Barbara Köhler († 08. Januar 2021) zum Gedenken

Von Georgina PaulRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georgina Paul

Barbara Köhler schrieb selten persönlich. Auch wenn das Gedicht ‚PENELOPE IM SCHNEE‘ aus dem Zyklus Niemands Frau. Gesänge (Suhrkamp, 2007), dem diese beiden Zeilen entstammen (Niemands Frau, S. 60, 61), als einer ihrer seltenen persönlichen Texte wahrgenommen wird, gilt das nur auf verdeckte Weise. Von Penelope ist hier die Rede, und in der Stimme Penelopes wird gesprochen: Penelope, die seit zehn Jahren auf die Rückkehr des Odysseus wartet, nicht mehr an diese glaubt und den Zeitpunkt der anstehenden Entscheidungen durch das Weben und Wieder-Auftrennen des Grabtuches für Odysseus’ Vater Laertes geschickt verschiebt. Von Einsamkeit ist in diesem Gedicht die Rede und vom Altern des Körpers, von „altersflecken“ und von „zysten myomen tumoren“. Sterblichkeit wird konfrontiert: „Niemand wird kommen. Und / kein tag. Ich werde nichtsein“ (Niemands Frau, S. 61). Die Arbeit, mit der das lyrische Ich der „finalen feststellung“ durchaus doppeldeutig entgegenarbeitet, kann demnach als Penelopes Aktivität am Webstuhl wahrgenommen werden; gleichzeitig scheint aber die Arbeit der Autorin durch, deren Stimme sich hier mit derjenigen Penelopes deckt. „ich lagere aus“ (Niemands Frau, S. 60): Es entsteht ein Werk, das „die hardware der ichmaschine“ überleben und als eine andere Art von „hardware“ der Nachwelt erhalten bleiben wird – wie der Stein, der am Ende von Ovids Erzählung das einzige ist, was von Echo übrigbleibt (siehe Georgina Paul: Material Metamorphoses. Barbara Köhler and Anja Utler rework Ovid). Eine Stimme klingt nach, „TURNING TO STONE“ – wie es in ‚TURNING / TURING‘, einem weiteren Gedicht aus Niemands Frau (S. 18, 19) heißt.

Niemands Frau ist anzumerken, wie sehr sich der Zyklus mit der poetischen Tradition als einer Tradition vergangener, vergänglicher Stimmen befasst: Bekannte Zeilen von Vorgängern und Vorgängerinnen, ins dichte Gewebe von Barbara Köhlers eigenem Text eingewoben, werden als „reste von gesten gestern geistern / des untotes flüstern“ (Niemands Frau, S. 16) angesprochen; das lyrische Korpus befindet sich im Schwebezustand, im Limbus, oder in der Unterwelt, im Hades, wo Schatten durch Lektüre wieder in Bewegung geraten. Nehmen wir ‚PENELOPE IM SCHNEE‘ als ein Gedicht, in dem die Dichterin ihrer eigenen Sterblichkeit entgegensieht und über die Lebensmöglichkeiten ihrer „WORTE, DIE SCHNEEGESTÖBER GLICHEN“ (Niemands Frau, S. 74, 81) nachdenkt, so ist es als ein überraschend sachliches sowie ganz und gar nicht egoistisches Nachdenken über das Nachleben ihres Werkes aufzufassen – und somit eine Vorausahnung der jetzigen Perspektive, wo es nun heißt: „THE PERSON YOU HAVE CALLED / IS NOT AVAILABLE“ (Niemands Frau, S. 15). Die Parole für diejenigen, die für das Weiterleben ihrer Worte und ihrer poetischen Stimme sorgen wollen, lautet: „PLEASE HOLD THE LINE […] WHILE WE TRY TO CONNECT YOU“ (Niemands Frau, S. 80-81).

Barbara Köhlers Anfänge als Lyrikerin lagen in der inoffiziellen Szene der 80er-Jahre in der DDR, als „das Land uns verlassen hat und die Hoffnung / uns fahren läßt“, wie es im programmatischen Gedichtzyklus Papierboot‘ (Deutsches Roulette. Gedichte 1984-1989, S. 54) heißt. Nicht nur einsame Lektüre, sondern Gespräche und Geselligkeiten sind aus ihrer ersten Gedichtsammlung Deutsches Roulette (Suhrkamp, 1991), welche die Gedichte der oft desolaten 80er-Jahre versammelt, herauszulesen. Dieser ersten offiziellen Publikation gehen Samizdatarbeiten und Kollaborationen – insbesondere mit visuellen Künstlerfreunden und -freundinnen – voraus, deren Spuren im Suhrkamp-Band zwar verwischt, die für das zukünftige Werk aber richtungsweisend sind. Später wird Barbara Köhler immer wieder mit anderen zusammenarbeiten, beispielsweise mit den Installations­künstlerinnen Anja Wiese, Suse Wiegand und Andrea Wolfensberger, oder mit dem Künstler Ueli Michel, mit dem sie im von Jörg und Karen van den Berg betriebenen Kleinverlag pict.im den portugiesischen Zyklus cor responde mit Parallelübertragungen von Maria Teresa Dias Furtado (1998) veröffentlichte. Wenn Gedichtbände zu wunderbaren Gegenständen wurden, die aus Bildmaterial und mit größter Vorsicht gesetzten Schriftsätzen erlesene Kunstwerke machten, war oft Hans-Dirk Hotzel Mit-Verantwortlicher ‚für zeichen & wunder‘ (Niemands Frau, S. 109). In den letzten Jahren veröffentlichte Barbara Köhler im Wiener Korrespondenzen-Verlag – auch weil der Verleger Reto Ziegler schöne, handliche Bücher herstellte und sich auf ihre strengen Vorstellungen von Schriftbild und Aufmachung eines Bandes einließ.

