Sein Heim war unheimlich

Über Thomas Bernhard, ein Jahr nach seinem Tod (1990)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Beitrag ist einer zum 90. Geburtstag von Thomas Bernhard erscheinenden und unseren Online-Abonnenten frei zugänglichen Sonderausgabe von literaturkritik.de mit Artikeln von Marcel Reich-Ranicki über Bernhard entnommen.

Die Ärzte im Landeskrankenhaus Salzburg hatten den Achtzehnjährigen bereits aufgegeben, sie ließen ihn ins Sterbezimmer bringen. Man beeilte sich, ihm die Letzte Ölung zu „verabreichen“. Aber allen Voraussagen zum Trotz hat der kaufmännische Lehrling Thomas Bernhard doch überlebt. So schickte man ihn in eine Lungenheilanstalt. Dort sah er von seinem Bett aus monatelang denselben Berg: „Und dann wird man“, sagte er viele Jahre später, „entweder verrückt, oder man fängt zu schreiben an.“ In Wirklichkeit hatte er gar keine Wahl, für den jungen Thomas Bernhard gab es eine solche Alternative nicht. Denn auf ihn traf beides zu: Damals wurde er ein Schriftsteller, und damals, spätestens, wurde er der Normalität – oder dem, was wir für Normalität halten – weit entrückt. Er mußte, wie es in seinem autobiographischen Buch „Der Keller“ heißt, „in die entgegengesetzte Richtung“ gehen.

Seine Krankheit war unheilbar, er konnte nur mit oder gegen sie leben, also angesichts des Todes und gegen den Tod. Er konnte nicht existieren, ohne zu schreiben; und er wollte nicht schreiben, ohne sich gegen das Elend seiner und unserer Existenz zu empören. Aber zunächst einmal zeichnen sich Bernhards Romane, Erzählungen und Theaterstücke durch ihre schroffe, ihre hochmütige Unvollkommenheit aus. Die Vorstellung, es sei seine Aufgabe, etwas Perfektes zu liefern oder auch nur anzustreben, hätte er mit Sicherheit als absurde Zumutung empfunden oder gar als Unverschämtheit zurückgewiesen. Seine Theaterstücke bestehen aus Monologen, seine Geschichten sind Romanfragmente, seine Romane erweisen sich als lange Erzählungen. Und allesamt sind sie Bruchstücke einer einzigen, nein, nicht einer Konfession, sondern einer Rebellion.

In allem, was er publizierte, manifestierte sich seine Selbstverteidigung. Darüber hinaus verfolgen diese Arbeiten keine Absicht, sie haben kein Ziel und keinen Zweck, sie entspringen keiner Idee und keinem Programm. Bernhard wollte nichts verändern, er gehörte nicht zu den Aufklärern, er war kein Weltverbesserer. In seinem Stück „Heldenplatz“ lesen wir: „Wo alles nach Auflösung stinkt – und wo alles nach Zertrümmerung schreit – ist die Stimme des einzelnen zwecklos geworden.“ Den Gedanken, der Mensch sei erziehbar, hielt er bestenfalls für läppisch. In seinem letzten, erst postum veröffentlichten Interview sagte er knapp und, wie mir scheint, ganz ohne Koketterie: „Ich glaub‘ an gar nichts.“ Diese Rebellion war sich selbst genug, sein Werk ist enragiert, doch niemals engagiert.

Es ist eine alte Wahrheit: Im Grunde kennt die Literatur nur zwei große Themen – die Liebe und den Tod. Doch die Liebe vermochte den Schriftsteller Thomas Bernhard nie zu interessieren, er wollte sich nicht mit ihr beschäftigen. Gewiß, er hat seinen Großvater, von dem er betreut und wohl erzogen wurde, geliebt; auf seine vertrackte Weise liebte er auch viele Jahre lang eine erheblich ältere Frau, die er seinen „Lebensmenschen“ nannte – und wiederum handelte es sich um eine Person, von der er betreut wurde. Aber er war ein Nicht-Erotiker, das Sexuelle gab es in seinem Leben kaum oder überhaupt nicht, er selber hat dies in einem Fernseh-Interview unmißverständlich als eine Folge jener schweren Krankheit gedeutet, an der er schon als Achtzehnjähriger beinahe gestorben ist.

