Zwischen Freiheitsdrang und gesellschaftlichen Zwängen

Ein Round-Table-Gespräch mit vier jungen Autor*innen

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Junge Schriftsteller*innen haben es in unserer immer digitalisierteren Welt nicht einfach. 2020 war für Debütant*innen aufgrund der Pandemie ein besoners schweres Jahr: Keine Lesungen, wenig Vermarktung und nicht zu vergessen ein medialer Fokus, der fast ausschließlich auf dem Virus und den Auswirkungen der Corona-Krise liegt. Insgesamt also eine schwierige Zeit für junge Menschen, die sich in der eigentlich wunderbaren Situation befinden, ihren Erstling auf dem hart umkämpften Belletristik-Markt platziert zu haben. Diese Erfahrung haben auch die vier Schriftsteller*innen gemacht, mit denen ich mich zum, selbstverständlich digitalen, Round-Table-Gespräch gestroffen habe: Daniel Borgeldt, Leonhard Hieronymi, Leona Stahlmann und Jochen Veit.

Das Beispiel Leonhard Hieronymi zeigt exemplarisch, wie ärgerlich die Situation derzeit ist: Sein Debütroman In zwangloser Gesellschaft erschien bei Hoffmann & Campe, einem der größten deutschen Publikumsverlage. Das Buch wurde unter anderem in der Zeit und in der Welt besprochen, Hieronymi wurde sogar zum Ingeborg-Bachmann-Preis geladen. Doch statt nach Klagenfurt zu fahren, wurde lediglich ein Video des Schriftstellers eingespielt – wie bei den anderen Teilnehmer*innen auch – und die Kritiker durften sich via Live-Schalte äußern. Eine im Großen und Ganzen recht traurige Veranstaltung. Auch Leona Stahlmann hatte ein ereignisreiches Jahr vor sich. Ihr Debüt Der Defekt, das Anfang des Jahres erschien, hatte einen Nerv getroffen, Stahlmann landete sogar gemeinsam mit zwei weiteren Autorinnen auf dem Cover der Sonderausgabe der Zeit zur kurzfristig abgesagten Leipziger Buchmesse, die Lesungen fielen natürlich aus, bzw. verlagerten sich nach und nach zumindest teilweise ins Digitale. Der Debütroman Daniel Borgeldts, der den viel versprechenden Titel Schnulzenroman trägt, erschien kurz vor dem zweiten Lockdown. Von den am Gespräch beteiligten Autor*innen hatte lediglich Jochen Veit das Glück, dass sein Buch Mein Bruder, mein Herz schon über ein Jahr auf dem Markt war.

Die digitale Lesung ist auch ein Format, das ich in diesem Semester in der Mainzer Komparatistik mit einer Reihe debüttierender Autor*innen mit großem Erfolg ausprobiert habe. Aus dieser mehrwöchigen Reihe ist die Idee erwachsen, mit einigen der Teilnehmer*innen ein Round-Table-Gespräch zu führen, in dem wir hauptsächlich über die Gedanken und Gefühle sprechen, die sie im Zuge dieser wichtigen ersten Romanveröffentlichungen hegen – vor allem in diesen schwierigen Zeiten.

 

literaturkritik.de: Sie haben alle vier jüngst Ihren Debütroman veröffentlicht. Wie sind Sie denn zum Schreiben gekommen, und warum sollte es in jedem Fall gleich ein Roman sein? 

Leona Stahlmann: Dass mein Beruf das Schreiben ist, ist primär meinem Freiheitsdrang geschuldet. In keinem anderen Berufsfeld kann ich dem so gut nachgeben wie in der Schriftstellerei. Ich war in hohem Maße unzufrieden mit den Dingen, die ich zuvor gemacht habe, um Geld zu verdienen, und habe gehofft, dass es einen anderen Weg gibt – und dieser Weg war das Manuskript, das in meiner Schublade lag. 