Der genauen Aufmerksamkeit für das Materielle entsprach Barbara Köhlers Herausspüren der Körperlichkeit textueller Form. Dies gilt sowohl für ihre lyrischen Arbeiten als auch für ihre Texte im öffentlichen Raum. Im ersten Lyrikband Deutsches Roulette fielen Barbara Köhlers Fertigkeiten in der Handhabung lyrischer Formen auf, ob Sonett, Triolet, oder Rondeau. Suspekt fand sie, dass ‚Rondeau Allemagne‘ insbesondere in Anthologien aufgenommen wurde: Sie wolle kein „Zirkuspferd machen, […] dass andere applaudieren“, so Köhler in einem Gespräch mit der Verfasserin im von dieser und Helmut Schmitz herausgegebenen Band Entgegenkommen. Dialogues with Barbara Köhler (2000, Amsterdam, Atlanta, GA, S. 32). Da entwarf Köhler stattdessen eine „maschinelle Form“ (ebd.), die sogenannte Boxform, bei der jede Zeile die gleiche Anzahl von Anschlägen hat (oder variiert) und die ab ihrer zweiten Sammlung Blue Box (Suhrkamp, 1995) zu der für sie charakteristischen wurde. Diese Form eröffnete eine andere Art des Formspiels: „mir gefallen Wendungen / die verwandeln die EinRichtung zwischen / verrückten Wänden in ungehörige Räume“, wie es in Blue Box im Gedicht ‚Entpuppung‘ (S. 43) lautet. Die Boxform wurde in der Tat räumlich, zu einer Art von ‚Areale[n]‘ (Niemands Frau, S. 11), in denen die Bedeutungen zum Oszillieren gebracht wurden – was auch körperlich spürbar war als eine energiegeladene, von der Stimme vermittelte Spannung, wenn sie ihre Texte vorlas.

So war es gut nachvollziehbar, dass sie sich nicht nur für Text als Raum interessierte, sondern auch für Text im Raum. Schaufenster, ein Parlamentsgebäude, Galerie-, Museums- und Hochschulwände wurden wortwörtlich ansprechend, die Betrachtenden, Lesenden pointiert in den Raum gestellt. Immer ging es aber dabei um Sprache und um die Fähigkeiten von Worten, auf Perspektive und Bewusstsein verändernd zu wirken. Einerseits ist die schon vorhandene Sprache unentrinnbar: „wir reden, wie uns der Mund gestopft wurde“ (‚Vogelbild‘, Blue Box, S. 38). Andererseits wurde – in von Wittgenstein inspirierten Sprachspielen – die Sprache gedreht und gewendet, bis über die „Modulationen, Nuancen, Betonungs­verschie­bungen, Polysemien“ – so Köhler in Wittgensteins Nichte. Vermischte Schriften. Mixed Media (Suhrkamp, 1999, S. 69) – Bewegung entstand und vermeintliche Stabilitäten ins Fließen kamen.

Dies gilt auf spezielle Weise für Barbara Köhlers Arbeit an der Differenz zwischen ‚er‘ und ‚sie‘. Sie war sich dessen bewusst, als eine ‚sie‘ zu sprechen; den Lesenden und Betrachtenden vergegenwärtigte sie, dass dies noch längst keine Selbst­verständlich­keit war. Als Frau zu sprechen und zu schreiben hieß, in eine poetische Tradition einzubrechen, die nicht unbedingt einen (Sprach-)Raum offenhält, worin die eine „zählt“ (‚Stimmen‘, Wittgensteins Nichte, S. 45-70). Der Bedeutungsvielfalt von ‚sie‘ – sowohl Objektkasus als auch Subjektkasus, sowohl Singular als auch Plural sowie auch als Ansprechsform ‚Sie‘ zu verstehen – wurde aber auch in ihren Schriften eine utopische Dimension zugeschrieben. Wo ‚er‘ nur als Subjekt zu verstehen ist, in einem Satz, der als „subjekt-prädikat-objekt-schusslinie, one-liner“ (Niemands Frau, S. 74) aufgefasst wird, eröffnet ‚sie‘ die Möglichkeiten der Beziehungsweise, der Pluralität von Personen, die sich aufeinander einlassen, sich entgegenkommen, und gleichzeitig die Pluralität von Bedeutungen: „im zwischen-, im freiraum: der bewegung, schwingung, im klang, gesang, im stimmigen, im puls, im impuls, in der unschärfe, der relation. Im gedicht“ (Niemands Frau, S. 81).

Ihre Stimme, diese ganz eigentümliche Stimme, ist ab jetzt nur noch auf Band zu hören. An uns liegt es nun, ihr Stimmen zu sein, die die „finale feststellung“ nicht zulassen.

 

Literatur:

Barbara Köhler: Deutsches Roulette. Gedichte 1984-1989. Frankfurt am Main 1991.

Barbara Köhler: Blue Box. Gedichte. Frankfurt am Main 1995.

Barbara Köhler und Ueli Michel: cor responde. Duisburg/Berlin 1998.

Barbara Köhler: Wittgensteins Nichte. Vermischte Schriften. Mixed Media. Frankfurt am Main 1999.

Barbara Köhler: Niemands Frau. Gesänge. Frankfurt am Main 2007.

Barbara Köhler & Georgina Paul: ‘Ich wäre mir so gerne selbst/verständlich‘: Ein Gespräch. In: Georgina Paul und Helmut Schmitz (Hg.): Entgegenkommen. Dialogues with Barbara Köhler. Amsterdam, Atlanta, GA 2000, S. 25-43.

Georgina Paul: Material Metamorphoses. Barbara Köhler and Anja Utler rework Ovid. In: International Journal of the Classical Tradition 26 (2019), S. 359-376.

 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen