Das Fortwirken des Unbedingten

Dirk von Petersdorff erklärt einführend die „Romantik“ und ihre Wirkungen bis in die Gegenwart

Von Manuel ZinkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Zink

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unbehagen machte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Jena breit, als ein kleiner Kreis von Avantgardisten die Morgenröte eines neuen Zeitalters ausrief. Von Transzendentalpoesie war die Rede, von der Macht der Phantasie oder der intellektuellen Erfahrung unverständlicher Worte. Kein Wunder, dass solches Gebaren auf Unverständnis stieß. Hatte man sich doch erst mühsam ein sicheres Wissensfundament erarbeitet, um von diesem aus die Welt erschließen und verstehen zu können. Und was die Kunst betrifft: Altbewährtes Regelwerk schien nach wie vor bestens dazu geeignet, das bürgerliche Publikum zu einem aufgeklärten Habitus heranzubilden. Dass sich nun eine zum Teil respektlose Schar selbsternannter Genies erdreistete, dieses über Jahrhunderte gewachsene Gelehrtengebäude einzureißen, erschien vielen Zeitgenossen unangemessen, ja geradezu verstörend. Man muss bedenken: Einerseits waren die Forderungen der jungen Romantik äußerst provokant verbreitet worden. Teilweise empörten sie ihre Antipoden mit persönlichen Beleidigungen. So wurde durchaus mit harten Bandagen ein Literaturkrieg ausgefochten, der als „Ästhetische Prügelei“ in die Geschichte eingegangen ist. Andererseits stießen die künstlerischen Angriffe der Romantiker – vor allem auf die massenhaft produzierte Unterhaltungsliteratur – nicht nur auf taube Ohren. Im Gegenteil trafen sie mitten ins Herz einer stagnierenden Gelehrtenöffentlichkeit, die nicht mehr in der Lage war, den gesellschaftlichen Veränderungen detailliert nachzuspüren. Kurz: Der Kreis der jungen Romantik erschütterte die alten Damen und Herren der Spätaufklärung bis ins Mark.

Was genau die Romantiker anders machten, das erklärt Dirk von Petersdorff in seiner äußerst lesbaren und instruktiven Einführung in die historische Periode der romantischen Bewegung, die – das ist das zentrale Anliegen des Buches – im 19. Jahrhundert nicht die Segel strich und aus der Geschichte völlig verschwand, sondern die bis in die Gegenwart hinein fortgelebt und fortgewirkt hat.

„Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.“ Dieses erste Blüthenstaub-Fragment von Novalis dient von Petersdorff als Leitmotiv von dem ausgehend er die wichtigsten Stationen der romantischen Bewegung aufzeigt. Zugespitzt formuliert lautet das Problem: Wie lässt sich der Spagat zwischen den Dingen um uns herum und dem Unbedingten, dem Höchsten, Absoluten fassen? Und wie lässt sich die Spannung zwischen diesen beiden Polen auf Dauer aushalten? Die Romantiker finden unterschiedliche Antworten auf diese Fragen. Novalis, für dessen Gedankenwelt sich von Petersdorff besonders interessiert, fordert etwa, dass die Erfahrung von Grenzüberschreitungen außerordentlich wichtig sei. Das, was in der Natur schlechterdings nicht anzutreffen sei, könne über Umwege erfahrbar gemacht werden. Zwar sei klar, jedenfalls für Novalis, dass das Unbedingte grundsätzlich nicht zu finden sei, aber in der Kunst lasse es sich doch zeigen.

