Demokratie und Gewalt

Franco Moretti schlägt in „Ein fernes Land“ substanzielle Schneisen in die amerikanische Kulturgeschichte und ermöglicht eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der politischen Gegenwart – jenseits moralischer Empörungswellen

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es bereits an frühester Stelle vorwegzunehmen: Franco Morettis (mit guten 140 Seiten) äußerst knappe essayistische Annäherung an das „ferne“ Amerika besticht in ihrer Grundanlage durch ihren Fragmentarismus, ihre gewissermaßen produktive Ziellosigkeit und das lose Angezeichnete, welches dennoch eine derart erfahrungsgesättigte, kundige und enorm tiefschürfende Beobachtungsgabe voraussetzt, dass man die Lektüre erstaunt abschließt ob des geistigen Horizonts des Autors. In diesem Sinne verbietet es sich auch, seinen Text in Form einer stringenten Ordnung und inneren Logik kritisch zu reflektieren, zumal Moretti seine Ausführungen in einem äußerst fruchtbaren, aber eben doch multiperspektivischen Resonanzraum anzusiedeln scheint: Angetrieben vom Kerngedanken, das Ästhetische als Vorgriff bzw. als dezidiert kritisches Verhandlungsfeld zu begreifen, zeichnet Moretti eine streiflichtartige Kulturgeschichte Amerikas von Walt Whitman bis Edward Hopper nach, kuratiert auf diese Weise wirkmächtige Elemente, die auf die Hegemonie der Vereinigen Staaten verweisen, und schält vor diesem kunst- und literaturgeschichtlichen Hintergrund nicht zuletzt die wesentlichen Konfliktelemente der amerikanischen Historie heraus. En passant gelingt ihm dabei auch so etwas wie eine (im Wesentlichen) literatur- und filmtheoretische Begründung für die Notwendigkeit ästhetischer Bildung zum Verständnis gesellschaftspolitischer Gegenwarten.  

Im Fortgang der Lektüre, zwischen der Lyrik Baudelaires, Perspektiven auf die Schattierungen im film noir oder das Einsamkeitsmotiv in der Kunst Edward Hoppers, schleicht sich so recht unvermittelt die amerikanische Gegenwart ein – wird dem Leser und der Leserin doch schnell bewusst, wie weit weg dieser ästhetische Wirklichkeitszugang etwa der zentralen Repräsentationsfigur Amerikas, dem (mittlerweile Ex-)Präsidenten Donald Trump, ist: Symptomatisch für gegenwärtige Konsum-, Bild- und Präsenzkulturen in ökonomisch fixierter Form weniger Digitalunternehmen läuft auch der Alltag des ehemals mächtigsten Mannes der Welt gänzlich abgekoppelt von ästhetischen (man fürchtet fast: intellektuellen) Diskursen ab. Beschallt von den fortwährend zirkulierenden Bewertungsschleifen in Bezug auf die eigene Person, Unterhaltungsformaten und möglichst vorteilhaften Bildern des eigenen Wirkens bleibt der eigene Welthorizont beschränkt auf die narzisstische Ich-Welt, auf das mir Ähnliche, das Behagliche jenseits eines diffusen und widersprüchlichen Außen. Nun ist es allzu leicht, eine Art Dämonologie Donald Trumps zu betreiben und ihn psychoanalytisch und äußerst personalisiert zu dechiffrieren. Die mittlerweile Bibliotheken füllenden Auseinandersetzungen in diesem Stil bedienen in der Regel einen starken moralischen Empörungsaffekt eines sensationsorientierten und unterhaltungsfixierten Publikums, besitzen hinsichtlich ihrer analytischen und gesellschaftskritischen Tiefendimensionen aber einen überschaubaren Erkenntnisgewinn und reduzieren ein komplexes Problem auf ein handliches Format der Emotionalisierung, an die sich keine Debatte, keine (gesellschaftliche) Selbstkritik anschließen lässt.  

