Der erinnerte Celan

Annäherung an den Dichter „Mit den Augen von Zeitgenossen“, ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Petro Rychlo

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus der Vielzahl der Neuerscheinungen im Jahr 2020, die anlässlich des 100. Geburtstages und des 50. Todestages des Lyrikers Paul Celan erschienen sind, ist ein Band mit Erinnerungen von Zeitgenossen besonders hervorzuheben. Insgesamt 55 Erinnerungen von Jugendfreunden, Dichterkollegen, Freunden, Celan-Forschern und Geliebten sind darin versammelt, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und aus verschiedenen Anlässen verfasst wurden. Die meisten von ihnen sind vor mehreren Dezennien in rumänischen, israelischen, US-amerikanischen, französischen oder russischen Zeitungen und Zeitschriften erschienen und heute schwer zugänglich.  

Mit der von ihm zusammengetragenen und herausgegebenen Auswahl will der ukrainische Germanist und Celan-Forscher Petro Rychlo „die Person dieses schwierigen Dichters in ein klareres Licht stellen und manche klaffende Lücke in seiner Biographie schließlich ausfüllen helfen“. Im Mittelpunkt all dieser naturgemäß mannigfaltigen Texttypen steht der Mensch und Dichter Paul Celan. Geordnet sind die Erinnerungen in vier Kapitel, die zwar die Namen der Orte tragen, die für Celan von großer Bedeutung waren, jedoch „nicht so sehr topographisch als vielmehr geistig geprägt sind“: Czernowitz, Bukarest, Wien und Paris. 

Die Hälfte seines Lebens verbrachte Paul Celan in Czernowitz. Die Erinnerungen zu dieser Periode – darunter das Interview mit Edith Hubermann, der Cousine väterlicherseits, und Malzia Fischmann-Kahwe, einer Kindheitsfreundin, die dem Dichter mit Stefan Zweigs Übersetzung von Verlaines Gedicht wohl „die Möglichkeit einer poetischen Übersetzung“ vor Augen führte – fokussieren die Kindheit, Jugend und Schulzeit, das frühe Interesse für Literatur und Sprachen sowie die tragischen Verluste des jungen Paul Ancel. In den Aufzeichnungen zur Czernowitzer Zeit beschreiben verschiedene Zeitzeugen das äußere Erscheinungsbild des späteren Dichters, betonen seine enge Bindung zur Mutter, seine ausgezeichnete Kenntnis der Pflanzen- und Blumenwelt, sein Interesse für kommunistische und sozialistische Ideen und seine extreme Sensibilität. Angesichts der ähnlichen Darstellung des Holocaustgeschehens in Weißglasʼ Gedicht ER und Celans Todesfuge verwundert es nicht, dass auch Celans Freundschaft zu Immanuel Weißglas thematisiert wird. Im Frühjahr 1945 verließ Paul Celan das von den Sowjets zurückeroberte Czernowitz für immer. 

Die Bukarester Zeit dauerte etwas mehr als zweieinhalb Jahre und zählt nach Einschätzung von Rychlo, „ungeachtet der wirtschaftlichen Misere der Nachkriegszeit und der persönlichen materiellen Not, zur glücklichsten Periode seines Lebens“. Von Zeitgenossen – allesamt bekannte Persönlichkeiten der Bukarester Literaturszene der Nachkriegszeit, darunter Petre Solomon, Ion Caraion, Marcel Aderca u. a. – wird Paul Celan als ausgelassener, geistreicher und schöner junger Mann geschildert. Thematisiert werden seine Kontakte zu den rumänischen surrealistischen Dichtern und Künstlern, seine Übersetzungen klassischer Werke russischer Literatur als Lektor im Verlag CarteaRusă sowie sein literarisches Schreiben in rumänischer Sprache. Während Ion Caraion die Bedeutung der rumänischen Lyrik der Zwischenkriegszeit für das Verständnis Celanʼscher Gedichte hervorhebt, erinnert sich Ovid S. Crohmălniceanu an das von Paul Celan sehr eindrucksvoll vorgetragene Lied Flandern in Not. Petre Solomon erwähnt den Kreis deutscher Dichter, den Celan ebenfalls frequentierte, sowie seine Freundschaft zu Alfred Kittner und Alfred Margul-Sperber, die Celan bei seinem Entschluss, nach Wien zu gehen, maßgeblich unterstützten.  

