Leben in einem zerstörerischen Zeitalter

Heinrich Mann zum 150. Geburtstag

Von Günther RütherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Rüther

Heinrich Mann lebte in einem zerstörerischen Zeitalter. Es eröffnete ihm ein Atem beraubendes und wechselvolles Dasein, das ihn auf den Gipfel des Ruhms emporhob und in die Schlünde des Abgrunds blicken ließ. Er wurde im März 1871, kurz nach der Gründung des Deutschen Reiches, in der Freien Hansestadt Lübeck als erster Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie geboren. Das Schicksal meinte es nicht nur gut mit ihm. Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik kam er zu Ansehen und Ehren. Manche sahen in ihm einen geeigneten Reichspräsidenten. Die Machtergreifung der Nazis zwang ihn, überstürzt Deutschland zu verlassen. In Nizza fand er Zuflucht, bis er nach der Besatzung Frankreichs im siebzigsten Lebensjahr im Oktober 1940 über die Pyrenäen nach Lissabon abermals flüchten musste. Von dort gelangte er mit dem Schiff in die USA. Ein zweites Mal binnen weniger Jahre suchte er Schutz vor Hitler und seinen „Schreckensmännern“. Die letzten knapp zehn Jahre seines Lebens verbrachte er in Los Angeles, wo er vereinsamte und in Armut 1950 verstarb.

I.

In Lübeck wuchs Heinrich in das Wilhelminische Zeitalter hinein. Seine Familie zählte in der Hansestadt zur feineren Gesellschaft. Sie war weltoffen, republikanisch gesonnen und verehrte Bismarck – nicht aber ohne einen Schuss hanseatischer Skepsis. Heinrichs Vater führte ein florierendes Kommissions- und Speditionsgeschäft, das vor allem auf dem Getreidehandel basierte. Sein Großvater hatte es zur wirtschaftlichen Blüte gebracht. Er kaufte das ehrwürdige „Buddenbrook-Haus“, das zunächst als Geschäfts- und Wohnhaus genutzt wurde. Doch Heinrich verbrachte hier nicht seine Kindheit und Jugend, wie mancher Leser des Romans seines Bruders Thomas Die Buddenbrooks vielleicht vermuten mag. Seine Eltern bauten ganz in der Nähe ein stattliches Gebäude, das im Krieg zerstört wurde. Die Familie erwarb hohes Ansehen; ihr „Oberhaupt“ zierte der Titel eines „Königlich Niederländischen Konsuls“. Heinrichs Vater wurde zudem 1877 zum Senator auf Lebenszeit berufen und zeichnete in Lübeck für das Finanz- und Steuerwesen verantwortlich. Seine elf Jahre jüngere Frau Julia da Silva, Heinrichs Mutter, brachte Schwung in die zum Konventionellen neigende, traditionsreiche und etwas unterkühlte hanseatische Kaufmannsfamilie. Sie hatte deutsch-portugiesische Wurzeln. Ihre Eltern lebten in Brasilien. Sie verzauberte mit ihrem Charme und ihrer Anmut nicht nur die Familie, sondern auch die Lübecker Gesellschaft. Berühmt waren ihre Maskenbälle, von denen sich die Lübecker Gesellschaft entzücken ließ. Mitte der siebziger Jahre flüsterte die stolze Mutter ihrem gerade einmal vierjährigem Sohn Heinrich ins Ohr: „Wir sind nicht reich, aber sehr wohlhabend.“ Das traf den Punkt. Lübecker, die etwas auf sich hielten, protzten nach alter Hanseatischer Tradition nicht mit ihrem Wohlstand. Sie versteckten ihn aber auch nicht, vielmehr wussten sie damit umzugehen.

