Der Chronist als Cineast

„Licht und Schatten“: Victor Klemperers Kinotagebücher 1929–1945

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als „Traumhäuser des Kollektivs“ hatte einst Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk (1927–1940) bestimmte Stadttopographien des 19. Jahrhunderts beschrieben. Im beginnenden 20. Jahrhundert waren es vor allem die Kinos der Großstädte, die den kollektiven Träumen des Publikums einen Rückzugsraum boten, aus dem im Laufe von gut einhundert Jahren Filmgeschichte eine Art kollektives Gedächtnis wurde. Heute, im Zeichen der weltweiten Corona-Pandemie, gehören die leerstehenden Lichtspielhäuser zu den einsamsten Orten der Welt. An die Kinokultur in kulturfernen Zeiten erinnert und gemahnt nun eine neue Publikation des Aufbau-Verlags.

Schon als Victor Klemperer (1881–1960) 1905 in Berlin lebte, suchte er die Ablenkung vom Alltag in den Kinos der Großstadt. Später, in Dresden, wo er von 1920 an als Professor für Romanistik wirkte, setzte er seine Filmleidenschaft fort, bis er nach Inkrafttreten der Reichsbürgergesetze von den Nationalsozialisten in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Über die gesehenen Filme führte er fortlaufend Buch, wie auch über seine Beobachtungen und Analysen in der Zeit der Weimarer Republik, den Jahren im Nationalsozialismus und in der DDR. In seinen Tagebüchern aus vier Jahrzehnten vermittelt Klemperer anschaulich, was es bedeutete, in drei Regimen zu leben. Bekannt sind vor allem die beiden Bände, die der Aufbau-Verlag unter dem Titel Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten veröffentlicht hat. Dieser Bestseller steht in den öffentlichen Bibliotheken, Auszüge daraus sind mittlerweile Schullektüre und Millionen Menschen haben die TV-Serie Klemperer – Ein Leben in Deutschland gesehen.

Es war zuerst Uwe Nösner, ein Literaturredakteur der Dresdner Zeitung Die Union, der sich von 1987 an fast täglich in der Sächsischen Landesbibliothek mit den Originalschriften Klemperers – rund 16000 aufs Engste beschriebenen Seiten – beschäftigte. Nösner fühlte sich von dem, was Klemperer über die Beeinflussung der Massen schrieb, an die Methoden der DDR erinnert, und von Mai 1987 an veröffentlichte er unter dem Titel Alltag einer Diktatur 80 Tagebuchauszüge der Jahre 1936 bis 1940. Acht Jahre nach Nösners Zeitungspublikation hat Walter Nowojski die Tagebücher im Berliner Aufbau-Verlag veröffentlicht, wie schon Nösner unter Mithilfe von Hadwig Klemperer, der Witwe des großen Wissenschaftlers und Zeitzeugen. Nowojski, zunächst Chefdramaturg beim DDR-Rundfunk und danach Leiter der Dramatischen Kunst des DDR-Fernsehens, wurde 1975 Chefredakteur der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur im Aufbau-Verlag; dort hatte er schon 1985 zwei Auszüge aus Klemperers Tagebüchern veröffentlicht. Die große Buchedition brachte dem Verlag viel Geld ein, 1996 erwarb Random House die Rechte für die USA und zahlte dafür eine halbe Million Dollar – die bis dahin höchste Lizenzsumme für ein deutsches Buch in Amerika.

An dieser bahnbrechenden Edition war auch der Berliner Filmwissenschaftler Christian Löser, nun Mitherausgeber der vorliegenden Kinotagebücher, beteiligt. Aber schon damals war klar, dass auch die Neubearbeitung der Tagebücher im Jahr 1995, aus Anlass des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges, das hinterlassene Konvolut Klemperers nicht vollständig abbilden würde. Es umfasst über 5.000 Manuskriptseiten, die in der Druckausgabe nur gekürzt erscheinen konnten. Es war Löser, der sich deshalb für das – inzwischen verwirklichte – Projekt einer ungekürzten digitalen Gesamtausgabe einsetzte, wofür auch noch die restlichen Texte Klemperers erfasst werden mussten. Zusammen mit der Lektorin des Aufbau-Verlags Nele Holdack verantwortet Löser die nun vorliegende Separatausgabe, die einige schmerzhafte Lücken der früheren Druckvarianten füllt: für das Kinotagebuch 1929–1945 – so der Untertitel – wurden die Filmnotate Klemperers neu ediert. Rund 100 dieser Tagebucheinträge werden nun zum ersten Mal abgedruckt und in einem detaillierten Filmregister kommentiert – andere waren schon in den bereits publizierten Tagebüchern enthalten, wenn auch teilweise gekürzt.