Von Petersdorff erkennt allerdings nicht nur in Novalis’ Fragmenten die zündende Idee der Romantik. Auch die Lebensführung der Beteiligten, etwa das Zusammenkommen in Wohngemeinschaften oder die skandalösen Liebesbeziehungen, zeige, dass die Romantiker – im Vergleich zum Konservativismus der Zeitgenossen – moderne Ansichten vertraten. Von Petersdorff orientiert sich vor diesem Hintergrund an den drei zentralen Orten, die für gewöhnlich herangezogen werden, wenn es um eine Einordnung der Romantik als historische Periode geht, nämlich Berlin, Jena und Heidelberg. Anschaulich werden die Auffassungen der jeweiligen Protagonisten nachgezeichnet. Ausgehend von Novalis’ Fragmenten flaniert von Petersdorff zu Texten von Friedrich Schlegel, Joseph von Eichendorff, Clemens Brentano, Ludwig Tieck, Karoline von Günderrode, E.T.A. Hoffmann, August Klingemann, Heinrich Heine, Annette von Droste-Hülshoff und anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Wie Perlen auf einer Schnur kommen so unterschiedliche Facetten des romantischen Denkens zur Geltung, darunter vornehmlich das „Romantisieren“ der Lebenswelt, der Einsatz der Ironie, die romantische Politik, die romantische Liebe sowie die dunkle Seite der Romantik, die vor allem unter dem Begriff „Schwarze Romantik“ bekannt geworden ist.

Zwar wird der Ausklang der historischen Romantik in Übereinstimmung mit der Forschung auf 1830/1850 datiert, von Petersdorff bleibt hier jedoch nicht stehen. Jeder der genannten Aspekte erhält ein modernes Pendant. Exemplarisch wird an Texten Thomas Manns, Christa Wolfs, Peter Handkes, Rolf Dieter Brinkmanns, Hans Magnus Enzensbergers und Wolfgang Herrndorfs das „Fortwirken romantischer Impulse“ illustriert. Maik und Tschick etwa aus Herrndorfs bekanntem Roman begeben sich wie Eichendorffs Taugenichts auf eine Reise ohne Ziel. Einmal liegen sie in ihren Schlafsäcken auf einer Anhöhe, starren in den bestirnten Himmel und philosophieren darüber, „ob noch etwas außerhalb der uns bekannten Welt existiere.“ Von Petersdorff zufolge werde diese Frage absichtlich offengelassen; – ein Kniefall vor dem Unbedingten, der sich so als Neuakzentuierung der Romantik lesen lasse oder – anders gewendet – als ein intensiviertes Freiheitsempfinden.

Dieses Fortwirken des Unbedingten findet von Petersdorff auch in anderen Künsten. Unter dem Stichwort „Aussicht ins Unendliche“ werden bekannte Gemälde Caspar David Friedrichs und Philipp Otto Runges betrachtet. Friedrichs Frau am Meer beispielsweise zeigt mehrere Segelschiffe, deren Maste wie eine Hyperbel angeordnet sind, also wie eine mathematische Kurve, die auf eine unendliche Ausdehnung verweist. Dieser Blick auf das Unbedingte, das niemals sichtbar werde und sich immer nur erahnen lasse, hat Friedrich auch auf seinem Gemälde Frau am Fenster festgehalten, bei dem die Betrachter nicht sehen, was jene Frau am Fenster sieht, weil sie mit ihrem Kopf die Aussicht verdeckt. Bildmotive wie diese hat auch der Hollywood-Film des 20. Jahrhunderts produziert. So schöpfe Regisseur James Cameron in der bekannten Szene in Titanic, in der Rose (Kate Winslet) gemeinsam mit Jack (Leonardo DiCaprio) auf die Reling am Bug des Dampfers steigt, aus dem Bilderreservoir der Romantik. Roses Ausruf „I’m flying“ aktiviere die gleichen Raster wie Herrndorfs Tschick. Die „Übergangssituation des frühen Morgens, der Blick in die Weite sowie die Imagination einer Befreiung von der Schwerkraft“ schaffe eine besondere Situation. In dieser spanne die romantische Seele – man denke an Eichendorffs Gedicht Mondnacht – erneut ihre Flügel aus und befreie sich, wenn auch nur für einen Augenblick, von den Zwängen des Alltags.

