„Die Sprache ist für mich wie Trinkwasser“

Ein Gespräch mit dem Musiker und Autor Heinz Rudolf Kunze

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Heinz Rudolf Kunze ist einer der meinungsstärksten deutschsprachigen Musiker der letzten Jahrzehnte. Seit 1980 ist er unterwegs, um seine stets in neue musikalische Stilgewänder gekleideten Texte unters Volk zu bringen. Dabei hat er ein ums andere Mal kontroverse Debatten angestoßen, sich auch gerne mal in die Nesseln gesetzt und, was für Intellektuelle und insbesondere Rockmusiker hierzulande ja eher selten ist, auch immer wieder Fehler eingestanden. Kein einfacher Zeitgenosse, aber auch einer, dem immer wieder Unrecht getan wurde. Etwa, wenn er auf seine manchmal schlagerhaften Singles reduziert wurde, die für ihn allerdings überlebenswichtig sind, um das Interesse an seiner Musik über mittlerweile über vierzig Jahre aufrecht zu erhalten. Für literaturkritik.de sprach Sascha Seiler mit dem streitbaren, aber stets reflektierten Musiker.

 

Sascha Seiler: Also zunächst freut es mich sehr, dass wir miteinander sprechen können. Ich komme auch gleich zur ersten Frage: Vor 25, 26 Jahren haben Sie ja auf dem Song „Tohuwabohu“ geschrieben, wie Sie in Ihrer Jugend hin- und hergerissen waren, ich zitiere „zwischen Reinhard Mey und Kick Out The Jams, Motherfuckers“, was ein sehr schönes Zitat ist. Sehen Sie sich auch heute noch so?

Heinz Rudolf Kunze: Ja, im Grunde schon. Wobei man natürlich, wenn man so einen Vergleich wählt, vielleicht ein bisschen erläutern sollte… Ich sehe mich bei meinem Freund Reinhard Mey deswegen, weil er mir immer so imponiert hat als Figur. Also diese Haltung; der junge Mann mit den Cowboystiefeln, der weißen Jeans, der Weste und dem aufgekrempelten Hemd, auf dem Barhocker hockend und die Gitarre im Arm; diese Pose des jungen Mannes, der sagt „Ich hab‘ euch was zu erzählen und das ist wichtig“. Das hat mich sehr beeindruckt und ich bin sehr froh und glücklich, dass ich inzwischen mit Reinhard dick befreundet bin, und das seit langer Zeit schon. Musikalisch haben mich die MC 5 allerdings immer sehr viel mehr interessiert als die Liedermacherei.

Seiler: Und was die wenigsten wissen ist, Sie sind ja auch ein großer Prog-Fan. Also King Crimson, Genesis und Yes schätzen Sie sehr, oder?

Kunze: Das ist absolut richtig. Die größte Band, die diese Welt je gesehen hat, heißt Henry Cow, vielleicht kennen Sie die nicht. Doch? Dann sind Sie einer der ganz wenigen Menschen, handverlesen wenigen, die ich in meinem Leben getroffen habe, die diese Band kennen. Etwas Größeres gibt’s auf der ganzen Welt nicht. Danach kommt King Crimson und danach eine ganze Weile gar nichts – und dann andere tolle Sachen. Ich bin ja großer Sammler und habe 40.000 Tonträger zu Hause und eigentlich nicht nur Rock, sondern auch Country und Blues, Jazz, Klassik. Ich bin da sehr vielseitig unterwegs.

Seiler: Und wahrscheinlich haben ja die ganzen Dinge, die Sie als Jugendlicher und später gehört haben, die Sie auch weiter entdeckt haben, einen großen Einfluss auf Ihre verschiedenen Schaffensphasen gehabt, oder – oder gibt es Musik, bei der Sie sagen würden, dass Sie das nicht unbedingt verarbeiten wollen, auch wenn Sie es gut finden?

Kunze: Ich sage Ihnen das mit aller Ungeschütztheit, Sie können mich dafür schlachten und misshandeln: Genau das hat bei mir dazu geführt, dass ich mich musikalisch immer eher wie ein Chamäleon aufgeführt habe. Und ich kenne keinen anderen Musiker auf der Welt, da kann ich nichts dafür, ich meine es ernst – mir fällt keiner ein –, der so viele verschiedene Sachen gemacht hat wie ich. Wenn man meine Alben alle kennt und die ganze Spannbreite von der 13-minütigen Velvet Underground Hommage, die der Song „Die Peitschen“ darstellt, bis hin zum Reggae, Folk, Country, Blues, Metal und Chanson: Ich habe wirklich alles probiert, aus Neugier und aus Lust am Neuen. Und ich hatte auch immer Musiker um mich herum, die ich stimulieren konnte, auch ihrer eigenen Neugier freien Lauf zu lassen, sodass ich glaube, es gibt möglicherweise keine Richtung in der populären Musik, die ich ausgelassen habe. 

