Der Indische Ozean – Verlust, Weg und Zuflucht

Yvonne Adhiambo Owuor erzählt in „Das Meer der Libellen“ von einer starken, eigenwilligen Protagonistin

Von Julia AugartRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Augart

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

The Dragonfly Sea (2019, deutsch: Das Meer der Libellen, 2020) ist nach Yvonne Adhiambo Owuors erfolgreichem Debütroman Dust (2014, deutsch: Der Ort, an dem die Reise endet) der zweite Roman der kenianischen Autorin. 

Er erzählt die Geschichte von Ayaana, die auf der Insel Pate, einer kleinen Insel vor der Küste Kenias, aufwächst. Ayaana, zu Beginn der Geschichte noch jung, aber dennoch bereits erwachsen auftretend, ist auf der Insel als Außenseiterin zu sehen, nicht zuletzt durch den Ruf ihrer Mutter und den fehlenden Vater. Als Vaterfigur erwählt sie den Matrosen Muhidin, der – wie einige andere im Lauf der Geschichte – auf der Insel Zuflucht sucht und zu dem Ayaana durch verbindende Elemente – u.a. das Meer – eine tiefergehende Verbindung hat; sukzessive nimmt Muhidin die Vaterrolle an. Nachdem Ayaana beschließt, nicht mehr zur Schule zu gehen, führt Muhidin sie nicht nur zum Schreiben und der Kalligraphie, der mystischen Lyrik Rabi‘as und Hafiz‘ sowie Bollywood Filmen auf seinem alten Videorecorder hin, sondern bildet sie umfassend aus, sodass sie die Abschlussexamen als eine der Besten beendet. Basierend auf der Geschichte eines vermutlich vor sechshundert Jahren vor Pate gesunkenen Schiffes der Ming Dynastie wird Ayaana als chinesische Nachfahrin und Kulturvermittlerin auserkoren und erhält ein Stipendium der Volksrepublik China. Damit lässt sie nicht nur Pate und Kenia hinter sich, sondern auch Muhidin und ihre Mutter. Auf der Schiffsreise nach China wird sie von einer Mitarbeiterin der chinesischen Botschaft auf ihr zukünftiges Leben in China vorbereitet und lernt Mandarin. Mit dem Kapitän Lai Jin, gezeichnet von Verlusten und Narben, erlebt sie während der Seefahrt ihre erste Liebe. Die folgenden Jahre konzentriert sie sich auf das von ihr gewählte Studium der Meereswissenschaften. Außerdem versucht Ayaana, sich in China einzuleben und einzuordnen. Kurzzeitig bringt eine Affäre mit einem anderen ausländischen Studenten sie in die Türkei und zu seiner Familie – deren Heiratsplänen entflieht sie jedoch, um ihr Studium zu beenden und schließlich nach Pate zurückzukehren. 

Soweit die Eckpunkte von Ayaanas Reise und Coming-of-Age Story, die sich über hunderte von Seiten erstreckt und mittels der biographischen Exkurse verschiedener Figuren durch die Kontinente Afrika, Asien und Europa, das Meer und seine Küsten sowie durch verschiedene Sprachen mäandert. Die teils archaisch anmutende Insel Pate im Nordosten Kenias, ihre arabisch geprägte Kultur und ihre Einwohner, deren Leben und Schaffen meist vom Meer bestimmt wird, stehen am Anfang des Romans, der durch Owuors poetische und bisweilen altmodische Wortwahl und Darstellung besticht. Dass die Insel kein Refugium ist und von globalen Vorfällen nicht verschont bleibt, zeigen weltpolitische Ereignisse wie Terrorismus, Al Qaida oder auch Chinas Vordringen auf dem afrikanischen Kontinent im Allgemeinen und Kenia sowie Pate im Speziellen. Derartige Begebenheiten wirken auf das Leben der Inselbewohner ein und werden von Owuor durch konkrete Verweise auf tatsächliche Ereignisse in die Biografien der Figuren hineingewoben; der Roman hat eine eigene Bewegung – wie die Wellen des Meeres.  

Insbesondere in den Kapiteln, die auf Pate und in Kenia spielen, bietet Owuors detailliertes Wissen einen tiefen Einblick in die ostafrikanische Gesellschaft und Ayaana als Außenseiterin. Die Zeit in China und der Türkei, wenngleich auch umfangreich aus Ayaanas Perspektive beschrieben, bleibt weit zurück – der Leseeindruck gerät zwiespältig. Auf der einen Seite begeistern das intensive Eintauchen in eine andere Welt und ein anderes Leben sowie das Aufwachsen und Erwachsenwerden von Ayaana, ihr Schicksal und das ihrer Familie, was von Verlust, Verlassen werden, Tod und Liebe geprägt ist. Auf der anderen Seite scheinen einige Aspekte der Geschichte konstruiert und übertrieben, in ihrer Länge zu dominant. Für Literaturwissenschaftler*innen eröffnet der Roman dank seiner Metaphorik, bildhaften Sprache und Mehrsprachigkeit wie auch Anspielungen auf verschiedene Texte sowie historische Ereignisse und kulturelle Besonderheiten viele Interpretationsmöglichkeiten und bereichert die Indian Ocean Literature um einen weiteren Beitrag. 

Insgesamt ist Das Meer der Libellen ein faszinierender Roman über Kenia und den Indischen Ozean, der einen Einblick in die oftmals traditionsbewusste Gesellschaft der ostafrikanischen Inselwelt bietet. Mit einigen Längen und „Shortcomings“ verliert der Roman zwar an Fahrt, aber durch Owuors Sprache und Erzählkunst bleibt der Spannungsbogen bis zum Ende erhalten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Yvonne Adhiambo Owuor: Das Meer der Libellen.
Aus dem Englischen von Simone Jakob.
DuMont Buchverlag, Köln 2020.
608 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783832181147

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