Was ist Politik?

„Undienlichkeit“: Iris Därmanns wichtige, aber nicht immer überzeugende Überlegungen zu Widerstand, Versklavung und Arbeit

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Undienlichkeit von Iris Därmann, Professorin für Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Ästhetik an der Humboldt-Universität, ist keine Monographie, sondern ein Band teils älterer, teils neu geschriebener Aufsätze, jeder davon in sich instruktiv, ich habe viel über Versklavung, Versklavungsformen und die Geschichte der Sklaverei gelernt. 

„Zum Auftakt“ (so der Titel des einleitenden Textes) listet Därmann die Themen: heutige Tätowierungen gingen auf „antike Sklavenstigmata“ zurück; ein anderer Aufsatz behandele die Nummerntätowierung in Auschwitz, ein weiterer die Peitsche als Züchtigungswerkzeug. Dann erwähnt Därmann die Bildpolitiken des Lynchens einerseits, Gegenbilder afroamerikanischer respektabler Bürgerlichkeit andererseits. 

„Aus alledem“ setze „sich eine Gewalt- und Ideengeschichte menschlicher Dienstbarmachung und Versklavung zusammen“. Das finde ich doppelt merkwürdig. (i) lässt sich aus noch so vielen Einzelstudien nicht auf ein Gesamttableau extrapolieren, (ii) können obige Themen, da zu speziell, eher nicht zu solch einer Verallgemeinerung gerinnen. Hier wird suggeriert, es gebe eine allumfassende große Gewalt- und Ideengeschichte der Dienstbarmachung und Versklavung, aber gibt es die (eine)? 

Dann heißt es: „Einen markanten Knotenpunkt“ dieser Geschichte bilde „die prekäre Rolle der europäischen politischen Philosophie“, die Därmann „als Legitimationsbeschafferin der Sklaverei und Miterfinderin des dienstbar gemachten Menschen“ identifiziert. Allerdings werden nur einige politische PhilosophInnen behandelt. In eigenen Aufsätzen Hobbes, Locke, Marx, Arendt (es wäre ein bloßer Streit um Etiketten, ob man Carl Schmitt, Martin Heidegger und Ernst Jünger als politische Philosophen ansieht). Bei der Erörterung DER politischen PhilosophInnen wird notiert, diese hätten „seit der Antike […] legitimatorische Konzepte der kriegerischen Versklavung“ entwickelt. Alle? 

Därmann will dabei die „Lesbarkeit“ der Texte „in vierfacher Hinsicht“ erhöhen: (i) geht es um den „Nachweis der praktischen Mitwirkung“ des/der AutorIn an Kolonialismus/Versklavung, (ii) um die „Herausarbeitung der kolonialphilosophischen, rassistischen und vernichtungspolitischen Signatur“ der Texte, (iii) um deren „weitere historische Kontextualisierung durch Sichtbarmachung der Gewaltpraktiken und des durch sie erzeugten Leids“, (iv) soll aufgedeckt werden, was diese DenkerInnen verschwiegen: Wo Gewalt ist, ist Widerstand; dabei messe sie Widerstand nicht daran, ob er ‚erfolgreich’ gewesen sei, sondern ob er überhaupt stattgefunden habe.

In zwei Aufsätzen werden Hobbes und Locke filetiert. Das überzeugt bei Locke. Eindeutig: in allen vier Anklagepunkten schuldig. Und Hobbes? Ja, er profitierte als Privatperson vom englischen Kolonialismus. Aber ist seine Theorie „die rechtsphilosophische Legitimationsurkunde der englischen Kolonisierung Nordamerikas?“ Därmann behauptet, Hobbes habe den Naturzustand aus Sicht der englischen Siedler konzipiert. Es ging nicht um den Kampf aller gegen alle, sondern um den Kampf der Siedler gegen die ‚Wilden‘. Warum hat Hobbes das dann in seinem Naturzustand nicht so konzipiert? Därmann weiß es genau: „Im Zentrum“ der Hobbesschen „politischen Zoologie“ stünden „die koloniale Versklavung der Native American Tribal Groups auf der einen Seite, die politische Unterwerfung der englischen Bevölkerung im Zeichen des „Staatsautomaten“ auf der anderen“. Hm. 

Und wie sieht es mit dem Angeklagten Marx aus? Sicher, in seiner Behandlung der amerikanischen Sklaverei lässt er die faktische Sklaverei in der Lohn-Sklaverei des Proletariers verschwinden, verschleift den gewaltigen Unterschied zwischen wirklicher Leib-Eigenheit und Verkauf der Arbeitskraft. Und sicher ist die Behauptung, der Proletarier stehe noch schlechter als der Sklave, weil dieser immerhin versorgt werde, mehr als kritikabel. Aber legitimiert Marx damit die amerikanische Sklaverei? Hm. 

