noch schwarze Flecken haben kann. Alfred Nobel erfand auf dem Krümmel nicht allein das nur zu technischen Zwecken taugliche Dynamit, sondern später auch das waffenfähige Ballistit, welches die Kriegstechnik in absolut tödlicher Weise revolutionierte. Apotheker Beiersdorf setzte seinem Leben ein Ende, nachdem er sich mit Bauspekulationen ruiniert hatte. Und der einst gefeierte Volkssänger und Publikumsliebling James Wolf wurde im KZ ermordet.

Der Band ist mit Fotografien von Martin Langer ausgestattet, die jeweils den Ist-Zustand der beschriebenen, als Adressen explizit genannten Schauplätze zeigen. Nach den Luftangriffen des Zweiten Weltkriegs und den Maßnahmen zur „Stadterneuerung“ stößt die Suche nach den originalen historischen Objekten in der heutigen Topographie dabei naturgemäß vielfach ins Leere. Um so wertvoller ist die Beschwörung des genius loci in den hier schlaglichtartig konzipierten Textbeiträgen. Der Rezensent könnte sich vorstellen, dass ein Band II zu diesem Titel folgen wird, denn zweifellos gibt es noch mehr Gutes in der Geschichte Hamburgs, das einer ausdrücklichen Erinnerung wert wäre. Etwa die Stiftung des Israelitischen Krankenhauses durch Salomon Heine 1839, die noch durch das literarische Bonmot garniert werden kann, dass Heinrich Heine eine Lobeshymne auf diese Wohltat seines Onkels dichtete. Oder die Einrichtung des Seemannshauses auf dem Hornwerk über dem Hafentor durch Hamburger Reeder 1863, welches Seeleuten an Land eine preiswerte und gut beleumundete Unterkunft gewährte und eine seriöse Alternative zu dem sonst üblichen Logis bei oft zwielichtigen „Heuerbaasen“ darstellte.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michele Avantario / Klaus Sieg / Martin Langer: Das weiße Hamburg-Buch. Unbekannte Glanzmomente, Heldentaten, Errungenschaften und Erfindungen aus fünf Jahrhunderten.
ConferencePoint Verlag, Hamburg 2018.
168 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783936406597

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