Heinrich verbrachte eine glückliche Kindheit. Um seine Zukunft schien es gut gestellt. Sein Vater sah in ihm seinen natürlichen Nachfolger im Kommissionsgeschäft. Doch Heinrich entwickelte andere Neigungen. Ihn interessierte die Welt des Theaters und der Literatur mehr als Finanzen und Verhandlungen mit Getreidebauern. Der Beginn in einer Buchhandelslehre in Dresden kam einem endgültigen Abschied aus Lübeck und von seiner Familie gleich. Er wandte sich fortan der Literatur zu. Als sein Vater völlig überraschend 1891 verstarb, nahm er mit Zwanzig sein Leben selbst in die Hand. Es begann turbulent. Inzwischen in Berlin, kostete er seine Freiheit in vollen Zügen aus. Zwischendurch schrieb er Gedichte und kleinere Erzählungen. Zu seinem Lebensunterhalt trug beides kaum bei. Er lebte von den Zuwendungen, die ihm aus der Liquidation der Firma seines Vaters zuflossen.

Nur später im Exil in Frankreich stimmte Heinrich Mann so mit dem politischen System überein wie im Wilhelminischen Reich. Seine Briefe, Essays und kulturpolitischen Betrachtungen zeugen davon. 1894 erschien sein erster Roman In einer Familie; er schrieb ihn im Geist der Zeit. Als Chefredakteur der Monatszeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert, wo auch sein vier Jahre jüngerer Bruder Thomas erste literarische Gehversuche unternahm, bekannte er sich zu Wilhelm II. und zum Gottesgnadentum. Als unkritischer Ritter des Zeitgeistes wetterte er gegen die an Einfluss gewinnende Sozialdemokratie, die von Bertha von Suttner inspirierte Friedens- und Frauenbewegung und frönte einem aufkommenden Antisemitismus.

Diese Haltung änderte sich, je mehr Friedrich Nietzsche, der große Einflüsterer und einflussreiche Feuerkopf der Jahrhundertwende, in sein Leben trat. Nietzsche, dessen Werk seine Wirkung erst entfaltete, nachdem er verstorben war, wies ihm den Weg zu einer literarischen Neuorientierung. Vor allem machte er sich dessen Kritik am Wilhelminischen Reich zu eigen. Seine Ausführungen zum Künstlerdaseins inspirierten ihn. Sie wiesen ihm den Weg zu einem radikalen Individualismus und zur Selbstfindung. Im Künstler sah Nietzsche einen „Philosophen der Macht“, der ohne Rücksicht auf sein eigenes Lebensglück tätig werden müsse. Die Romane Im Schlaraffenland, Jagd nach Liebe und die Trilogie Die Göttinnen, die alle in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts entstanden, atmen Nietzsches Einfluss. An dessen Vorstellung von der Macht des geistigen Menschen und der Überzeugungskraft des Wortes hielt Heinrich zeitlebens ebenso fest wie an dessen Verurteilung des Wilhelminischen Reiches und dem Glauben an die Zukunft Europas. Aber Nietzsches Selbstverherrlichung und dessen Verachtung des Volkes als dumpfe Masse teilte er nicht. Dessen „Pathos der Distanz“ stellte er in Frage. Im Gegensatz zu seinem Lehrmeister, dessen Werk sich einer Entschlüsselung bis heute verschließt und zu Missdeutungen einlädt, zeigte sich Heinrich Mann zu einer kritischen Selbstreflexion und Kurskorrektur bereit. Von einem radikalen Individualisten und dekadenten Zeitgenossen des ausklingenden neunzehnten Jahrhunderts entwickelte er sich zu einem sozialkritischen Demokraten, der die Zukunft in einer Republik suchte. Diese Neuorientierung vollzog sich nicht von einem Tag zum andern. Er musste sie sich erarbeiten. Insbesondere sein sozialkritischer Roman Professor Unrat zeugt von dem Prozess der Ablösung vom Wilhelminismus. In seiner Erzählung Die kleine Stadt, die 1909 erschien, brachte er auf radikale Weise erstmals seine Vorstellungen zu einer von der Kultur geprägten demokratischen Gesellschaft zum Ausdruck. Darin stimmte er das hohe Lied der Freiheit an: „ich halte es mit dem Volk“, heißt es dort. In dem Roman schuf er am Beispiel einer italienischen Kleinstadt einen Gegenentwurf zum wilhelminischen Obrigkeitsstaat. Es ist kein Zufall, dass er danach seine Arbeit an seinem Furore machenden Roman Der Untertan begann. Als dieser erscheinen sollte, setzte der Erste Weltkrieg ein. Der Untertan wurde von der Zensur verboten.