Der beigefügte Bildteil wurde aus diversen Verlagsarchiven zusammengestellt und illustriert einige der 142 Filmschätze, die Klemperer in seinen Tagebüchern besprochen hat: vom Untergang der Titanic in der britischen Filmproduktion Atlantik (1929), über das „Allererschütterndste der letzten Tage, als Kunstwerk, Dokument u. Erinnerung“ (Klemperer am 26./27. Juli 1931), den Film Im Westen nichts Neues (1930); den Film Der blaue Engel aus dem gleichen Jahr; weitere Abbildungen stammen vom „sehr natürlich gesprochen[en]“ (20. März 1933) Film Menschen im Hotel; dem Film Broadway-Melodie (1936) – „Ein ganz und gar amerikanischer Film, durchweg Stepptanz und negroide Musik, entzückend.“ (16. Mai 1936); von Spiegel des Lebens (1938) mit Attila Hörbiger und „Paula Wessely, diesmal als Medizinstudentin, sehr gut wie immer.“ (2. Oktober 1938); auch noch von Die vier Gesellen (1938) mit Ingrid Bergmann, einer der „letzten Filme, die wir noch sehen DURFTEN“ (6. Dezember 1938) und Wen die Götter lieben (1942), dem ersten Film, den das Ehepaar Klemperer seit 1938 wieder vollständig sehen konnte: „Nach Inhalt u. Schauspielkunst mittelgut, j’en ai vu d’autres …“ (1./2. April 1945).

Solche und viele andere – zustimmende bis ablehnende – Urteile über Filme aus der Zeit des Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm sind in dem neuen Band enthalten, beginnend mit einer Notiz am 9. Juni 1929 und endend mit einer Schilderung vom April 1945, nach den durchlebten Luftangriffen auf Dresden und dem Entkommen vor der Deportation durch die Nationalsozialisten. Klemperer hatte sich kurz vor Kriegsende über das Betretungsverbot von Kinosälen hinweggesetzt.

Der bekennende Cineast verstand sich anfangs noch als überzeugter Verfechter der alten Stummfilmkinematographie, hatte sich aber – trotz oder gerade wegen der Instrumentalisierung des Tonfilms in der Propaganda des „Dritten Reichs“ – zu einem Enthusiasten des Tonfilms entwickelt. In seinen nun veröffentlichten Filmbesprechungen liefert er eine zwar nicht vollständige, aber umso authentischere Kinogeschichte jener Jahre, und zwar aus dem unmittelbaren Erleben eines hochgebildeten Chronisten. Es handelt sich um ein eindringliches Plädoyer für die Bedeutung der Kultur in kulturfeindlichen Zeiten, wie es in der editorischen Notiz der beiden Herausgeber heißt.

In seinen Aufzeichnungen spart Klemperer auch nicht die durchlittenen Tonbildschauen zu Beginn der jeweiligen Hauptfilme aus, deren schneidige Kommentare der Romanist später als Teil der Sprache des Dritten Reichs, als „LTI“ (Lingua Tertii Imperii) so treffend analysiert hat. Aber auch in die Kinofilmproduktionen schlich sich die Ideologie des Nationalsozialismus ein und boten genügend Anschauungsmaterial, das Klemperer als Manipulierung, Brutalisierung und Entmenschlichung noch unter dem Deckmantel privater Notate entlarven konnte – von den Tagen zunehmender privater Bedrängnis legt das Kinotagebuch ein beredtes Zeugnis ab.