1947, als Paul sich entschlossen hatte, Rumänien zu verlassen, war er davon überzeugt, dass er in dem damaligen Kulturklima seine Gedichte nicht hätte schreiben und veröffentlichen können.

Dem sich ausbreitenden kommunistischen Regime entkommen zu wollen und frei zu sein, wie der rumänische Dichter Marcel Aderca Celans Entscheidung, Bukarest zu verlassen, begründet, war jedoch nicht die einzige Motivation. Ebenso wichtig war Celans Selbstverständnis als Dichter deutscher Sprache. Das Empfehlungsschreiben von Alfred Margul-Sperber, dem Mentor der deutschsprachigen Dichter aus der Bukowina, an Otto Basil, den Herausgeber der Wiener Zeitschrift Plan, sollte Celan dabei unterstützen. Wien erwies sich allerdings als ein Zwischenstopp, der nur etwas mehr als ein halbes Jahr dauerte. Die Erinnerungen von drei Wegbegleitern aus dieser Zeit – Otto Basil, Milo Dor und Klaus Demus – fokussieren die provisorischen Domizile Celans in der halbzerstörten Stadt, seine Bekanntschaft mit dem surrealistischen Maler Edgar Jené, der die (leider fehlerhafte und deshalb eingestampfte) Veröffentlichung von Der Sand aus den Urnen im Wiener Verlag A. Sexl finanzierte, sowie Celans Begegnung mit Ingeborg Bachmann. 

Celans Pariser Phase dauerte von Mitte Juli 1948 bis zu seinem Tod Ende April 1970 und war die intensivste in seinem Leben. Daher verwundert es nicht, dass dieser Abschnitt mit zwei Dritteln aller Erinnerungen der umfangsreichste des Bandes ist. Aus wenigen Zeugnissen über Celans frühe Jahre in Paris – darunter Rückblicke des Lyrikers Rino Sanders und von Brigitta Eisenreich, die vor einem Jahrzehnt ihre langjährige Liebesbeziehung mit Paul Celan bekannt machte – geht seine Faszination für die französische Hauptstadt hervor, in der er bis zur Heirat mit Gisèle de lʼEstrange in Einsamkeit und Armut als staatenloser Flüchtling lebte. 

Sowohl Freunde von früher, die Celan in Paris besuchten, als auch neue Bekannte betonen seine außerordentliche Aufmerksamkeit und Zuvorkommenheit, Intelligenz und Belesenheit, aber auch seine Verletzbarkeit und Stimmungsschwankungen. Mehrere Zeitgenossen erinnern sich, wie sehr die Goll-Affäre den Dichter an den Rand des Abgrunds führte und einen krankhaften Verfolgungswahn auslöste. Die Erinnerungen der Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, die Celan zu Lesungen einluden, wie etwa Bernhard Böschenstein, Gerhart Baumann, Gerhard Neumann u. a., betonen seine „strenge Auffassung vom Gedicht als zum andern hier und jetzt gesprochenes Wort“. Beeindruckend ist die Zahl der freundschaftlichen und kollegialen Beziehungen, die Celan fern vom zeitgenössischen deutschsprachigen Literaturbetrieb pflegte. Sie lassen auf die facettenreiche Gestalt des Dichters schließen und offenbaren auf plastische Weise ein Bild seiner Persönlichkeit.  

Der vielstimmige Erinnerungsband ermöglicht nicht nur die Annäherung an Paul Celan, einen der wichtigsten deutschsprachigen Dichter des 20. Jahrhunderts, sondern bietet auch sehr persönliche Einblicke in den deutschen Literaturbetrieb der 60er- und 70er-Jahren. Zwar wurden die meisten Texte bereits veröffentlicht, sie sind heute jedoch nur mit größerem Aufwand in Bibliotheken und Archiven zu finden. Interessierte Leser wie auch Celan-Kenner dürfen daher froh und dankbar sein, dass diese verstreuten Erinnerungen nun zusammengetragen in einem Band vorliegen. Der allgemeine Kommentar, die Einzelkommentare zum jeweiligen Ort, das Quellenverzeichnis und das Personenregister liefern darüber hinaus Erläuterungen, zahlreiche Informationen und Details, um sich ausführlicher mit dem Menschen und Dichter Celan zu beschäftigen. 

Titelbild

Petro Rychlo (Hg.): Mit den Augen von Zeitgenossen. Erinnerungen an Paul Celan.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
470 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429648

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