Er war denn auch – in dieser Hinsicht mit Kafka vergleichbar – kein Dichter der Liebe. Ja, nicht einmal die Sehnsucht nach der Liebe, diese Sehnsucht, vor der sich Kafka, wie wir aus seinen Briefen an Felice und an Milena wissen, ein Leben lang verzehrte – Bernhard kannte sie nicht, jedenfalls ist sie in seinem Werk nicht zu sehen und nicht zu spüren. Frauen spielen in diesem Kosmos nur eine untergeordnete Rolle, es sind, zumal in seinen früheren Büchern, verkrüppelte und böswillige Menschen, oft geradezu gräßlich und abstoßend. „Mich ekelt vor der Wirtin. Es ist derselbe Ekel, der mich als Kind vor offenen Schlachthaustüren hat erbrechen lassen“ – gesteht der dem Autor auffallend ähnliche Ich-Erzähler des Romans „Frost“. Die ekelhaften Personen sind auch noch aufdringlich, sie machen den Männern unzweideutige Angebote, die von diesen natürlich abgelehnt werden – und zwar „nicht ohne plötzliche Übelkeit“.

Die Metaphern der Sinnlosigkeit

Widerwärtig wie die Frauen ist in Bernhards Welt auch alles Sexuelle, sofern es überhaupt wahrgenommen und erwähnt wird. Und da er von Anfang an ein unermüdlicher Provokateur war, ein extremer – um seinen eigenen Ausdruck zu verwenden – „Vordenkopfstoßer“, so verkündete er schon im „Frost“, das Geschlechtliche sei es, „das alle umbringt“, das Geschlechtliche sei „die Krankheit, die von Natur aus abtötet“ und die früher oder später jegliche Innigkeit ruiniere.

Ein Leben also ohne Erotik? Nicht einmal ein Gott konnte und wollte sich damit abfinden. Aus Jupiters Mund hören wir die Klage: „Ach Alkmene! Auch der Olymp ist öde ohne Liebe.“ Bernhard, der Einsame und Unglückliche, dem das Leben soviel versagt und verweigert hat, der kein Sänger des Mitleids war, vielmehr ein Dichter der Verstörung und der Zerstörung, des Verfalls und des Zerfalls, der Auflösung und der Auslöschung, auch er, der Unbarmherzige und Unerbittliche, der, wie einst der Autor der „Hermannsschlacht“ und der „Penthesilea“, ohne Grausamkeit nicht auskommen konnte und der bei der Grausamkeit Schutz suchte vor der Welt – auch Bernhard war, je älter er wurde, desto mehr auf Herzlichkeit, auf Zuneigung angewiesen. In seinem Spätwerk ist manch eine Figur in ein mildes und freundliches Licht getaucht.

Doch sind es in diesen Büchern beinahe immer Männer, die er zärtlich betrachtet und liebevoll zeichnet, in der Regel Künstler und Intellektuelle, die wie er zu den Verdammten und zugleich zu den Auserwählten gehören. In ihnen entdeckte Bernhard seine Brüder, sie stilisierte er zu seinen heimlichen Doppelgängern – das gilt für den ästhetisierenden und philosophierenden Helden der Erzählung „Wittgensteins Neffe“, das gilt für den Pianisten Wertheimer in dem Roman „Der Untergeher“, der resigniert und scheitert, weil er begreift, daß die vollkommene Kunstleistung seine Möglichkeiten übersteigt.

Und die Frauen? Sind sie in Bernhards letzten Büchern immer noch schmutzig und ekelhaft? Nicht unbedingt. Nur ist ihnen keine Sinnlichkeit, keine Körperlichkeit gegönnt, es sind geschlechtslose Wesen – wie etwa die bloß in Umrissen sichtbare, die verträumte Tänzerin und Schauspielerin Joana in dem Roman „Holzfällen“, die so wenig erreicht, weil sie so viel will. Auch Maria in dem Roman „Auslöschung“ ist nicht von dieser Welt: Wir haben es mit einem Porträt der Ingeborg Bachmann zu tun, in dem Bernhard die große Dichterin mit Emphase verherrlicht, ohne indes ihre Schwächen, etwa die Neigung zum Komödiantischen, auszusparen.

Dieses Porträt zeigt abermals, daß für Bernhard Frauen entweder widerwärtig oder märchenhaft waren, daß er sie nur verabscheuen konnte oder verklären. Er bekannte sich zum „Übertreibungsfanatismus“, aus dem sich seine „Übertreibungskunst“ ergebe, die er – das nahm er für sich in Anspruch – auf die Spitze getrieben habe wie niemand vor ihm. Die Charaktere seiner Personen, ob weiblich oder männlich, gehen ebenso auf diesen leidenden und provozierenden Fanatismus zurück wie die Ausfälle und Schmähungen, von denen es in Bernhards Texten wimmelt.