Die nun ausgefüllten Lücken der früheren Tagebücher verdeutlichen den heutigen Leserinnen und Lesern aber auch, dass Klemperer nicht in bildungsbürgerlichen Dünkeln befangen war, sondern auch schon 1929, in Zeiten der sich abzeichnenden gesellschaftlichen Krise, den Unterhaltungswert des Kinos zu schätzen wusste, auch wenn er in seinen Notaten nicht mit bissigen Bemerkungen sparte: Die ersten Tonfilme bezeichnete er als »künstliche[n] Theaterersatz« (9. Juni 1929), als totes „Panoptikum“, „Mist“ und „Nonsens“, einen Film mit Greta Garbo als „Rührstück alter Art“; zum Film Heut’ war ich bei Frida notierte er: „zu dem bekannten Schlager ein üblichster erotischer Irrungsschwank französischer Machart“. Der Hund von Baskerville sei „[e]in schlechter Kriminalfilm, Schauspielerisch nicht gut, nicht böse, gar nichts“ , Manolescu „als Stück eigentlich auch nur abgeleierter Kitsch“ – und so fort. Aus dieser frühen Zeit ragt für ihn nur der Film Frau im Mond heraus, gedreht von Fritz Lang nach dem Drehbuch seiner Frau, der viel beschäftigten Autorin Thea von Harbou: „Der große Jules-Verne-Film dieser Gegenwart: Raketenflug zum Monde. Technisch ungemein packend dargestellt […] Es ist ein Stück Zeitsehnsucht darin.“ In den 30er Jahren setzt sich seine bissige Kritik fort:

Am 1.7. [1931] wagten wir uns in einen Tonfilm, eine Operette Die drei von der Tankstelle. Schlecht u. ganz schlecht […]. Der übliche Operettenblödsinn […] von der Bühne auf die Leinwand transportiert, mit viel Tanz, langen Couplets, schlechten Stimmen u. ganz hübscher Musik. (12. Juli, Sonntag Morgen gegen 7 Uhr).

In Erich Maria Remarques Film Im Westen nichts Neues kann er sich dann doch mit dem Tonfilm anfreunden, denn dort wird „das mechanische Arbeiten des Maschinengewehrs für sich, der Mordmaschine“ beschrieben (25. und 26. Juli, Sonnabend ½ 7 abends u. Sonntag Vorm., Dresden). Auch die Notizen zum Blauen Engel offenbaren: „[…] Marlene Dietrich fast noch besser als Jannings. Diese selbstverständliche Tönung, nicht gemein, nicht schlecht, nicht sentimental – unbewusst menschlich u. verkommen. Hier gab mir der Tonfilm viel. Der Klang dieses Organs.“ (10. Juni 1932). Beginnend mit dem Jahr 1933 schleichen sich dann die ersten resignativen Töne in das Filmtagebuch ein:

Ist es die alte Suggestion der ungeheuren Propaganda – Film, Radio, Zeitungen, Flaggen, immer neue Feste (heute der Volksfeiertag, Adolfs des Führers Geburtstag)? Oder ist es die zitternde Sklavenangst ringsum? Ich glaube jetzt fast, dass ich das Ende dieser Tyrannei nicht mehr erlebe. (20. April, Donnerstag Abend).

Das Tagebuch verzeichnet die schleichende ideologische Inbesitznahme des neuen deutschen Films durch die Machthaber: „Zweimal im Kino. Der Kongreß tanzt – eine (wiederaufgenommene) allzu nichtige Nichtigkeit. Die Aufmachung hübsch. Der alte Staatsapparat…“ (30. Juni, Freitag Morgen). Notgedrungen erlebt er auch die Zeitgeschichte im neuen Medium: „Diesmal der Nürnberger Parteitag der NSDAP. Welche Massenregie u. welche Hysterie!“ (19. September, Dienstag Abend).

Nach dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 – Klemperer war bereits seines Postens enthoben, durch das Bibliotheksverbot am wissenschaftlichen Arbeiten gehindert und schließlich auch aus den Kinos verbannt – macht er sich bei seinen Notizen zur „LTI“ sein Wissen aus Literatur, aber auch aus dem Kino zunutze:

Noch einmal kam mir das Empfinden Kino und dazu die Erinnerung an zahllose Bilder, komische und tragische des Gefangenen in seiner Zelle. Dann überwältigte mich die trostlose Neuigkeit des Ganzen, die triviale Erkenntnis […], dass wir gar nichts wissen außerhalb des unmittelbar selbst Erlebten.