Und was ist mit Hannah Arendt? Da kann es gar nicht mehr um die oben angeführten vier Anklagepunkte gehen, hier will Därmann nachweisen, Arendts Begriff von Politik sei falsch. Bekanntermaßen orientiert sich Arendt an der antiken Polis. Sie unterscheidet drei Grundtätigkeiten des Menschen: Arbeiten, Herstellen, Handeln. Handeln ist die einzig freie Tätigkeit, sie stellt gewissermaßen das Politische dar: Im öffentlichen Raum begegnen sich freie und gleiche, aber verschiedene Menschen und verständigen sich über das, was für das Gemeinwesen zu tun ist: Handeln ist die „politische Tätigkeit par excellence“, es gehört zur vita activa

Bezogen auf den Nationalsozialismus fragte sich Arendt, wie es möglich war, Menschen zu Nichtmenschen zu machen. Sie unterschied drei Stufen: Tötung der juristischen Person (zunehmende Entrechtung jüdischer Bürger), Tötung der moralischen Person (u.a. dadurch, dass man bei den Judenräten Opfer zu Komplizen machte), schließlich wird das Individuum durch Folter verstümmelt, ausgelöscht, so dass nur noch ein Reaktionsbündel zurückbleibt, Widerstand ist nicht mehr möglich. Hier, so Därmann, marginalisiere Arendt nicht nur den Widerstand, sie definiere das Politische nicht richtig, sie verstehe es nur als vita activa. So erkenne sie nicht, dass ein Suizid auch politisch sein könne. 

Kurz, Därmann geht es darum, ‚nachzuweisen‘, dass das Politische auch die vita passiva umfasse. 

Dazu zwei Aspekte. In der Wissenschaftsgeschichte wies Ludwik Fleck darauf hin, dass es keine ‚richtige‘ Definition eines Begriffs gebe. Eine bestimmte Definition sei nicht „einfach falsch“, man könne etwas „so oder so definieren, aber bindend für die Folgerungen“. Aus der einen Definition folgt dies, aus der anderen das. Mit einer jeweiligen Definition handelt man sich bestimmte Folgen, Denkmöglichkeiten ein und schließt andere aus. Vielleicht ist das auch hier so. Därmann will die politische Philosophie dekonstruieren und das erfordere ein „philosophisches Nachdenken über Leidens- und Widerstandsformen des Sich-Undienlich-Machens und des Undienlich-Werdens. Es geht um „Gewalträume“, in denen es oft kaum Handlungsmöglichkeiten gegeben habe, das Politische müsse „ausgehend von solchen „Extremsituationen“ und im Zeichen der Undienlichkeit gedacht werden“. 

Und was ist ‚Undienlichkeit‘? ‚Undienlich‘ ist die Sklavin, die ihr durch Vergewaltigung durch ihren master entstandenes Kind abtreibt oder es nach der Geburt tötet. Selbstverstümmelung, Zerstörung von Arbeitsgeräten, Streik, Revolte. Die Flucht nach Norden ist Widerstand. Auch das mystisch-mythische ‚flying back to africa‘ kann Widerstand sein, bedeutet, sich der Dienstbarmachung zu entziehen: sich selbst zu töten kann Widerspruch dagegen sein, zu einem bloßen Körper degradiert zu werden. Sicher kann man das als Widerstandsformen sehen. Därmann hat Recht, (passiver) Widerstand „entspricht noch der kleinsten Gegenmacht, die das Gefälle für einen Augenblick „diagnostisch“ verkehrt“. Hier macht Därmann darauf aufmerksam, dass das bisherige Verständnis von Widerstand am Resultat orientiert ist, mithin Aspekte von Widerständigkeit und Sich-der-Dienstbarmachung-Entziehen unter den Tisch fallen. 

Andererseits: Nehmen wir den Fall eines Aufstands, bei dem die Revoltierenden von ihrem kollektiven Untergang ausgehen und die Macht der master anschließend nur umso stärker zementiert wird. Ein anderes Verständnis als das Därmanns misst Widerstand als genuin politisches Handeln daran, ob er die Machtasymmetrien verändert. Ist das ‚falsch‘?