Er beschimpfte Dürer als einen Vorläufer der Nationalsozialisten, er warf Mozart Kitschmotive vor, er glaubte bei Beethoven fortwährend nur Marschrhythmen zu hören, er verachtete Stifter, Bruckner und Mahler, er hielt die deutsche Literatur unseres Jahrhunderts für kleinbürgerlich und beamtenhaft, er meinte, daß typisch für diese erbärmliche Literatur deren bekannte Erzeuger Robert Musil und Thomas Mann seien, die deutsche Sprache schien ihm häßlich, ohne jede Musikalität und unfähig, einen Wahrheitsgehalt wiederzugeben, die Stadt Wien sei „eine einzige stumpfsinnige Niederträchtigkeit“ und ganz Österreich der „gemeingefährlichste aller europäischen Staaten“ und eine einzige „geist- und kulturlose Kloake“.

Man würde es sich gar zu leicht machen, wollte man sich damit behelfen, daß Bernhard derartige Invektiven meist seinen Ich-Erzählern in den Mund gelegt hat. Schon wahr, nur sagen diese wüsten und wütenden Verwerfungen letztlich wenig über ihre Gegenstände aus und um so mehr über jenen, der sie benötigte, um sich gegen eine als feindlich empfundene Welt zu behaupten – über Thomas Bernhard also. Wie, wenn er, der doch in einem holländischen Ort geboren wurde, dort aufgewachsen wäre? Kann man sich ihn als einen holländischen Schriftsteller denken? Gewiß, nur wären dann für ihn, ich bin dessen sicher, die Niederlande eine einzige „geist- und kulturlose Kloake“, dann hätten die Holländer von ihm allerlei Böses über, sagen wir, Rembrandt hören müssen. Kurz und gut: einem holländischen Autor Thomas Bernhard hätte natürlich nicht Österreich als Metapher für die Sinnlosigkeit unseres Daseins gedient, sondern Holland.

Zwischen Schwermut und Humor

Vergessen wir es nicht: Er verfügte schon seit längerer Zeit über Geld genug, um sich überall, wo es ihm paßte, niederlassen zu können. Am besten bekam ihm das Klima Spaniens. Aber wann immer er in Spanien war, er ließ das Land, an dem er mehr litt als an irgendeinem anderen auf Erden, nicht lange auf sich warten: Nicht nur Österreich brauchte ihn, auch er brauchte Österreich. Wie in Bernhards Werk sadistische Akzente unübersehbar sind, so waren ihm selber masochistische Neigungen nicht fremd.

Die vielen zornigen Äußerungen haben zugleich eine eminent rhetorische Funktion: Es sind integrierte Bestandteile seiner endlosen Wortkaskaden, seiner grandiosen Sprachkatarakte. Bernhard hat der Eloquenz der Ratlosigkeit bisher ungeahnte Töne abgewonnen, er hat die Suada der Verzweiflung bis zum nahezu Unerträglichen gesteigert.

Und da es ihm schon sehr früh gelungen ist, für sein Lebensgefühl einen außerordentlich intensiven, einen angemessenen sprachlichen Ausdruck zu finden, wird hier der in der Literatur immer leidigen, wenn nicht fatalen Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt sofort der Boden entzogen: Ob seine Romane und Erzählungen mehr oder weniger bedeutend sind – für die Stücke gilt das freilich nicht –, in jedem Fall ist der Stil schon der Inhalt. Daher auch die Nähe dieser Epik zur Lyrik: Bernhard argumentierte nicht, er suggerierte, nicht die Analyse war sein Geschäft, sondern die Evokation. An den Höhepunkten der Romane und der Dramen fällt das Rhetorische seines Talents auf. Allerdings war Bernhard ein ganz ungewöhnlicher Rhetor, nämlich einer, der nur ungern und selten Reden hielt, die denn auch alle sehr kurz ausfielen.

Die Grundelemente seiner Prosa sind die Litanei und das Lamento. Er ist, wenn man so sagen darf, der Erfinder der komischen Litanei, des heiteren Lamento. In dem Haus, das er im oberösterreichischen Ohlsdorf bewohnte, waren die Wände strahlend weiß gestrichen und die Fenster und die Türen mit einem pechschwarzen Streifen umrandet. Sein Heim war unheimlich.