Seiler: Würden Sie in diesem Kontext auch zustimmen, dass Sie ein sehr heterogen zusammengestelltes Publikum haben? 

Kunze: Das glaube ich sofort. Also es gibt andere Crowds, die man eher gleich erkennen kann, wenn man die irgendwo in einen Saal strömen sieht. Das war auch immer mein Eindruck, dass die Leute bei mir sehr individualistische Menschen verschiedenster Herkunft sind, ja.

Seiler: Die dann bei den Konzerten bestimmt auch unterschiedlichste Vorlieben hatten. Die einen schreien nach den Pop-Klassikern, die anderen freuen sich, wenn mal die Ballade kommt oder gar die experimentellen Stücke. Und so mischen Sie das dann wahrscheinlich ein bisschen durch.

Kunze: Das Komische ist, dass noch nie einer „Dein ist mein ganzes Herz“ gerufen hat…

Seiler: Wahrscheinlich, weil man als Fan weiß, dass es eh kommt. 

Kunze: (lacht) Das dürfte der Grund sein. 

Seiler: Glauben Sie denn, dass Menschen Rockmusikern heute noch zuhören, wenn sie etwas zum Zustand der Gesellschaft sagen wollen? Sie tun das jetzt voller Insbrunst seit 40 Jahren, glauben Sie, die Leute hören da wirklich noch hin? Und ich meine jetzt nicht die alteingesessenen Fans, sondern tatsächlich auch jüngere Leute?

Kunze: Ach ja, jetzt sind wir bei der kulturpessimistischen Kurve angekommen. Das ist natürlich nicht einfach und viele tun es nicht, ja. Aber ich habe eigentlich in den letzten fünf, sechs Jahren das Gefühl gehabt, dass die Menschen doch – also die zu mir kommen, bei den anderen kann ich es ja nicht beurteilen – es sehr zu schätzen wissen, dass man achtsam mit der eigenen Lebenszeit und mit der Wirklichkeit um einen herum umgeht, und dass man das auch abbildet. Ich habe das Gefühl, das ist den Leuten, die zu mir kommen, geradezu wichtiger geworden. Inwieweit sich das sagen lässt für die junge Generation, da muss man vorsichtig sein. Man sollte ja ohnehin nicht so mit Pauschalisierungen um sich werfen. Ich kann nur hoffen, dass es weiterhin Menschen gibt, die sowas interessiert. Ich kann mein Angebot nur machen, ein anderes habe ich nicht. 

Seiler: Sie haben ja auch immer mal wieder Prügel einstecken müssen für einige Äußerungen. Aber sie sehen es wahrscheinlich auch so, dass es traditionell zu den Aufgaben des Künstlers gehört, eben nicht einem anvisierten Publikum nach dem Mund zu sprechen, oder? 

Kunze: Ja, das ist sehr weit verbreitet. Ich bin da manchmal ein bisschen naiv gewesen und habe mich ungeschützt auch zu weit vorgewagt – das dankt einem nicht jeder. Aber ich hab’s immer gut gemeint. Ich bin ein Mensch, der, so denke ich zumindest, auch das Recht für sich reklamieren darf, sich mal zu irren, ich weiß eben auch nicht alles besser. Aber letzten Endes haben diese Dinge dann auch dazu beigetragen, dass ich noch da bin. Denn wenn ich nicht polarisieren würde, dann wäre ich wahrscheinlich inzwischen gar nicht mehr da. Als Laumichel kann man irgendwie, glaube ich, nicht so lange durchhalten. Obwohl, nein, das ist auch Quatsch, was ich sage, natürlich kann man auch besonders als Laumichel lange durchhalten.

Seiler: Mein Eindruck ist, dass Sie eine Zeit lang, so ab Ende der 00er Jahre, einen künstlerisch-kommerziellen Spagat gewagt haben. Sie haben die Heinz Rudolf Kunze-Platten, die vielleicht etwas konventioneller geraten sind als sonst, gemacht, aber auf der anderen Seite eben auch diese doch sehr unkonventionellen Räuberzivil-Platten aufgenommen. Hat sich das für Sie ausgezahlt? Und haben Sie das aufgegeben oder wollen Sie damit weitermachen?