Kurz zuvor hatte Heinrich Mann die Prager Schauspielerin Maria Kanová geheiratet. Mit der Hochzeit endete sein Vagabundenleben, währenddessen er eine besondere Liebe für Italien entwickelt hatte. München wurde nun bis auf weiteres zu seinem neuen Lebensmittelpunkt. Alsbald schob er einen Kinderwagen mit seiner Tochter Leonie durch den Englischen Garten. Das bereits zuvor schwer belastete Verhältnis zwischen Heinrich und Thomas verschlechterte sich im Krieg weiter. Sie blickten mit anderen Augen auf die Welt und maßen der Literatur eine völlig andere Aufgabe in der Gesellschaft zu. Obwohl sie in München nicht weit voneinander entfernt lebten, blieben Begegnungen eine Seltenheit. Als Heinrich seinen Zola-Essay 1915 veröffentlichte, vertiefte sich der Graben zwischen den Brüdern weiter, weil Heinrich darin, ohne Thomas beim Namen zu nennen, heftige Kritik an dessen Haltung zum Krieg, Kaiser und Reich übte. Er bezichtigte ihn des geistigen Mitläufertums und der Selbstgerechtigkeit. Denn Thomas befürwortete nach anfänglichem Zögern den Krieg und rechtfertigte in Kriegsschriften den Waffengang. Der Zola-Essay stellt jedoch weit mehr dar als eine Auseinandersetzung mit dem Krieg und seinem Bruder. Er ist ein literarisches Bekenntnis. Im Geist Zolas beruft Heinrich Mann sich auf die Republik als neue Herrschaftsform, deren Ideale er aus der französischen Revolution ableitete. Mit seinem neuen Lehrmeister steigt er in die Abgründe der Gesellschaft und des Menschen hinab, um der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit willen.

II.

Die Weimarer Republik bezeichnete Heinrich Mann als ein Geschenk der Niederlage. Von der ersten Stunde an stellte er sich im Gegensatz zu seinem Bruder auf sie Seite der Demokratie. Seine böse Erwartung, dass der Krieg ihm den Boden unter den Füßen wegziehen und ihm als Schriftsteller ein kümmerliches Dasein  aufzwingen würde, erfüllte sich nicht. Ganz im Gegenteil. Sein Roman Der Untertan traf den Geist der neuen Zeit. Er wurde zu einem Riesenerfolg. Seine Satire auf den Untertanengeist und den Kaiser entpuppte sich nun als hellsichtige Prophezeiung. Heinrich ließ von der ersten Stunde an keinen Zweifel aufkommen, dass er bereit war, für die Ideale des neuen Staates öffentlich einzutreten. Er wurde zu einem Verkünder der neuen Zeit, der seine Aufgabe darin sah, als Schriftsteller einen Beitrag dazu zu leisten, das Volk zur Selbstentfaltung und Selbstverantwortung zu erziehen. Er unterstützte den ersten Bayrischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner – einen Sozialisten, der zwischen Marx und Kant einen politischen Weg suchte. In ihm erblickte er einen geistigen Menschen der Tat und Wahrheit.