Daniel Borgeldt: Mir ging es ähnlich. Nach dem Studium wollte ich promovieren, hab die Promotion aber abgebrochen. Also musste ich mir einen Job suchen. Ich war auch schon Vater, also musste ich dringend Geld verdienen. Über Umwege bin ich dann zum Lehrer für Deutsch als Zweitsprache geworden. Schreiben lief da nur nebenbei. Ich habe auch ziemlich spät angefangen zu schreiben. Aber tatsächlich war es so, dass ich erst mit dem festen Job dann auch eine feste Schreibroutine gefunden habe, nebenher. Das Thema allerdings hatte ich schon länger im Kopf, und wusste dann auch schnell, dass es ein Thema für den Ventil Verlag ist, den ich ja schon von meinen Beiträgen für deren Zeitschrift testcard kannte. 

literaturkritik.de: Hat sich ihr Schreiben dann tatsächlich aus dem Hauptjob ergeben, oder haben Sie den Job nur angenommen, um Schreiben zu können? 

Borgeldt: Eine Zeit lang war es tatsächlich mein größter Wunsch, Literaturwissenschaftler zu werden, aber das hat nicht funktioniert, ich wollte mich dann doch nicht in diese akademische Tretmühle begeben. Und durch den Lehrerjob hatte ich plötzlich ja auch genug Freizeit, als Lehrer muss man ja tatsächlich nicht den ganzen Tag arbeiten (lacht). Und dann macht man eben das, was einen wirklich interessiert, das Schreiben, aber eben als Nebenjob. 

Leonhard Hieronymi: Ich bin ja an einem Punkt, an dem ich mir manchmal überlege, ob ich mich nicht rückentscheiden sollte. Ist das Schreiben Freiheit? Oder ist es ein Kampf oder ein Krampf? Wie lange reicht das Geld?? Ich habe da ja keinerlei Erfahrungswerte. Nur wenn ich rechne, dann müsste ich dem Verlag ein Buch pro Jahr verkaufen. Oder zwei. Oder noch besser drei. Aber so schnell bin ich nicht. Und plötzlich hat man dann auch zu viel Präsenz auf dem Buchmarkt und wird langweilig. Ich schaue mich derzeit nach Nebenverdiensten um, damit ich eine Balance finde. Versteht mich nicht falsch: Es ist schön zu schreiben. Manchmal ist es aber auch ein wenig peinlich. Ich komme ja aus Oberursel. Wenn ich da durch die Stadt laufe, kommen Leute auf mich zu und begrüßen mich mit den Worten: ‚Ah, der Herr Walser.‘ Ich frage dann: ‚Welchen Walser meinen Sie denn?‘ Und es ist immer der Martin, da weiß man schon, wohin das führt (lacht). Das will man ja auch nicht. Ich habe mich neulich informiert, ob man in meinem Alter noch eine Lehre als Bankangestellter machen kann. 

Jochen Veit: Ich habe ja lange Kurzgeschichten geschrieben, und aus einer dieser Geschichten ist mein erster Roman entstanden. Ich habe auch recht schnell einen Verlag gefunden und konnte das Buch veröffentlichen. Hauptberuflich bin ich Lektor bei einem anderen Verlag, und ich habe vor, weiterhin beides unter einen Hut zu bringen. 

Borgeldt: Ich empfinde das Schreiben wie Leonard Hieronymi auch oft als Quälerei. Es macht nicht unbedingt Spaß, aber es ist ein Bedürfnis, so komisch das klingt. Selbstverwirklichung ist ein seltsames Wort, aber in die Richtung geht es wohl. Das Gute ist natürlich einen Brotjob zu haben und frei da ran gehen zu können. 

literaturkritik.de: Sieht jemand von Ihnen das Schreiben auch als lustvolle Erfahrung? 

Stahlmann: Wenn es eine Quälerei ist, dann ist es doch die angenehmste Form von Quälerei überhaupt. Es gibt doch in jedem Beruf Momente, wo man nicht weiterkommt und daran zu verzweifeln scheint. Insgesamt empfinde ich dabei Genuss. 

Veit: Ich würde das auch nicht als Quälerei bezeichnen. Es gibt immer Momente, da weiß man nicht, was aus dem vorliegenden Text werden soll. Wenn man allerdings den Punkt erreicht, an dem man weiß, dass es wirklich ein Roman wird, ist eigentlich alles gut. 

Hieronymi: Vielleicht ist auch nicht das Schreiben eine Quälerei, sondern die Gedanken, die man sich dabei macht: Wem könnte es gefallen? Gefällt es überhaupt irgendwem? Ist das alles schlecht? Und dann schreibt man eben seine zwei drei Seiten und ist erstmal zufrieden. Dann liest man es am nächsten Tag, und die Gedanken kommen wieder: Nimmt das der Verlag? Ich bräuchte jeden Tag direktes Feedback. Im Grunde genommen, sollte ich jeden Abend das Geschriebene an irgendjemanden schicken, der dann sagt: ‚Das ist ok, mach weiter so!‘ Tatsächlich ist man mit so einem Buch aber immer alleine. 

