Vom Hügel

Ein Kommentar zu den viralen Texten des Lyrik-Shootingstars Amanda Gorman

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Lyrik ist keine körperbetonte Disziplin. Als Anfang Februar die Tampa Bay Buccaneers im 55. Endspiel des wiederum sehr körperbetonten American Football – dem Super Bowl – auf die Kansas City Chiefs trafen, hätte daher wohl niemand damit gerechnet, zu diesem Anlass auch ein Gedicht präsentiert zu bekommen. Die junge Dichterin Amanda Gorman las einen Text über drei „essential workers“ und leitete damit die alljährliche, Pathos-überfrachtete Show, die das Endspiel darstellt, ein.

Auch auf der anderen Seite des Atlantiks, wo man sich gemeinhin etwas weniger für Football interessiert, aber nicht weniger für Lyrik, blieb das nicht unbemerkt. Denn spätestens seit der Amtseinführung des frisch gewählten US-Präsidenten Joe Biden im Januar ist Gorman Vielen ein Begriff. Damals rührte die 22jährige als bislang jüngste Literatin bei der „Inauguration“ zahlreiche Zuschauer mit dem Gedicht The Hill We Climb – vorgetragen auf den Stufen des Parlamentsgebäudes. Es thematisiert die schmerzhafte Gegenwart der gespaltenen USA und deren gemeinschaftliche Heilung.

Ihr Vortrag vom Januar ging viral. Prominenz-Größen wie Barack Obama und Oprah Winfrey priesen Text und Autorin via Twitter. Und auch diesseits des großen Teichs wurde die junge Lyrikerin mit Lob überhäuft. Bald nach dem Vortrag zur Amtseinführung folgte die Nachricht, dass Gorman, die sich als studierte Soziologin und Harvard-Absolventin auch als feministische und antirassistische Aktivistin versteht, Autorin bei Hoffmann und Campe werde.

Vor dem Hintergrund der positiven und breiten Rezeption wird auch die Einladung zum Super Bowl und dem neuen Text über jene „frontline workers“ nachvollziehbar, die dort wie hier in der Pandemie mithin die größten Lasten zu tragen haben. Gorman, die zwar schon in Jugendjahren mit einem Lyrikpreis geehrt worden, jedoch noch nie vor Millionen(!)-Publikum aufgetreten war, gelang damit innerhalb weniger Wochen die lyrische Teilhabe an den rituellen Höhepunkten sowohl der politischen als auch der sportlichen Selbstvergewisserung des Landes.

Ein wenig überraschen kann daher wohl, dass die Machart ihrer Texte bislang weniger Gegenstand des Interesses war als deren Inhalt. Das mag mit Blick auf die Anlässe der Gedichte nachvollziehbar sein, doch dürfte angesichts des großen Lobs auch ein genauerer Blick von Interesse sein. Zweifellos hat sie mit The Hill We Climb die richtigen Worte für den Ist-Zustand der US-amerikanischen Nation und das Lebensgefühl zahlloser Amerikaner gefunden, zweifellos waren auch ihre Zeilen zu den systemrelevanten Arbeitskräften vor dem Super Bowl richtig und wichtig. Doch in welcher Form wurden diese so wirkmächtigen Gedanken präsentiert?

Wirft man einen genaueren Blick auf Gormans Blockbuster-Gedichte, so fällt schnell eines auf: ihre Eingängigkeit. Ihre Verse sind in den beiden Texten eher schlicht. Sie hält sich an kurze Sätze, oft im Zeilenstil, eingängige (Binnen-)Reime, wo möglich und nötig, manchmal Assonanzen, und eine leicht zu verstehende, emotionalisierte Sprache – abgerundet durch eine effektvolle, resümierende Pointe: „For there was always light./If only we‘re brave enough to see it./If only we‘re brave enough to be it.“ bzw. „For while we honor them today/It is they who every day honor us.”. Getragen wird alles von einem eingängigen Rhythmus und einem dicken Pathos-Fundament – ganz passend zum überpatriotischen Polit- bzw. martialischen Wettkampf-Bombast der Anlässe.

Wer etwas gnadenloser urteilt, formuliert das anders: lasche Reime, abgegriffene Bildsprache („victory won‘t lie in the blade, but in all the bridges we‘ve made“!), übertrieben pathetische Dramatisierung sowie Verse, die mehr Wert auf Klang legen als auf Sinn und letzteren schlussendlich opfern. Dazu die für manche vielleicht etwas überzogene und irgendwie inhaltslos wirkende Gestik während des Vortrags. Die perfekte Grundlage für kulturpessimistische Auslassungen über das Unheil der Gegenwartslyrik: Alles nur noch Slam Poetry! Stupide und flach! Da guck ich lieber Fußball! Äh, Football!

Genau. Kontext! Gormans Texte mögen simpel sein, sie mögen nicht den höchsten ästhetischen Ansprüchen standhalten, sie mögen vielleicht nicht einmal mediokren ästhetischen bzw. grammatikalisch-stilistischen Ansprüchen standhalten – aber das ist auch gar nicht ihr Ziel. Die beiden Gedichte wurden nicht nur vor einem Millionen-Publikum vorgetragen, sondern auch für ein Millionen-Publikum geschrieben. Es ging Ihnen nicht darum, eine einzelne Thematik akademisch präzise in zahllosen Facetten darzulegen, sondern darum, zahllose Individuen mit einem einzelnen Text anzusprechen.

Nicht zufällig haben sich die beiden Texte Gormans viral verbreitet. Ihre Eingängigkeit gewährleistet nicht nur schnelle, sondern auch breite Rezipierbarkeit. Die Autorin hat damit den richtigen Stil gefunden, für eine mediale Öffentlichkeit, die sich zu großen Teilen auch durch und aus Social Media speist. Und dieser Stil ist darauf angewiesen, dass viele Menschen die Texte schnell verstehen können. Das hat natürlich auch ästhetische Nebenwirkungen, doch liegt darin auch die Kraft der Texte. Eine Kraft, die zwar ggf. mehr auf Quantität als auf Qualität fußt, die aber auch vielen noch so hochqualitativen Texten abgeht.

Auch wenn Gorman selbst nicht ohne Pathos über die Lyrik sagt, sie sei „typically the touchstone that we go back to when we have to remind ourselves of the history that we stand on, and the future that we stand for” und damit wahrscheinlich auch ihre eigenen Texte im Sinn hat, so sind diese doch Texte, die auch als Meme oder Kalenderspruch noch funktionieren können. Das muss jedoch, wie gesagt, nichts Schlechtes sein. Doch sind die Texte vielleicht schlichtweg anders zu rezipieren als Gedichte von Baudelaire, Bachmann oder Borges.

Nun lässt sich freilich gleich anschließend feiern, dass mit diesen Texten nicht nur die Literatur, nein, sogar gerade die Lyrik – sozusagen der alte weiße Mann unter den literarischen Gattungen – wieder an Aufmerksamkeit und Popularität auch unter jüngeren Leser*innen gewonnen hat. Aber ist das wirklich so? Werden die Kids jetzt reihenweise begeisterte Rezipienten nicht nur der dicken Tausend-Seiter, sondern auch der hochverdichteten lyrischen Kurzform? Ist vielleicht gerade sie das richtige Maß für den schnellen Literaturkonsum zwischen dem Wetten gegen Hedgefonds (Stichwort: Game Stop) und Twitch-Streams? Next Level Instapoetry als lyrisch-literarische Renaissance?

Das vielleicht dennoch eher nicht.