Donald Trump als Phänomen und Ausdruck amerikanischer Kultur zu begreifen, setzt aber voraus, seine Figur abzulösen von einer Interpretationsfolie, die in ihm etwas Katastrophenhaftes sieht, was auf die Gesellschaft hereingebrochen ist und im Sinne eines extremen diabolischen Außens (etwa via einer Amtsenthebung) wieder ausgeschlossen werden muss, damit man zurückkehrt zum „wahren Amerika“, zur „Normalität“, zu „Recht und Anstand“: Ließe sich also der Blick weiten in Richtung einer Ent-Personalisierung und Ent-Moralisierung seiner Person, wäre gewissermaßen seine Hinweisfunktion auf etwas möglich, was amerikanischer (Gegenwarts-)Kultur – selbstkritisch dechiffriert – grundsätzlich zu eigen ist und worauf der Präsident (nur) radikalisierend und entlarvend hinweist: ein Wertekorsett bestehend aus Demokratie (Trump als Vertreter der „schweigenden Mehrheit des Landes“, des „kleinen Mannes“), Gewalt (Trump und der Rassismus/die Frauenfeindlichkeit) und Konsumkapitalismus (Trump als Unternehmer, als „Reality-TV-Star“).  

Mit dieser Wertematrix setzen Morettis Kulturbetrachtungen wichtige Leitplanken mit Blick auf die nun folgenden feingliedrigen Auseinandersetzungen: Hochinteressant ist dabei (neben vielen anderen Überlegungen, die der Autor anstellt) zunächst, mit welchen Attributen er sein Kulturverständnis anreichert. Sein Leitsatz „Genieße ihre Magie und filtere sie dann durch die Skepsis der Kritik“ spiegelt die elementar gesellschaftskritische Bedeutung ästhetischer Diskurse, die zu wegweisenden Diskussions- und Entwurfsräumen der Kultur werden – untergründig das Bestehende weiterdenken, entlarven oder anderweitig kommentieren. Differenzierter aber arbeitet sich Moretti an der Tragweite des Agonalen, der Dissonanz und des Widerspruchs ab; der wesentliche Auftrag der Kunst bestehe auf diese Weise in einer konstruktiven Darstellung, eines fruchtbaren Ausagierens und In-Form-Gießens dieser Konfliktdimensionen („Der semantische Stoff ist zerfetzt, und er bedeutet durch seine Risse.“).

Brüche im Gewohnten, in der Ordnung der sichtbaren Dinge entfalten ihre intellektuelle und gesellschaftsbildende Kraft signifikant dadurch, dass sie offen ausgetragen und mit den Mitteln der künstlerischen Form expressiv zur Geltung gebracht werden. Auch hier schreien einen die gegenwartspolitischen Realitäten regelrecht an, vollzieht die politische Kommunikation (insbesondere in populistischen Rhetoriken) doch gerade den Bruch mit dieser Logik, zumal versucht wird, das Ambivalente, Nicht-zueinander-Passende aufzulösen. Die endlos heruntergebetete „Polarisierung der Gesellschaft“ (durchaus auch Mittel der ästhetischen Auseinandersetzung) wird dabei eben nicht nur dargestellt, sondern politstrategisch so zu nutzen versucht, dass die ihr inhärente Logik des Disparaten geglättet, gewaltsam gelöst und letztlich als Mittel der den Anderen überwältigenden Auseinandersetzung missbraucht wird, worin sich letztlich ihr demokratiezersetzendes Potenzial zeigt. Dabei sind der „Sturm des Kapitols“, initiiert durch Donald Trump, und die hierzulande litaneiartig dargelegte „Rückkehr zur Normalität“ im Angesicht der Pandemie nur zwei Extrempunkte der gleichen Medaille: Man verzichtet darauf, der Öffentlichkeit Komplexität und Widersprüchlichkeit zuzumuten und glättet ambivalente Problemlagen in Richtung leicht handhabbarer und einseitig zugerichteter „Lösungen“. 