Kunze: Nein, außer künstlerisch – und dass es natürlich Spaß gemacht hat – hat es sich in keiner Hinsicht ausgezahlt. Es haben auch nur wenige gekauft und wurde ja überhaupt nicht beworben, es lief alles völlig unterhalb des Radars. So hat sich das als Exkursion leider nicht bewährt. Und dadurch, dass ich jetzt eben die Solo-Geschichten mache und ganz alleine seit fünf Jahren auf die Bühne gehe, hat sich das als dritte Form jetzt auch erledigt – man kann nicht auf drei Beinen stehen. Man kann vielleicht, aber das führt dann doch zu einer gewissen Spinnenhaftigkeit und man wird dann monströs.

Seiler: Gut, Sie haben ja, wenn ich mich nicht täusche, bei den Solo-Sachen, die Sie jetzt auf die Bühne bringen, eher Ihre Heinz Rudolf Kunze-Stücke und keine neuen Songs, wie es bei Räuberzivil eben der Fall war. 

Kunze: Das ist richtig. Dahin bin ich noch nicht vorgestoßen, das will ich aber nicht ausschließen. Ich kann mir durchaus vorstellen, auch mal eine Soloplatte zu machen mit neuem Material. Würde mich schon sehr reizen.

Seiler: Und entsprechend finde ich, dass die letzten beiden Alben – vielleicht auch die letzten drei Alben – wieder eine etwas größere Mixtur gehabt haben aus, sagen wir mal, kommerzielleren Stücken und etwas experimentelleren Stücken, würden Sie da zustimmen?

Kunze: Ich glaube, dass die Alben Stein vom HerzenDeutschland und Schöne Grüße vom Schicksal so eine Art Trilogie bilden und dass das letzte Album Der Wahrheit die Ehre wieder was Neues ist. Liegt vielleicht weniger an mir und mehr an meinem neuen Produzenten Udo Rinklin, der eine Frischzellenkur mitgebracht hat, und ich finde, da klingt der Kunze und die Band vom Kunze irgendwie anders; irritierender, jünger, seltsamer. Also ich war, als ich den Endmix gehört habe, wirklich erstaunt und habe gedacht ‚Sind wir das?‘ und das hat mir sehr gut gefallen. 

Seiler: Wobei ich sagen muss, dass ich schon auf der Platte davor diesen neuen Approach sehr genossen habe und das hat sich auf dem letzten Album nochmal bestätigt oder sogar verbessert. 

Kunze: Wir haben sogar ein, zwei Lieder dabei gehabt, wo wir gehofft haben, dass die im deutschen Radio auch eine Chance haben, und da ich 64 Jahre alt bin, konnte ich halt nur darauf hoffen, dass die älteren Wellen mich spielen. Denn es scheint eine stillschweigende Übereinkunft im Radio zu geben, dass Künstler über 50 auf den normalen Popwellen einfach nicht gespielt werden, es sei denn sie heißen Udo Lindenberg. Insofern musste ich mich dann in Fahrtenwasser bewegen, wo ich mit Howard Carpendale und Andrea Berg auf der gleichen Welle schwimme – wenn ich gespielt werde – und deswegen hatten wir auf diesem Album auch die ein oder andere Nummer, die ein gewisses Pop-Zugeständnis gemacht hat. Damit haben wir bei dem Album Der Wahrheit die Ehre komplett aufgeräumt, da ist keine solche Nummer mehr drauf.

Seiler: Ja, das ist mir auch aufgefallen. Im Spätherbst kam dann noch ein Live-Album raus, das wahrscheinlich in gewisser Weise ein Ergebnis der Pandemie ist. Das Konzert wurde ja unter Auflagen im Sommer absolviert und die CD erscheint jetzt in Zeiten wo gar keine Konzerte mehr gespielt werden können. Da würde mich schon interessieren, wie Sie als Musiker Ihres Status, also jemand der kein Popstar ist, der Millionen macht, der aber schon dauernd auf Tournee ist und dessen Konzerte von vielen besucht werden – wie erleben Sie diese Zeit jetzt?