Kino und Literatur boten ihm auch in der Isolation ein Orientierungsvermögen. Noch vor der Kapitulation am 8. Mai saß Klemperer dann doch wieder im Kinosessel:

Was mit am Kino am besten gefallen hat, waren meine Augen. Keine Spur der Lähmung, eines Doppelsehens mehr. Leider habe ich keine Möglichkeit, nachzuprüfen, ob ich auch normal zweiäugig lesen u. schreiben kann, denn ich besitze nur noch die eine Brille mit dem mattierten linken Glas; aber bestimmt und seelenruhig könnte ich wieder am Lenkrad des Autos sitzen. Es ist nur mit den Augen wie mit dem Hut: der dazugehörige Kopf muss erhalten bleiben. – (2. April, Ostermontag früh).

Es bleibt also festzustellen: Von den frühesten Kinobesuchen an bis in die letzten bitteren Stunden des Krieges hinein bleibt Klemperer ein begeisterter Kinogänger und selbstkritischer Beobachter. Auch wenn das von ihm vermerkte Kinoangebot bis auf Weniges heute vergessen ist, erweisen sich seine Notate als Spiegel der Zeit, also auch als Ausdruck verborgener Wünsche und Sehnsüchte – siehe das Beispiel des Science-Fiction-Klassikers Frau im Mond. Wie der Filmkritiker Knut Elstermann in seinem Vorwort bescheinigt, zeigt das vorgelegte Kinotagebuch 1929-1945 Klemperer in seinem unbestechlichen Urteil,

er fordert auch von den Unterhaltungsfilmen beste Qualität und lässt den Schauspielern nichts durchgehen, keine Ungenauigkeit, keine Schludrigkeit. Die Präzision seiner Beobachtungen und Schilderungen ist für einen professionellen Filmjournalisten neiderregend, allein wie er mit wenigen Sätzen die Handlung, das Sujet eines Films anschaulich umreißen kann, erzeugt bei mir höchsten Respekt.

Dem kann sich der Rezensent nur anschließen. Zu der rundweg gelungenen Publikation tragen neben dem kenntnisreichen Vorwort auch die detaillierten Anmerkungen der beiden Herausgeber bei, die das Zeittypische und heute nicht mehr Gegenwärtige der Aufzeichnungen erläutern, genauso wie die hilfreichen Einführungen zu den drei historischen Abschnitten und der Neugliederung von Klemperers Tagebüchern: 1929-1932, 1933-1938 und 1939-1945. Ein Namens- und Sachregister fehlt allerdings, was aber bei dem nicht allzu großen Umfang des Buches nicht so schmerzlich ins Gewicht fällt wie noch bei den eng bedruckten, annähernd 1600 Seiten der beiden zuvor veröffentlichten Tagebücher.

Dafür entschädigt die Leser ein im Anhang abgedruckter Aufsatz Klemperers, der 1912 unter dem Titel Das Lichtspiel in Velhagen & Klasings Monatsheften erschienen war. Es handelt sich dabei um ein auch heute noch sehr lesenswertes Porträt der damaligen Berliner Kinolandschaft – Klemperer nennt sie „Kinotopographie“. Dieser Text vermag auch die Titelgebung Licht und Schatten zu erklären: Es geht nicht nur um das Flimmern in den Kinos der Stummfilmzeit, jenen erregenden Momenten zwischen Dunkelheit und dem Licht der Projektion, sondern es geht vor allem um die Ästhetik des Mediums Film; im Falle Klemperers, wie die Lektüre der vorangegangenen Aufzeichnungen nicht nur zwischen den Zeilen zeigt, auch um eine Lebensphilosophie:

Jetzt erweist es sich, ein wie glücklicher Sprachgriff die Bezeichnung Lichtspiel ist; denn wirklich, hier handelt es sich um ein freudiges Spielen mit den Erscheinungen des Lebens: die anmutige Unerschöpflichkeit seiner Formen gleitet vorüber, all seine Beschwerde bleibt zurück.

Titelbild

Victor Klemperer: Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929–1945.
Aufbau Verlag, Berlin 2020.
363 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783351038328

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