Das Gespräch mit Gott?

Cornel Dora liefert historische Einblicke in ein vielschichtiges Fundament des Glaubens

Von Hans-Georg PottRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Georg Pott

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Begleitbuch Beten. Gespräch mit Gott, das der Stiftsbibliothekar Cornel Dora zur gleichnamigen Jahresausstellung der Stiftsbibliothek St. Gallen herausgegeben hat, präsentiert und kommentiert spätantike und mittelalterliche Codices, Inkunabeln und weitere bild-schriftliche Kostbarkeiten aus Klosterschätzen mit Bezug auf das Beten und das Gebet. Kunstwerke von teils großer Schönheit, Zeugnisse einer machtvollen Vergangenheit des Glaubens, die Ehrfurcht auch vor der materiellen Substanz alter Schriften erwecken – ungeachtet der religiösen Musikalität oder dem Unglauben der Betrachtenden. Und die dennoch nur Hilfsmittel sind zum Gebet, das mündlich im Intim-Privaten oder öffentlich in einer Messe, der gemeinschaftlichen Andacht oder gemeinschaftlichen Exerzitien vollzogen wird.

Beten als uralte und urmenschliche Kulturtechnik von „archaischer Kraft“, wie immer man es kommunikationstheoretisch erfassen mag – Gespräch mit Gott, Selbstgespräch mit der (innersten) Seele und anderes –, scheint mir vor allem der Ausdruck eines Wissens, oberhalb oder unterhalb der Bewusstseinsgrenze, vom Unverfügbaren, mit einem altertümlichen Wort: vom Schicksal. Wie einfältig, wild und unstrukturiert manche Bittgebete ergehen mögen, stets weiß man, dass das Gewünschte nicht in unserer Macht liegt. Gott lässt sich nicht in die Karten schauen.

Nun hat sich das Beten zu einer Kulturtechnik entwickelt, Regeln und Konventionen ausgebildet. Das Beten will gelernt sein. Die Liturgie der Heiligen Messe und die Praktiken des Mönchtums waren hierbei prägend, das heißt das Beten in Gemeinschaften. Den heutigen (modernen, aufgeklärten) Beobachter mag die Quantifizierung befremden, das gleichsam kaufmännische Rechnen um den himmlischen Lohn. Es geht durchaus um Zahlen und Mengen, wie das folgende Beispiel illustrieren mag, nämlich die Angleichung an die Blutstropfen Christi – wie viele er mag vergossen haben – in Form einer Handlungsanweisung: „Wenn man während fünfzehn Jahren täglich hundert Vaterunser bete, habe man für jeden Tropfen ein Gebet gesprochen.“ Wer dies leiste, dem wolle Gott „unzal fil [viel] gnaden tuon, namentlich 30 Seelen aus dem Fegefeuer erlösen, 30 Sünder bekehren und 30 Menschen in ihrem guten Leben bestärken, vor allem aber solle der Beter nach seinem Tod direkt in den Himmel gelangen.“ Viel hilft viel oder: Die Menge macht’s.

Darüber ist nicht zu spotten. Die Mechanik der Liturgie, wie beispielsweise auch des Rosenkranzbetens, irritiert nicht durch interpretierbare Bedeutungen von (biblischen) Texten, sondern schafft Sicherheit und Beständigkeit durch Wiederholung des Immergleichen. In diesem Sinn schreibt auch Franz Werfel in Der veruntreute Himmel von seiner Heldin: „Wenn Teta auch die Tiefe der Messe nicht verstand, alles Äußere war ihr während dieser sechzig treuen Jahre in Fleisch und Blut übergegangen. Eine solche Beherrschung des Äußeren bedeutet aber zugleich in hohem Maße eine Teilhabe am Inneren. […] Dies alles war gewissermaßen ihr höheres Leben, ihre Kunst, ihre Liturgie, ihre Schönheit, ihre bleibende Festesfreude, ihr süßes Aufgehobensein.“

Und darum geht es: um Formen einer religiösen Kulturpraktik, deren Äußeres auch den religiös Unmusikalischen zu berühren vermag, wenn er sich nur um ein rechtes Verstehen bemüht. Dazu mag dieses Buch verhelfen. Insgesamt ergibt sich aus und mit der Präsentation sowie der informierenden Kommentierung zum Thema Beten und Gebet ein gelungener Einblick in eines der geistigen Fundamente unserer Kultur. Besonders deutlich werden dabei ihre Vielfalt zwischen den Polen hochgeistiger Spiritualität und naivem (Aber-)Glauben schon im frühen und späten Mittelalter sowie die Hochachtung vor dem, was unsere Vorfahren mit Fleiß und Kunstsinn geschaffen und praktiziert haben, um ihrem Dasein Gestalt und Form zu geben.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Cornel Dora (Hg.): Beten. Gespräch mit Gott.
Katalog zur Jahresausstellung 8.12.2020–7.11.2021.
Schwabe Verlag, Basel 2020.
119 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783796542763

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