Kunze: Es ist sicherlich nicht ein Album, das der Corona-Pandemie geschuldet ist, das Programm gab es schon das Jahr davor, da das ja mein zweites Soloprogramm ist. Aber natürlich hat Corona und alles, was damit zu tun hat, wie auch Trump und alles andere, was so passiert ist, in dieses Programm hineinregiert, weil die Sprechtexte doch relativ konkret auch manchmal auf das Bezug nehmen, was in der Welt passiert. Insofern ist es ein Zeitdokument, ja. Und ich habe mir diese Form seit fünf Jahren erarbeitet und hätte dieses Jahr das maximale Live-Jahr meines Lebens gehabt; mit riesiger Frühjahrstour mit der Acht-Mann-Band mit ganz vielen Konzerten – und 60 oder 70 Soloauftritten – mehr als ich jemals in einem Jahr in meinem Leben gespielt habe. Das ist natürlich alles zusammengebrochen und auf ein Winziges geschrumpft. Wir haben ein paar Mal draußen gespielt im Sommer, als das noch möglich war. Wir haben in Kirchen gespielt, mit grotesken Sicherheitsabständen, in Mönchengladbach habe ich vor 700 Strandkörben gespielt – eine fantastische Idee übrigens, die standen auf einem Hockeyfeld. Und Autokonzerte haben wir auch gemacht. 

Die Pandemie erlebe ich als eine Zeit, wo ich so viel zu Hause bin, dass es mich juckt. Ich bin eigentlich gewohnt, mindestens einmal die Woche solo vor mein Publikum zu treten. Die Band fehlt mir auch sehr, das ist natürlich auch immer wieder eine schöne Sache, wenn ich die Jungs wiedersehe und mit ihnen gemeinsam Musik machen kann. Aber die Soloauftritte sind sozusagen mein täglich Brot geworden und ich vermisse mein Publikum nicht nur, wenn ich an meinen Kontostand denke. Das auch, aber ich vermisse es vor allen Dingen, weil es mir fehlt als gute Trainingsroutine. Wenn man jede Woche einmal spielt – oder fast jede Woche –, dann hat das Lampenfieber keine Chance. Dann ist man einfach ständig in Kontakt mit dem Publikum, der rote Faden, der Kontakt zum Publikum reißt einfach nicht. Und das war früher ganz anders: Da gab’s früher halbe Jahre, in denen ich kein Publikum gesehen habe und dann vor Angst fast wieder gestorben bin, wenn’s wieder losging. Das hatte ich so schön im Griff und wegtrainiert und habe es geliebt, dass das Publikum fast schon zu meinem Alltag gehörte. Und das fehlt mir jetzt sehr. Nicht nur das Geld, sondern auch der Anblick, der Applaus, das Lachen, Beifall und Zustimmung, dieses Gefühl. Das ist natürlich ganz schrecklich und da kann ich nur hoffen, dass das bald weitergeht, denn da können virtuelle Auftritte aus dem eigenen Arbeitszimmer, die im Netz stehen, wovon ich ja auch drei gemacht habe, natürlich auch nicht helfen. 

Seiler: Auf dem Album haben Sie ja abwechselnd akustische Stücke und Ihre Sprechtexte, die ja auch auf Ihren Konzerten immer eine große Rolle spielen. Nur jetzt sind es ja viel mehr als auf den Bandkonzerten. Sie haben ja auch schon erwähnt, dass unter anderem ein Sprechtext, ein Gedicht, zu Donald Trump dabei ist. Wie haben Sie denn die US-Wahl erlebt und was glauben Sie, wie es unter Joe Biden weiter geht? 

Kunze: Tja, ich war sehr aufgeregt und da ich als Mensch zum Pessimismus neige, habe ich gedacht, es geht schief. Und ich bin auch erst richtig beruhigt, wenn der Untote einen Pflock im Herzen hat. Also ich weiß nicht, was diese tollwütige Kreatur sich noch alles einfallen lässt, was er noch für schmutzige Tricks im Köcher hat… Ich halte ihn für den gefährlichsten Menschen der Welt, der den geistigen Horizont eines dreijährigen Hitler hat, und der darf auf keinen Fall in diesem Amt erwachsen werden. Ich mache mir auch nicht allzu große Illusionen, zwar scheint Joe Biden ein sympathischer Mann zu sein, aber schon sehr vom Alter gezeichnet. Und ich glaube auch nicht, dass sich alles wieder rückgängig machen lässt, was Trump da kaputt gemacht hat in den internationalen Beziehungen. Schlechter als mit Trump kann es ja gar nicht werden, aber ob dass alles jetzt so wird, wie Europa sich drauf freut, da habe ich auch meine Bedenken. 