Stahlmann: Geht es Dir da um den monetären Druck? Oder geht es Dir um die Publikumsliebe? 

Hieronymi: Es geht darum, ob die Idee gut ist und es Leuten gefällt. Eine große Angst, die ich immer habe, ist, ob noch jemand gleichzeitig diese Idee hat und das Buch vielleicht schneller macht als ich. 

Veit: Man schreibt aber normalerweise doch keinem Trendthema hinterher, ich persönlich sehe da keine Gefahr. 

Borgeldt: Ich kann das schon nachvollziehen, was Leonhard sagt. Man schreibt etwas, liest es durch, findet es gut. Dann zeigt man es jemanden, der es auch gut findet. Und trotzdem bleibt immer dieser Restzweifel bestehen, dass das Ganze doch nichts taugt. Ich schreibe ja gerade mein zweites Buch und je länger es wird, desto unsicherer fühle ich mich. 

Stahlmann: Es gibt durchaus einen Run auf bestimmte Themen, ohne dass man sich jetzt zwingend irgendwelchen Trends unterwirft: Diese Themen kreisen eher im kollektiven Bewusstsein, und jeder, der ein Gespür dafür hat, kann sie wahrnehmen. Aber ich kenne diese Paranoia, dass die Idee weg sein könnte, wenn das Buch zwei, drei Jahre später erscheint. Und ich denke auch, dass diese Art von subjektiv empfundenem Druck sich zugespitzt hat. Der Buchmarkt ist viel schneller geworden, man steht immer mehr unter einem Originalitätszwang, der sich inhaltlich begründet statt ästhetisch-formal. Also schreibt man schnell und flächig um ein Sujet herum anstatt sich Gedanken darüber zu machen, was man selbst tatsächlich zu diesem Thema zu sagen hat, wie man es mit seiner eigenen Art zu einem Roman machen kann. Und dann wäre der ‚Diebstahl‘ ja gar nicht mehr gegeben. Man sitzt also auf seinem Thema wie eine brütende Henne und hofft, dass kein anderer kommt. Bei TV-Serien ist es ja noch viel schlimmer heutzutage. 

literaturkritik.de: Aber alle Ihre Romane haben sehr individuelle, originelle Themen. Und ich meine nicht nur die Art, diese zu behandeln, sondern auch die Themen an sich. Da stellt sich mir aber eine andere Frage: Geht es nicht auch um die Art, wie Verlage so ein Thema vermarkten? 

Veit: Naja, das ist irgendwie ein Konflikt, der sich etwa über Klappentexte abspielt. Wenn Du zwei Bücher zum ähnlichen Thema auf der Auslage einer großen Buchhandlung nebeneinanderlegst, was ja oft geschieht, kauft man eher das mit dem ansprechenderen Klappentext. Als Autor muss man sich aber von diesen vertrieblichen Überlegungen freimachen und sich das beim Schreiben nicht immer durch den Kopf gehen lassen. Wobei ich ehrlich sagen muss, dass mir das jetzt beim zweiten Buch deutlich schwerer fällt als beim ersten, bei dem ich noch dachte: ‚Ich kann machen, was ich will und vielleicht veröffentlicht es mal jemand.‘ 

Stahlmann: Unbedingt. Als Debütantin ist man neu in der Szene und wird auch so wahrgenommen, als berichtenswerte Novität. Da ist es egaler, worüber man schreibt. Das zweite Buch ist viel schwerer zu platzieren. Da macht man sich viel mehr Gedanken. 

Borgeldt: Ich habe noch ein ganz anderes Problem beim Schreiben. Ich lese recht viel, und irgendwie verarbeite ich natürlich gelegentlich auch das Gelesene in dem, was ich gerade schreibe, und da habe ich die ständige Angst, dass es jemanden auffällt. Beim Schreiben von Schnulzenroman habe ich sehr viel Kurt Vonnegut gelesen, und in dem Roman ist dann auch unglaublich viel von Vonnegut drin. Und da habe ich schon Angst, dass jemand kommt und sagt, dass es dessen Texten ja doch etwas zu ähnlich sei. Also die Angst, dass der Text ungerechtfertigterweise als Plagiat bezeichnet wird.

literaturkritik.de: Das bringt mich gleich zur nächsten Frage. Sie eint ja die Tatsache, dass Sie alle Vergleichende Literaturwissenschaft studiert haben. Hat Ihnen dieses Studium geholfen oder geschadet? 