Heinrich Mann war ein Idealist, aber er wusste, dass der Wechsel von der Monarchie zur Republik mit der der Weimarer Verfassung noch nicht vollzogen war. Eine republikanische Gesinnung konnte seiner Meinung nach nicht über Nacht reifen. „Demokratie wird durch Arbeit“, lautete seine Erkenntnis. Untertanengeist und monarchisches Bewusstsein galt es fortan zu bekämpfen und die Vorteile der Demokratie zu erkennen. Er war zutiefst davon überzeugt, dass sie nach einer Phase des Übergangs die Herzen und den Verstand der Menschen erreichen und belohnen würde. In diesen Dienst stellte er sich als Schriftsteller und Mensch. Er wurde nicht müde, die Ideale der Republik zu verkünden und zu verteidigen. Seine Haltung fand in der Öffentlichkeit Anerkennung und Bewunderung, aber auch Verachtung. Dennoch wurde er zum „Mann der Republik“, weil er gradlinig, authentisch und kritisch die politische Entwicklung begleitete. In dem schicksalsschweren Jahr 1923, in dem die Republik durch die Inflation und die Ruhrkrise vor dem Scheitern stand, sprach er auf dem Verfassungstag in Dresden. Hier schrieb er den bis heute geltenden, unerschütterlichen Satz politischen Handels ins Lehrbuch der Demokratie: „Anfang und Ziel ist der Mensch“. Er verweist auf Artikel 1 unseres Grundgesetzes, in dem es heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Nachdem er in seiner Ansprache auf krasse Fehlentwicklungen in der noch jungen Weimarer Republik hingewiesen hatte, ließ er die Verfassung als Fackel der Freiheit hochleben.

Heinrich Mann prägte wie nur wenige andere Intellektuelle der Zwischenkriegszeit die öffentliche Debatte. Seine Beiträge erschienen in vielen Tageszeitungen, oft auch auf den Titelseiten. Eine besondere Ehre wurde ihm zuteil, als er 1927 zu einer Gedenkfeier für Victor Hugo nach Paris eingeladen wurde. Als engagierter Europäer, Kämpfer für die deutsch-französische Freundschaft und deutscher Republikaner wurde er der Öffentlichkeit wie ein Staatsgast präsentiert. Er eilte von Termin zu Termin, sprach in der Sorbonne und hielt vor über 5000 Zuhörern in Französisch im Palais du Trocadéro eine Laudatio auf den großen Victor Hugo. Heinrich Mann befand sich auf dem Höhepunkt des Ruhms. Seine Frau begleitete ihn und hatte in Paris daran teil, aber um die Ehe war es zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr gut bestellt. Wie viele andere Künstler und Intellektuelle strebte er nach Berlin und fand dort eine neue Heimat. Die Ehe zerbrach. Nach einer Episode mit der Schauspielerin und Sängerin Trude Hesterberg lernte er seine spätere Frau Nelly Kröger kennen, die über 25 Jahre jünger war.

Seit 1926 gehörte er der Preußischen Akademie der Künste in der Sektion „Dichtkunst“ an. Fünf Jahre später wurde er zu ihrem Präsidenten gewählt. Während seiner Mitgliedschaft spitzten sich die politischen und kulturellen Auseinandersetzungen in der Sektion zu. Heinrich Mann widersetzte sich ihrer politischen Vereinnahmung durch völkische und nationalistische Kräfte. Sein Bruder unterstützte ihn dabei. Zu Beginn der zwanziger Jahre hatte sich ihr Verhältnis zueinander wieder verbessert. Aber die Verletzungen und anhaltenden weltanschaulichen und poetischen Unterschiede wirkten fort. Als Heinrich Mann seinen 60. Geburtstag feierte, zeichnete Gottfried Benn den Jubilar in seiner Festrede als einen politischen Träumer, als einen Visionär, dessen Welt in Flammen steht, der sich aber nicht eingesteht, dass die Zeit bereits über ihn hinweggegangen ist. Sein Geburtstag wurde zu einem nationalen Ereignis in einer Republik am Scheideweg.