Seiler: Wo wir grade noch bei dem Thema sind: Es gab eine Sache, die ich bei den Sprechtexten noch erstaunlich fand. Sie setzen sich auf recht zynische Weise mit den Trends der Identitätspolitik und Political Correctness auseinander. Grade natürlich auch, was Sprache angeht. Das wird aufgrund der Unmittelbarkeit sicher wieder für Kritik sorgen. 

Kunze: Ja, das wird es wohl. Aber man muss ehrlich bleiben. Ich werde nicht anfangen zu heucheln, dass ich das gut finde und das deswegen dann mitmache.

Seiler: Es geht ja auch, wie Sie sagten, um Sprache und es geht ja auch um literarische Sprache, nicht nur um Alltagssprache. Sehen Sie denn diese Art von – ich sage mal ganz bewusst – literarischer Sprache auch gefährdet?

Kunze: Ja, natürlich. Ein Freund von mir hat von einer Dichterlesung in Stuttgart erzählt, wo der Lyriker, der Junge, seine Gedichte durch-gegendert hat und das ist doch eigentlich Loriot, das kann man doch nicht ernst nehmen.

Seiler:  Aber es ist natürlich der gesellschaftliche Trend, der auch die Universitäten mittlerweile ganz stark durchdringt.

Kunze: Ich sage auch weiterhin Studenten und nicht Studierende. Für mich sind Studenten Männer und Frauen, das definiere ich so, das meine ich nicht böse und damit diskriminiere ich nicht die Frau – jedenfalls aus meiner Sicht nicht, meiner Meinung nach nicht. Aber jeder sollte das für sich entscheiden. 

Ich hab‘ das Gefühl, das ist gelegentlich so eine Nebenkriegsbeschäftigung deutscher Studenten; genau so, wie dieses manchmal sehr selektierende, predigende Veganismus-Getue. Also Beschäftigung mit Nebensachen, weil man an die Hauptsache nicht mehr rankommt. So eine Ohnmacht im Gefühl bezüglich der Hauptsachen, man kann ja sowieso nichts ändern, also wird Kleinkrieg bei winzigen Lappalien entzündet.

Seiler: Und es ist, und da sind wir ja auch wieder bei Trump, es ist ja letztlich ein amerikanischer Trend. Also, letztlich trifft ja das was sie eben gesagt haben auf die USA noch mehr zu, so ganz extreme Kleinkriege an Universitäten. 

Kunze: Das habe ich auch gehört, was mich wundert. Weil doch die Amerikaner in vielen Dingen sehr viel konservativer sind als wir. Kennen Sie sich da aus, ist das denn in allen anderen weißen Ländern auf der Nordhalbkugel auch so? 

Seiler: Das weiß ich auch nicht. Aber ich finde wie gesagt das, was Sie gesagt haben, für die USA besonders bezeichnend, denn da haben wir einen Präsidenten Trump, der alle möglichen üblen Sachen macht und Menschen jeglicher Art unterdrückt, paradoxerweise auch seine eigenen Wähler aus der weißen Unterschicht. Und auf der anderen Seite steht die politische Linke, die sich vermehrt mit kleinteiligen Fragen beschäftigt anstatt gegen das Eigentliche, also eine im Großen bisweilen rechtsextreme, vor allem aber rücksichtslose Politik mal richtig vorzugehen. Ich denke, Biden macht das jetzt schon recht gut, da eine Art Brücke zu bauen, aber jetzt geht der Streit schon wieder los, ob er nicht doch zu konservativ ist und so weiter. Es ist schon eine schwierige Situation. 

Kunze: Und doch ist es bei mir so: Wenn es um Sprache geht, das war schon bei der Rechtschreibreform so, lasse ich mir nicht ins Wasser spucken. Die Sprache ist für mich wie Trinkwasser und da lasse ich mir nichts vorschreiben. Und ich bin sehr beruhigt, wenn’s auch nichts mehr hilft, mein ältester Duz-Freund, den ich habe, Professor Johannes Zellmeier von der CSU, der Mitglied der ersten Reformkommission Rechtschreibreform war und der mir sagte: „Heinz, ich bereu’s“. Das gibt mir nicht nur zu denken, sondern einen gewissen Trost und eine gewisse Zuversicht, dass ich da richtig liege.

Seiler: Ich denke doch, dass das bei Kulturschaffenden, gerade was das Sprachliche angeht, relativ weit verbreitet ist mit dieser ablehnenden Haltung. Das wissen Sie vielleicht besser als ich. 

Kunze: Ich denke schon.