Zwischenkriegszeiten

Jürgen Heimbach erkundet in „Vorboten“ die Gefühlslage im besetzten Rheinhessen des Jahres 1920

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jürgen Heimbach hat seinem neuen Roman Vorboten ein Zitat aus der Büchner-Preis-Rede von Lukas Bärfuss vorangestellt: „Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor.“ Die Rede von Bärfuss nimmt ihren Ausgang von der Überlegung, dass er als Autor seinen Leserinnen und Lesern viel zumutet, handeln doch seine Texte alle von Gewalt. Gerade in einer Zeit, in der die letzten Zeitzeugen des Holocaust sterben und uns nicht mehr persönlich an Krieg und Verbrechen erinnern können, ist es umso notwendiger, an die Verbrechen zu gemahnen, die nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart begangen werden. 

Das Vergessen – so Bärfuss – ist der erste Schritt hin zu einem neuen Krieg. Davon ausgehend kann der Roman Vorboten von Jürgen Heimbach als Mahnung gelesen werden, nicht zu vergessen, wie es zum Zweiten Weltkrieg kam. Dazu erzählt er von der Zeit direkt nach dem Ersten Weltkrieg in einem fiktiven Dorf im besetzten Rheinhessen. Der Große Krieg und die an der Heimatfront kaum zu vermittelnde Niederlage des deutschen Heeres hat die Bevölkerung getroffen. In Folge des Versailler Vertrags untersteht die Region der französischen Besatzung. Dass ausgerechnet Soldaten aus den französischen Kolonien mit dunkler Hautfarbe über die deutsche Bevölkerung wachen, greift das Selbstwertgefühl der hungernden Bevölkerung auf bislang nicht erfahrene Weise an. 

Ausländerfeindlichkeit und Misstrauen selbst innerhalb des eigenen Familien- und Freundeskreises kennzeichnen diesen Roman. Zwar trägt Vorboten den Untertitel Kriminalroman, er bietet aber viel mehr als die Aufklärung eines Verbrechens. Schon allein die Frage, welches Verbrechen im Zentrum steht, ist schwer zu beantworten: der eher beiläufig erwähnte Mord an einem Separatisten, die Ermordung der jungen Frau Else vor sieben Jahren oder das Verschwinden von Josepha, deren Tod von allen behauptet wird? Alle sind lediglich Teil des Gesellschaftspanoramas, das Heimbach ausgehend von dieser Dorfbevölkerung in alarmierender Weise zeichnet. Im historischen Roman wird nachvollziehbar, wie eine demoralisierte Bevölkerung sich an jeden Strohhalm klammert, der ihr etwas Glück und Freude in der Zukunft verspricht. Wer sich dieser Hoffnung widersetzt, wird zur Gefahr für die Gemeinschaft. 

Eine solche Gefahr scheint Wieland Göth zu sein. Der Sohn des Dorflehrers, der sich schon als Jugendlicher mehr für Literatur als für seine Mitmenschen interessierte, hat das Dorf bereits ein Jahr vor Kriegsbeginn verlassen. Selbst seine Familie wusste nicht, wo er sich aufhält. So kursierten verschiedene Gerüchte im Dorf. Im Jahr 1920 kehrt er in seine Heimat zurück. Der Krieg ist seit einem Jahr vorbei. Wie und wo er den Krieg verbracht hat, bleibt lange eine Leerstelle, obwohl im Dorf mit unverhohlener Neugier nachgefragt wird. Außer einer Verletzung an der Schulter, die ihm erst kürzlich zugefügt wurde, ist er körperlich unversehrt und unterscheidet sich bereits dadurch von seinen Altersgenossen, die den Einsatz an der Front überlebt haben. 

„Warum bist du zurückgekommen? […] Hier gibt es nur Hunger und Tod.“ Mit diesen Worten wird er von einer alten Frau im Dorf begrüßt. Sie sagt nur die halbe Wahrheit. Das Dorf ist vom Krieg gezeichnet – nahezu jede Familie hat ihre Söhne an der Front verloren, wer zurückgekehrt ist, ist körperlich oder seelisch verwundet. Im ehemals reichen Landstrich herrschen aufgrund der zu bezahlenden Abgaben und der Bedürfnisse der einquartierten Soldaten Hunger und Armut. 

In der Familie des Dorflehrers Arbogast Göth waren die Konflikte bereits vor dem Krieg unübersehbar. Der an einer akademischen Karriere gescheiterte Vater herrscht mit strenger Hand im Klassenzimmer und hofft, dass seine beiden Söhne seinen unerfüllten Traum leben. Für die Schläge, die der Vater im Klassenzimmer austeilt, rächen sich die Kinder an seinem sensiblen Sohn Wieland. Nun ist der Vater todkrank, kann sein Bett nicht mehr verlassen, ersäuft seine Schmerzen in Alkohol und tyrannisiert seine Umwelt. Die ebenso intelligente wie stolze Mutter Hella hat sich 1917 das Leben genommen. Der bereits in seiner Jugend gewalttätige Bruder Wolfgang ist an Leib und Seele verwundet aus dem Krieg heimgekehrt. Er hat nicht nur ein Bein verloren, sondern zeigt auch die psychischen Symptome eines Kriegszitterers. Wenn er sich aufregt, verliert er die Kontrolle über seinen Körper. Diese Machtlosigkeit macht ihn danach umso aggressiver. Die jüngere Schwester Josepha, die als selbstbewusste und unnachgiebige junge Frau charakterisiert wird, ist verschwunden. Sie wurde ermordet, so erzählt man sich im Dorf. Ihre Leiche wurde aber nicht gefunden. Der Graf, der der geheime Herrscher der Umgebung zu sein scheint, hat ein Kopfgeld auf ihren angeblichen Mörder ausgesetzt, den ehemaligen russische Zwangsarbeiter Oleg, der nach dem Krieg im Dorf geblieben war, da er aus Angst vor den Kommunisten nicht in seine Heimat zurückkehren wollte. 

Dass Wieland nicht aus Liebe zur Heimat oder Sehnsucht nach seiner Familie zurückgekehrt ist, wird bereits am Ende des ersten Kapitels klargestellt, wenn der Erzähler konstatiert: „Er kehrte zurück mit dem Ziel, einen Mann zu töten.“ Der überwiegend aus der externen Fokalisierung erzählte Roman, bleibt nah am Erleben Wielands. Seine Streifzüge durchs Dorf und seine Besuche bei alten Bekannten werden erzählt. Ab und an wird auch eine persönliche Erinnerung in die Erzählung eingeflochten. Dennoch bleiben auch dem Leser seine Beweggründe lange verborgen. Selbst Freya, die ihm im Lauf der Geschichte am nächsten kommt, gelingt es nicht, sein Geheimnis zu ergründen. 

Wer ist der Mann, den Wieland töten möchte? Was sind die Gründe für die geplante Tat? Was hat seine Jugendliebe Else, die immer wieder durch seine Träume geistert, mit dem geplanten Mord zu tun? In welchem Verhältnis steht er zur selbstbewussten Freya, die nach dem Tod ihres Mannes die Schmiede selbständig weiterführt? Der klug komponierte Roman nähert sich den Antworten zögerlich, als wollte er den Leser vor einer Wahrheit beschützen, die nur in kleinen Portionen erträglich ist. Vielleicht ist das aber auch ein geschickter Schachzug des Autors, dessen Roman den Leser noch lange beschäftigen wird.

Titelbild

Jürgen Heimbach: Vorboten. Kriminalroman.
Unionsverlag, Zürich 2021.
224 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005679

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