In den zwanziger Jahren schrieb er fünf Romane, in denen er die sich radikalisierende Gesellschaft beschwor, die Ideale der Republik nicht aus dem Auge zu verlieren. „Lernt verantworten“ und „lernt ertragen“ und „lernt euch freuen“ lautete sein Apell. In dem Roman Mutter Marie beschwor er Staat und Gesellschaft zur Einsicht und Umkehr. Er forderte eine sittliche Haltung, die er im Katholizismus fand, um den wachsenden zerstörerischen Kräften der Gesellschaft entgegenzuwirken. Um das Thema Einsicht, Mäßigung und Umkehr kreisten auch die anderen Romane. Lediglich der Roman Ein ernstes Leben nimmt eine Sonderrolle ein. In ihm schildert er das Leben seiner späteren Frau Nelly, die aus einfachsten Verhältnissen stammend in den Strudel der entgleisenden Gesellschaft gerät und kriminell wird. Sie droht, im Sumpf der Berliner Unterwelt unterzugehen. Doch wie durch ein Wunder entkommt sie ihrem drohenden Unglück und träumt von einem Neuanfang. Heinrich Mann zeichnet in diesem, seinem letzten Roman der Weimarer Republik eine Frauenfigur, wie sie nur selten in der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts gelungen ist. Doch dem Roman war kein breites Interesse beschieden; er konnte sich, als er im November 1932 erschien, durch den heraufziehenden Nationalsozialismus nicht mehr entfalten.

Dieses Schicksal ereilte die Verfilmung seines Romans Professor Unrat noch nicht, der 1930 unter dem Titel Der blaue Engel auf den Leinwänden flimmerte. Der Film zeigte Marlene Dietrich und Emil Jannings in den Hauptrollen; er wurde zu einem Kassenschlager und trieb die Menschen in die Kinopaläste. Die Tragikomödie um den Studienprofessor Rath machte Heinrich Mann weltbekannt.Als sie erschien, klopften bereits die Nationalsozialisten an die Tür der Macht. Nicht einmal drei Wochen nach ihrer Machtergreifung im Januar 1933 vertrieben sie ihn aus der Akademie der Künste. Er war von verschiedenen Seiten zuvor gewarnt worden und musste mit seiner Festnahme rechnen. Am 21. Februar floh er mit Koffer und Regenschirm über den Rhein bei Kehl nach Frankreich, fest in dem Glauben, bald wieder nach Deutschland zurückkehren zu können. Nelly blieb allein in Berlin zurück.

III.

Wie viele deutsche Intellektuelle fand Heinrich Mann an der Cote d`Azur Zuflucht. Er wohnte in Nizza. Dort traf er auch Hermann Kesten und Joseph Roth, mit denen er sogar zeitweise eine Hausgemeinschaft teilte. Nelly verließ wenig später auf abenteuerlichem Weg das Deutsche Reich. Spätestens bei ihren Erzählungen wurde Heinrich klar, dass ihn die Flucht vor dem Abgrund bewahrt hatte. Nun galt es, sich einzurichten. Da er gut Französisch sprach, mit Félix Bertaux einen Freund und Förderer an seiner Seite wusste, der über glänzende Kontakte verfügte und sein kleines Vermögen auf französischen Konten verwaltet hatte, glaubte er, die nächsten Monate überstehen zu können. Länger würde der Machtmissbrauch der Nazis wohl nicht von der Bevölkerung und den Intellektuellen geduldet, glaubte er. Dennoch machte er sich an die Arbeit. Er wollte endlich den lange geplanten Roman über Heinrich IV. von Navarra schreiben, dessen Schloss in Pau im Südwesten Frankreichs er schon vor Jahren gemeinsam mit Bertaux besucht hatte. Doch dieser riet ihm, zunächst Aufsätze zum Nationalsozialismus und über die Deutschen zu schreiben, weil es für die Franzosen von großem Interesse wäre, aus seiner Feder zu erfahren, wie er die Lage einschätze. Der Plan sah neben einer Buchveröffentlichung vor, einzelne Beiträge in französischen Zeitungen vorab zu publizieren. Es kostete Bertaux einige Mühe, seinen Freund für dieses Projekt zu begeistern. Doch schließlich willigte er ein. Der Sammelband erschien bereits Ende des Jahres in französischer und deutscher Ausgabe. Er trug den Titel Der Haß. Deutsche Zeitgeschichte. Damit gab er seinen Abhandlungen die Richtung vor. Später folgten zwei weitere Essay-Bände.