Därmann also nimmt den Tod, u.a. den Suizid, ins Politische hinein: „Ohne die Transitivität auf den Tod hin ist das Politische selbst nicht denkbar. Sie bezeichnet die weitgehende vita passiva, um sich radikal undienlich zu machen“, denn das „genuin Politische“ müsse ausgehend „von menschlicher Sterblichkeit und Gebürtlichkeit, im Widerstand dessen, was nicht mehr aktiv widersteht“ begriffen werden, „in der Unmöglichkeit, restlos, mit Haut und Haaren, zum Verfügungsobjekt […] eines fremden Willens gemacht zu werden.“ Oke. 

Sie verkoppelt diese Definition des Politischen unter dem Titel Undienlichkeit mit einer Re-Definition von Arbeit, die mir nicht einleuchtet. Mal sehen, ob ich sie da völlig missverstehe. 

Ihre Überlegung geht ungefähr so: Arbeit kann entweder für die eigene Erhaltung oder zur Erhaltung eines anderes geleistet werden (da der Kapitalist den Surplus meines Arbeitens für sich abschöpft, handelt es sich um eine Perversion der Mehrarbeit – hm). Nun kann Arbeit für einen anderen entweder befohlen, angeordnet, erzwungen (das Verhältnis des Sklaven in der Sklaverei) oder freiwillig geleistet werden. 

Dabei behauptet Därmann, Trauerarbeit sei „konstitutiv für jede Form von Arbeit“, sie sei „keine Arbeit unter anderem“, sondern „die Arbeit selbst“.“ Denn: „Jede Arbeit, die arbeitet, ohne zu trauern, die nicht zugleich freie Mit-Arbeit für einen Anderen sein kann, ist und wird destruktiv.“ Ähnlich:  „Destruktive Arbeit“ sei durch das „Fehlen von Trauerarbeit charakterisiert“, diese sei „die einzige Arbeit, die, im Unterschied zu den Tätigkeitsformen der Dienstbarmachung, im Angesicht menschlicher Sterblichkeit ebenso praktiziert wie erlitten“ werde. Trauerarbeit sei als „Praxis der Aufschubfrist des Todes“ eines anderen die „Arbeit par excellence“. Infolgedessen müsse „Arbeit im Zeichen der Undienlichkeit wesentlich von der Trauerarbeit aus gedacht werden. Jede Arbeit, die nicht berührt ist von der Verletzbarkeit und Sterblichkeit des Anderen, die arbeitet, ohne zu trauern und ohne den Tod des Anderen aufzuschieben, jede Arbeit also, die nicht zugleich auch Trauerarbeit ist […], ist und wird destruktiv.“

Was, zum Teufel, ist damit gemeint? Ich verstehe das so: Därmann meint mit Trauerarbeit zwei heterogene Sachverhalte: (i) bedeute Fremderhaltung eines anderen, seinen Tod hinauszuschieben, also sein Leben zu verlängern. Das ist nur prima vista plausibel. Das wäre denkbar im Fall von Pflegearbeit. Um bei einem Bettlägerigen einen Dekubitus, der über eine Infektion zu seinem Tod führen würde, zu vermeiden, lagere ich ihn alle zwei Stunden um. Das schiebt den Tod hinaus. Anderes Beispiel: Ich helfe einem Kind im lockdown bei den Schulaufgaben – wird dadurch das Leben des Kindes verlängert? Unterließe ich es, würde sein Leben verkürzt werden? Das ist Humbug. (ii) soll Trauern konstitutiv zum Arbeiten gehören. Man kann sich schwer vorstellen, was das heißen soll: trauern bedeutet ja in etwa: ich empfinde über etwas Trauer. Was aber sollte mein Gefühl bei der Arbeit (Freude, Trauer, Albernheit) über die Arbeit selbst aussagen? Über ihre Pro- und/oder Destruktivität? Trauert man bei der Arbeit? 

Weiter: eine Arbeit, die nicht den Tod eines anderen aufschiebt, wäre destruktiv? So die Definition. Ist es destruktiv, wenn ich dem Kind bei den Hausaufgaben helfe? In welchem Sinne? – Und: wenn ich nicht „trauere“ beim Arbeiten, also doch wohl: das Gefühl der Trauer habe: das wäre dann destruktiv, also irgendetwas zerstörend – aber was? Was zerstöre ich, wenn ich beim Mithelfen beim Malern der Wohnung eines Freundes lustig vor mich hinpfeife? (Der würde mir was husten, wenn ich seine Wände verschandelte.) – Völlig unklar. 

Sind meine Monita zu umständlich? Zu pingelig? Verfehlen sie den Sinn? Ich weiß es nicht. Mögen andere Därmanns zentrale theoretische Überlegungen anders lesen – so spannend, instruktiv, auch erkenntniserweiternd vieles an der Lektüre war, manches verwirrt mich.

Titelbild

Iris Därmann: Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020.
550 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783957578747

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