Wer will, kann diesen krassen Farbkontrast auch in seinen Büchern wiederfinden. Sie leben von polaren Spannungen, zumal jener zwischen Schwermut und Humor. Bernhard war ein lachender Melancholiker, er war, wie manch ein Shakespearescher Narr, ein beängstigender Spaßmacher. Sein Werk trägt Kennzeichen des Manisch-Depressiven. Sollte etwa auch auf ihn die Goethesche Definition zutreffen, also das berühmte „Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt“?

In der Tat: Seine Prosa ist düster und bitter, er selber indes gab sich, wenn man sich mit ihm unterhielt, gewiß nicht „himmelhoch jauchzend“, doch heiter und gelöst, eher scherzend als klagend. Freilich: Der Trost, den Goethe glaubte empfehlen zu können – „Glücklich allein ist die Seele, die liebt“ –, konnte Bernhards Not nicht lindern. Aber auch er kannte einen Trost, eine Möglichkeit, seine lebenslängliche Krise wenigstens zeitweise zu überwinden und die tödliche Krankheit zu überlisten: Glücklich war er nur, wenn er schrieb.

Die Helden seiner Romane, Erzählungen und Stücke verkörpern die permanente Rebellion – sie meutern gegen die Krankheit und den Tod, gegen die menschliche Existenz schlechthin. Eine Rebellion ist es, die von Anfang an nicht die geringsten Aussichten hatte, der nicht einmal der Schimmer einer Hoffnung gegönnt wurde. Den Begriff „Utopie“ gab es für Bernhard nicht, er hatte nicht einmal Lust, ihn zu verhöhnen, von der Idee der Erlösung wollte er nichts wissen.

Aber es gibt in seinem Werk doch einen Erlösungsgedanken, den er, zögernd und zweifelnd, nicht unterdrückt hat: Nur der Kunst, der vollkommenen, kann das Dasein, vielleicht, eine Art Rechtfertigung verdanken. Und daß er, der abtrünnige Katholik, der nie aufgehört hat, die Kirche zu verachten, jene Person, die in seinen Augen eben die vollkommene Dichtung repräsentierte, Maria nannte, war gewiß kein Zufall. Aufschlußreich scheint mir auch, daß die andere Figur in dem Roman „Auslöschung“, in die sich der Ich-Erzähler verliebt und die er als „Genie der Rede-und Schweigekunst“ feiert, ein schillernder katholischer Geistlicher und Diplomat ist, der Erzbischof Spadolini.

Im „Untergeher“ spricht Bernhard von jenen, die immer nur die Wahl zwischen zwei Wegen haben – und beide seien Sackgassen. Als Untergeher geboren, hätten diese Menschen, „gerade weil sie so schwach konstruiert und gemacht sind“, die Kraft, auf ihre Umwelt die stärkste Wirkung auszuüben. Das scheint mir eine etwas riskante Behauptung. Bernhards „Sackgassenmenschen“ sind Opfer oder doch Sorgenkinder des Lebens, die untergehen, ohne viel erreicht oder bewirkt zu haben. Sein Werk kennt keine Sieger, alle Meutereien sind gänzlich nutzlos, stets werden nur Niederlagen gezeigt.

Und doch steht in diesem Universum, inmitten von Scheiternden und Kapitulierenden, einer, dessen Rebellion nicht vergeblich war, dessen heroischer Kampf, nehmt alles nur in allem, einem wahren Triumph gleichkommt. Aber der da stets „in die entgegengesetzte Richtung“ ging, der rebelliert und gesiegt hat, ist kein Geschöpf des Autors, er selber ist es, er, Thomas Bernhard.

Hinweise des Herausgebers

Erstdruck unter diesem Titel und Vorlage für die erneute Veröffentlichung in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.2.1990, Bilder und Zeiten, S. 3. Der Artikel ist ohne den Untertitel und mit kleinen Änderungen im Text nachgedruckt worden in Marcel Reich-Ranicki: Thomas Bernhard. Aufsätze und Reden. Zürich: Ammann 1990 (Taschenbuch-Ausgabe: Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993). S. 83-93. Im Anhang dieser Ausgabe steht der Hinweis: „Rede auf einer Veranstaltung ,Thomas Bernhard zu Ehren‘ im Schauspielhaus Frankfurt am 11. Februar 1990 aus Anlaß des ersten Todestages.“