Von Petersdorff macht zudem deutlich, dass die Romantik eine europäische Bewegung gewesen ist und dass ihre Spuren daher auch in unterschiedlichen Kulturen zu finden sind. Aus diesem Grund wendet er seinen Blick immer wieder zur englischsprachigen Literatur. Äußerst aufschlussreich sind seine Darstellungen zu Elizabeth Barett Browning, William Wordsworth, Edgar Allan Poe, Richard Rorty und Bob Dylan. Im Kapitel über das „Romantisieren“ finden sich zum Beispiel erhellende Erklärungen zu Versen von Wordsworths Sonett Composed upon Westminster Bridge. Wie in den Texten der deutschen Romantik komme auch in diesem Gedicht der Moment zur Sprache, „in dem das Leben von Zwängen und Funktionen befreit ist.“

Von der Schattenseite der Romantik erzählt von Petersdorff ebenfalls aus unterschiedlichen Perspektiven. E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke, Edgar Allan Poes Schauergeschichten, Ludwig Tiecks Erzählung Der Runenberg und August Klingemanns Nachtwachen werden in diesem Zusammenhang angeführt. In ihnen werden die Gefahren gleichsam lebendig, die mit der Sehnsucht nach dem Unbedingten einhergehen: vom eigenwilligen Hang zum Phantastischen und zum Wahnsinn bis zum Verlust der Subjektivität. In ganz anderer Manier schwanken auch hier die Figuren zwischen dem Unbedingten und den Dingen, die sie umgeben. Vor dem Hintergrund der politischen Ambitionen der Romantiker wird auch ein Blick auf die Deutsche Tischgesellschaft in Berlin geworfen, zu der Adam Müller, Achim von Arnim und Clemens Brentano gehörten. In ihren ganz unironischen Äußerungen bemühen diese Autoren zahlreiche antisemitische Klischees, um Juden zu verunglimpfen. Von Petersdorff führt diese Ab- und Irrwege zurück auf die Anlage der romantischen Politikbildung: Wenn eine Gesellschaft über die Gesinnung integriert werden soll, „dann gehen solche engen und anspruchsvollen Einschließungen fast notwendig mit Ausschließungen einher.“

Sein schlaglichtartiger Streifzug führt von Petersdorff noch zur Musik, wenngleich dieser Teil der Romantik von ihm eher stiefmütterlich behandelt wird. So werden die großen Kompositionen Richard Wagners ausgespart, dafür kommen aber Ed Sheeran und Tocotronic zu Wort. Auch sie würden auf den Fundus romantischer Formen, Stoffe und Motive zurückgreifen und damit für Verjüngungen sorgen. Der Song Electric Guitar verweise etwa auf den romantischen Sänger, der nichts Unbedingtes kenne, aber danach frage und damit seine Sehnsucht und die Suche nach dem Unbedingten zum Ausdruck bringe. 

Von Petersdorff gelingt es mit einer intelligenten Erzählweise, zentrale Themen der historischen Periode der Romantik abzustecken und verständlich zu machen. Die Lektüre lässt uns Leserinnen und Leser mit dem Gefühl zurück, sowohl stichhaltige Fakten als auch kluge Bonmots zur Romantik, ihren Protagonisten und ihren Nachwirkungen eingeholt zu haben. Dazu ist der Text gespickt mit geistreichen Verbindungslinien. Von Petersdorff nimmt seine Leserschaft nicht auf neue, unbetretene Pfade mit. Ihm geht es vielmehr darum, die Denkbewegungen aufzuzeigen, die vom Kreis der jungen Romantiker in Berlin und Jena ausgegangen sind, denn – so heißt es einleitend – genauer gesagt handle es sich bei der Romantik gar nicht um eine Epoche, sondern um eine Bewegung, um eine Richtung oder Strömung. Grenzen, seien es nun räumliche oder zeitliche, hätten sich die Romantiker selbst wohl nicht gesetzt. Dieses Verständnis passt gut zu jenem Denker, der ebenso häufig wie Novalis zitiert wird: Heinrich Heine. Kaum ein anderer Name mag so treffend für die Dynamik romantischer Grenzüberschreitungen stehen. In dieser Weise macht von Petersdorff seinen Anspruch deutlich, nicht nur einen Überblick samt Personenregister liefern zu wollen. Mit seiner Einführung ermutigt er sowohl die Expertenwelt als auch Interessierte, die mit der Romantik weniger vertraut sind, über die Grenzen des Bekannten hinauszugehen. Anregungen für solche Reisen ins Blaue hinein liefert das Buch allemal genug.

Titelbild

Dirk von Petersdorff: Romantik. Eine Einführung.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2020.
162 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783465043942

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