Borgeldt: Beides. Natürlich habe ich im Studium sehr viel Literatur kennengelernt, die ich als Autodidakt niemals gefunden hätte. Gleichzeitig lernt man im Studium ja auch kein Creative Writing. Ich hatte sogar das Problem, dass ich das wissenschaftliche Schreiben erst mal loswerden musste.  

Hieronymi: Ich habe mich im Studium jetzt nicht so extrem in ein bestimmtes Thema vertieft. Ich bin eher gesprungen von Thema zu Thema. Man darf sich da auch nicht zu viel beeinflussen lassen, weder von Texten noch von Hochschullehrern. Aber es stimmt, man muss aufpassen, wen man liest! Thomas Bernhard lese ich schon seit Jahren nicht mehr, der ist ganz schlecht für den Stil. Vonnegut ist auch gefährlich. Man sollte nur Autoren lesen, die keinen klaren, eigenen Stil haben. Oder alle zwei Wochen ein komplett unterschiedliches Buch, damit der Kopf immer wieder durchgespült wird. 

Stahlmann: Wenn man Literatur studiert hat und sich dann hinsetzt, um selbst ein Buch zu schreiben, hat man gleich das Damokles-Schwert, ‚Literatur‘ zu produzieren über einem. Und je mehr Literatur man kennt, desto größer wird dieses Schwert. Ich habe Jahre gebraucht, um das abzuschütteln. Ich habe nach dem Studium ja erst mal in der Werbebranche gearbeitet, also das Gegenteil von Literatur gemacht. Da konnte ich mich freiboxen, auch von der Anforderung an mich selbst, literarisch zu schreiben, wenn ich dann schreibe. Das hat sehr geholfen. 

literaturkritik.de: Wie nehmen Sie denn den zeitgenössischen Literaturbetrieb wahr? 

Borgeldt: Das ist sicherlich abhängig davon, bei welchem Verlag man ist. Ich bin ja mit Ventil bei einem eher kleinen Verlag, der normalerweise auch wenig Literatur macht. Und mein Buch ist gerade erst erschienen. Ich fühle mich also nicht als Teil des Betriebs, auch wenn der Betrieb mehr oder weniger brach liegt derzeit. Als mein Manuskript angenommen wurde, hat der Verlag auch gleich gesagt: ‚Bestseller können wir hier nicht produzieren!‘. Das ist immer auch eine Frage der Reichweite. Aber ich kann da eigentlich nicht so viel dazu sagen, da ich auch keinen Kontakt zu anderen Schriftstellern habe, ich bin ja trotz meines fortgeschrittenen Alters ganz neu in dem Geschäft… 

Stahlmann: Die Wahl des Verlags kommt mir manchmal wie eine Mannschaftszuteilung vor: Team Suhrkamp, Team Fischer, usw. Und das Verlagsprofil färbt heute mehr denn je auf den Autorennamen ab und anders herum. Es gibt da fast schon so eine Cross-Marketing-Verbindung zwischen den Verlagen und Autoren, insofern die ‚Marken‘ einen auf- oder auch abwerten. Ich glaube, das war früher nicht so extrem. Eine Entscheidung für einen Verlagswechsel trägt, heute vielleicht noch mehr als früher, durchaus ein politisches Element mit sich. Überhaupt sehe ich die Branche heutzutage als sehr politisiert an. Nehmen Sie doch die Entscheidung von Fischer, Monika Maron vor die Tür zu setzen. Solche Personalien spielen im Moment eine große Rolle, und ich glaube, das wird noch zunehmen. 

literaturkritik.de: Monika Maron ist ja jetzt Kollegin von Leonard Hieronymi bei Hoffmann & Campe… 

Hieronymi: Ich muss da aussetzen, ich weiß nicht, was das alles bedeutet, aber es wird mir immer klarer. Vielleicht war es aber auch schon immer so. 