Inmitten von Morettis nuancenreicher Fülle an Beobachtungen sticht das Cineastische des amerikanischen Kulturgedächtnisses ebenso prägnant hervor wie das Literarische: Seine wenigen diagnostischen Skizzierungen der kulturellen Form des Westerns sind derart hellsichtig und weitgreifend, dass sie im Zuge einer hier eher gesellschaftspolitischen Einordnung seines Textes von besonderer Bedeutung sind (plausibel und möglich wäre ebenso ein stärker literaturgeschichtlicher Fokus – diese Darstellungsmöglichkeiten sind daher nur Ausdruck der Verdichtung und Schärfe des Materials!): Moretti sieht den Western gewissermaßen symptomatisch für das Agonale, die geschärfte Diskrepanz von Innen und Außen, den Fremdheitsdiskurs und das Gewalttätige der amerikanischen Kultur. In der „Urszene“ des Westerns, dem Aufeinandertreffen zweier sich mithilfe gezogener Waffen duellierender Heldenfiguren, entlarve sich ein Freund-Feind-Denken, eine „lineare Geometrie des Modells“, die Gewalt als soziales Fundament – moralisch aufgeladen als regelrechtes Wahrheitsmoment. 

Gewalttätiges Denken im amerikanischen Imaginären findet auf diese Weise Ausdruck und Diskussionsraum innerhalb einer solchen ästhetischen und narrativen Form, die das Ausgleichende und Kompromisshafte zugunsten einer agonalen und polarisierten Logik der Konfrontation und der Überwältigung des Anderen aufgibt. Gerade im Rekurs auf die Figur des Indianers sind an dieser Stelle die allgegenwärtigen Konflikte des Rassismus angezeichnet – auch die Sphäre des Ökonomischen ermöglicht in der Spielart eines radikalisierten „Raubtierkapitalismus“ (Trump lässt grüßen) zentrale Bezüge zu einer solchen Kunstform in ihrer starken Aussagekraft mit Blick auf die Kulturgeschichte der Vereinigten Staaten. Wichtig in einer solchen „Grundfigur des Westerns“ ist auch die Rolle des Staates und der Demokratie: Erstere Stelle ist in diesem Sinne leer; an die Stelle der Institutionen tritt der mit Waffengewalt operierende Held, der faktenschaffend und pragmatisch jenseits einer kritischen Öffentlichkeit seine Interessen rigoros durchsetzt. Seine Einsamkeit im Duell um das Recht des Stärkeren gleicht unter veränderten Vorzeichen der Einsamkeit der Hopper´schen Figuren – die zwar hochindividualisiert und ökonomisch gesichert, letztlich auf sich selbst zurückgeworfen sind und gesellschaftliche Verbindungspunkte aus den Augen verloren haben. 

Sicher ist es – bilanzierend gesprochen – nicht statthaft, Franco Morettis Analysen einengend politisch zu lesen und bruchlos auf die amerikanische Gegenwart zu übertragen, zumal auf diese Weise die vielfältige Deutungen ermöglichende Ambiguität seines kulturwissenschaftlichen Grundansatzes angegriffen und außer Acht gelassen wäre. Dennoch bieten seine gelehrten Miniaturen in jedem Falle auch (und unter anderem) ein anregendes gesellschaftskritisches Instrumentarium, das allein dadurch Plausibilität besitzt, dass er gewissermaßen selbst auf die diesbezüglichen ästhetischen Potenziale hinweist und in diesem Zusammenhang eine kulturwissenschaftliche Methodik vorstellt, die das Gesellschaftliche stärker in den Fokus einer Theorie des Ästhetischen rückt. Diese nach außen hin kurze Betrachtung amerikanischer Meilensteine der Kulturgeschichte fordert eine weitergehende und tiefer schürfende Beschäftigung mit der Zwiespältigkeit und den Widersprüchen der amerikanischen Gesellschaft (als im Wesentlichen selbstkritisches und deutungsoffenes Projekt) entscheidend heraus und macht sie zu einem gewichtigen Stein des Anstoßes – in diverse Richtungen.

Titelbild

Franco Moretti: Ein fernes Land. Szenen amerikanischer Kultur.
Aus dem Amrikanischen von Bettina Engels und Michael Adrian.
Konstanz University Press, Konstanz 2020.
148 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783835391185

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