Am Ende der Weimarer Republik hatte er nichts unversucht gelassen, die Nazis zu verhindern. Gemeinsam mit Albert Einstein, Käthe Kollwitz und Erich Kästner unterzeichnete er einen Apell, in dem er für ein Bündnis von SPD und KPD warb, obwohl er in den Kommunisten eine Karikatur der Nazis sah. 1932 hatte er bei der Wahl des Reichpräsidenten trotz schwerer Bedenken Hindenburg seine Stimme gegeben, um Adolf Hitler zu verhindern. Der Hass auf den braunen Despoten und seine Gefolgsleute verleitete ihn dazu, dass „Dritte Reich“ in seinen Essays in den grellsten negativen Farben zu zeichnen. Er überzeichnete die bedrückenden Verhältnisse und blendete aus, weil er es sich nicht vorzustellen vermochte, dass die neuen Machthaber in der Bevölkerung an Zustimmung gewannen. Dies galt selbst für diejenigen, die der nationalsozialistischen Bewegung fernstanden. Auch sie beugten sich weitgehend willenlos der Macht des Faktischen. Heinrich Mann zog einen dicken Trennungsstrich zwischen dem deutschen Volk und den neuen Machthabern. Seinen Studien fehlte bei aller berechtigter Kritik die differenzierende Schärfe. Die französische Ausgabe des Buches floppte, die deutschsprachige, die im Exil in Amsterdam erschien, lief besser, wurde aber auch nicht zu dem erhofften Erfolg. Je skrupelloser die Nazis ihre Macht entfalteten, desto mehr setzte Heinrich Mann auf eine Volksfrontbewegung aller politischen Kräfte, die sich gegen die „Brauhaus-Demagogen“ aussprachen. Dafür nahm er eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten in Kauf. Ohne ihre Unterstützung sah er keine Chance, Hitler niederzuringen. Im Namen der Freiheit und der Republik ließ er sich auf ein gewagtes Spiel ein. Ihm zugetragene Kritik an Stalins Menschen verachtender Politik prallte an ihm ab. Er verweigerte sich der Vorstellung, dass Stalin die Idee des Kommunismus missbrauchte. Sein Freund Lion Feuchtwanger, der Stalin im Rahmen seines Besuches in der Sowjetunion persönlich kennengelernt hatte, bestärkte ihn in seiner Auffassung.

Die Kommunisten, allen voran Johannes R. Becher, förderten seine Veröffentlichungen und zahlten stattliche Beiträge, um ihm das Leben im Exil zu erleichtern. Auf dem internationalen Schriftstellertreffen in Paris zur „Verteidigung der Kultur“ erhoben sich die Tausend Teilnehmer von ihren Plätzen und ließen ihn hochleben, als er zum Auditorium sprach. Becher hatte im Hintergrund Regie geführt. Als Walter Ulbricht die Führung der Volksfrontbewegung 1937 in die Hand nahm, brach die Idee eines gemeinsamen Bündnisses der antifaschistischen Kräfte in sich zusammen. Heinrich Mann bezeichnete Ulbricht als ein „vertracktes Polizeigehirn“, mit dem keine Demokratie zu machen sei. Dennoch glaubte er weiterhin daran, dass es allein mit Stalin und der Hilfe der Sowjetunion gelingen könnte, Hitlers Macht zu brechen.