Veit: Wenn man sich überlegt, dass die Verlage sich heute stärker, etwa durch ihren eigenen Podcast, ihre eigenen Social-Media-Auftritte, als Verlage inszenieren und vermarkten, also auf das Publikum zugehen und versuchen, diesem die Verlagsarbeit an sich näher zu bringen, ist das schon eine sehr interessante Entwicklung. Früher ist das gegenüber dem Leser immer im Verborgenen geschehen. 

Hieronymi: Stimmt. Ich habe zwei Heftchen bei Sukkultur gemacht, meine Familie denkt immer noch, ich wäre bei Reclam, weil die ja bewusst nach den legendären Reclam-Heftchen designt sind. Das ist gut! Denn die meisten blicken bei dieser Verlagsgeschichte tatsächlich nicht durch. 

literaturkritik.de: Haben Sie denn das Gefühl, dass sie vor vielleicht dreißig Jahren mit Ihrem Debütroman, wie bei einigen von Ihnen ja auch bei großen Verlagen, viel mehr im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gestanden hätten? Als Literatur noch eine ganz andere Rolle innerhalb der Gesellschaft gespielt hat? 

Borgeldt: Da muss man wohl noch weiter zurückgehen als dreißig Jahre… 

Stahlmann: Ich kenne auch diese nostalgisch verblendete Rückschau auf Zeiten, wie sie wohl nie gewesen sind. Aber klar, da muss man sich nur bei YouTube die alten Folgen des Literarischen Quartetts mit Marcel Reich-Ranicki anschauen. Da wurde von Literaturkundigen über Literatur gesprochen, nicht wie heute, wo da ein Schauspieler und zwei Starköche sitzen. In der Sendung haben sie Literatur als Teil des sozialen Diskurses gesehen, und man wusste, dieser Diskurs wird am nächsten Tag an anderen Tischen weiter geführt. Die haben an ihre gesellschaftliche Wirkung noch geglaubt, auch unabhängig vom Geld. Die Literatur ist zu bescheiden geworden. Diesen Platz haben jetzt Serien eingenommen. 

literaturkritik.de: Man erinnere sich nur daran, wie in den 90ern Javier Marías Mein Herz so weiß besprochen wurde. Das war ein hochkomplexes Buch eines hierzulande unbekannten spanischen Autors. Und das wird plötzlich zum Millionenseller. Unvorstellbar heute. 

Hieronymi: Die Literatur sollte sich wieder wichtiger nehmen. Aber vielleicht fehlen heute einfach die Figuren. Ich weiß nicht: Das literarische Quartett mit Volker Weidermann? Der sitzt da mit einem Zahnarzt-Polohemd bekleidet. Das ist für mich sehr unattraktiv, ich guck mir das nicht an, mir ist das zu weich. 

Borgeldt: Ich habe mir die neue Version auch mal angeschaut, das kann man sich nicht anschauen, das ist schrecklich und lässt sich überhaupt nicht mit der Reich-Ranicki-Ära vergleichen. Ich fand damals auch Sigrid Löffler immer gut, das war eine richtige Intellektuelle. Es fehlen einfach Figuren, an denen es hängt, die diese Strahlkraft hatten wie Reich-Ranicki, egal, wie man zu ihm stand. 

Veit: Heute macht es ja Thea Dorn als Chefin. Weidermann ist ja auch gar nicht mehr dabei. 

Borgeldt: Neulich war sogar Lisa Eckhardt eingeladen. Aber über die möchte ich jetzt nicht reden. Alles, was ich über sie weiß, finde ich einfach völlig uninteressant. 

literaturkritik.de: Zeigt aber nicht gerade so eine Figur wie Lisa Eckhardt ein weiteres Symptom des aktuellen Buchmarkts. Die war ja nicht umsonst in der Sendung, sie hatte zu dem Zeitpunkt letzten Herbst ja selbst gerade einen Roman veröffentlicht. Ich habe ehrlich gesagt immer mehr den Eindruck, dass der Buchmarkt mehr und mehr von Romanen von Prominenten zugekleistert wird. Wie sieht man das als ‚normale‘ Autor*in? 

Veit: Allein aus diesem Vorurteil heraus würde ich niemals einen Roman von einem Tatort-Kommissar lesen (lacht)… 

Hieronymi: Mir hat neulich jemand aus der Verlagsbranche erzählt, dass wenn das Buch eines ‚Prominenten‘ präsentiert wird, erstmal die Follower-Zahlen genannt werden und erst danach geht es um das Thema des Buches. 

literaturkritik.de: Wenn es Sachbücher, Ratgeber oder Autobiographien sind, ist das ja ok. Aber müssen es immer öfter Romane sein? 

Borgeldt: Ich habe mal auf Deutschlandfunk eine Sendung zum Einfluss von Social Media auf Verkaufszahlen gehört. Und die Autoren, die sie vorgestellt haben, waren schon vorher irgendwie berühmt aufgrund dieser Kanäle. Und da sich schon sehr viele Follower hatten, sind die Bücher auch Bestseller geworden. Ich denke das funktioniert ziemlich breitflächig und die Sachen verkaufen sich gut. Mich interessiert das aber einfach viel zu wenig, um mich damit auseinanderzusetzen. 

Hieronymi: Wenn die Verlage allerdings dadurch so viel Geld einnehmen, um sich dann andere Autoren leisten zu können, die vielleicht nur 2.000 bis 3.000 Exemplare verkaufen, dann finde ich es vollkommen ok, wenn sie sich auf solche Titel konzentrieren. 

Borgeldt: Das stimmt auch wieder. Auch Ventil bestreitet ja einen Großteil der Verkäufe mit veganen Kochbüchern, und die stecken das Geld dann in Bücher wie meinen Roman. 

literaturkritik.de: Ich möchte nochmal auf das Schreiben an sich zurückkommen. Man hört ja oft, dass man als Autor den ersten Roman ein Leben lang in sich hat, beim zweiten dann aber Schwierigkeiten bekommt, etwa ein neues Thema zu finden. Sie schreiben alle gerade an einem zweiten Roman. Wie ergeht es Ihnen dabei?

Stahlmann: Es ist leichter, finde ich. Auch bei mir was es so, dass ich eine Art ‚Lebensthema‘ hatte, das sich über 30 Jahre angesammelt hat und das ich dann so weggeschrieben habe. Wobei ich nochmal feststellen möchte, dass mein Roman Der Defekt keine Autofiktion ist, wie oft vermutet wird. Jetzt habe ich plötzlich die Auswahl zwischen allen Themen der Welt. Ich muss nicht mehr von mir ausgehen, sondern nur noch von meiner Wahrnehmung. Und das hat mich total befreit. Mein Schreiben ist jetzt viel leichter geworden als es beim Debüt gewesen ist, weil ich nicht mehr das Gefühl habe, dass ich mir schuldig bin, etwas Bestimmtes zu erzählen, jetzt darf ich einfach fabulieren.

Borgeldt: Mir fällt das nicht so leicht. Ich bin da sehr sprunghaft geworden. Ich habe jetzt drei verschiedene Themen, die ich angefangen habe, wobei eines davon im Schreibprozess am weitesten ist. Es ist gut, weil man was in der Hinterhand hat, andererseits schwierig, weil man dann doch immer wieder zum anderen Thema will.

Veit: Ich fand es auch schwierig am Anfang, ich musste reinkommen, aber jetzt geht es.

Hieronymi: Bei mir ist es auch schwierig. Aber es war immer schwierig und wird wohl auch schwierig bleiben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es im Alter besser wird. Wobei ich ja sagen muss, dass ich mit Ultraromantik ja davor schon ein Buch geschrieben habe, aber das war ja kein Roman. Auf In zwangloser Gesellschaft steht zwar Roman drauf, aber es ist immer noch kein Roman, wenn man ehrlich ist. Ich stell mir da schon die Frage, was für eine Gattung ich ausprobieren soll: Vielleicht eine Fabel? Ein Gedicht? Ein Sachbuch? Aber letztlich ist das das Schöne. Man kann ja eigentlich alles machen.

Titelbild

Leona Stahlmann: Der Defekt.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2020.
271 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958217

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Titelbild

Jochen Veit: Mein Bruder, mein Herz.
Arche Verlag, Hamburg 2019.
187 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783716027776

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Titelbild

Daniel Borgeldt: Schnulzenroman. Oder.
Ventil Verlag, Mainz 2020.
300 Seiten , 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783955751357

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Titelbild

Leonhard Hieronymi: In zwangloser Gesellschaft.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020.
240 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455009552

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