Während er in deutschsprachigen und französischen Zeitungen, vor allem in der linksliberalen Dépeche, die in Toulouse erschien, zahlreiche Beiträge veröffentlichte, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, arbeitete er stetig an seinem Roman über Heinrich IV. 1935 erschien der erste Band des „Doppelromans“ unter dem Titel Die Jugend des Königs Henri Quatre. Der Band Die Vollendung des Königs Henri Quatre folgte drei Jahre später. Heinrich Mann entwickelte am Beispiel des Königs von Navarra und späteren Königs von Frankreich seine Vorstellungen einer guten Herrschaft. Im Kampf Heinrich IV. gegen die in Frankreich wütenden Religionskriege, die in der Bartholomäusnacht 1572 einen zivilisatorischen Tiefpunkt erlebten, verdeutlichte er, dass eine bessere Gesellschaftsordnung häufig nur durch einen „kämpferischen Humanismus“ zu erreichen sei. Als ultima ratio bejahte er den Krieg. An einer Stelle des Romans heißt es: „Freunde! Auf unseren Sieg wartet die Menschenwelt, bis in die fernsten Länder blicken auf uns alle, die Verfolgung leiden. Unser sind die Gebete der Bedrängten, Mißachteten, und auch das Gewissen der Denkenden spricht für uns.“

Folie für den Roman war für Heinrich Mann nicht nur die wechselvolle Lebensgeschichte des Königs, sondern auch die Schreckensherrschaft der Nazis in seiner Heimat. Doch nicht alle wollten dem Urteil Lion Feuchtwangers zustimmen, der das Buch „als Ruhmestitel der deutschen Emigration“ bezeichnete. Auch wohlwollenden Weggefährten missfiel die didaktische Absicht des Werkes und die Aufteilung der Welt in Gut und Böse. Als der zweite Band erschien, rückte Hitlers Armee in Österreich ein. Der Doppelroman legt Zeugnis ab über das bedrohte Leben in einem zerstörerischen Zeitalter und Heinrich Manns Hoffnung auf ein baldiges Ende der Herrschaft der „Schreckensmänner“ im „Dritten Reich“. Er stellt ein ebenso eindrucksvolles wie betörendes Dokument deutscher Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts dar.

IV.

Als Heinrich Mann gemeinsam mit seiner Frau Nelly am 13. Oktober 1940 am Dock Hoboken am Ufer des East River dem griechischen Dampfer „Nea Hellas“ entstieg, blickte er in eine ungewisse Zukunft. Europa hatte er schweren Herzens verlassen. Würde es ihm gelingen, in den USA noch einmal Fuß zu fassen und in einer ihm völlig unbekannten Welt zu reüssieren? Sein Bruder Thomas, der ihn mit seiner Frau Katia empfing, hatte es ihm vorgemacht. Er kam in den USA nicht nur zu Ehren, sondern war auch ein gefragter Redner. Seine Bücher fanden in den Staaten zahlreiche Leser. Die Washington Post hatte ihn anlässlich seines 65. Geburtstags als den bedeutendsten lebenden Schriftsteller der Welt gerühmt. Heinrich wusste, dass er daran nicht anknüpfen konnte. Voller Zweifel, aber nicht mutlos, trat er seine Aufgabe als Drehbuchautor bei der Filmgesellschaft Warner Brothers in Los Angeles an. Das „Emergency Rescue Committee“ hatte nicht nur seine Flucht aus Frankreich organisiert, sondern ihm auch diese Anstellung besorgt. Es ging ihm den Umständen entsprechend gut. Er bezog das Gehalt eines Universitätsprofessors. Aber er spürte alsbald, dass man an seiner Person und an seinen Arbeiten kein Interesse zeigte. Als der Vertrag nach einem Jahr auslief, stand er ohne Einkommen dar. Er fiel wirtschaftlich und psychisch in ein tiefes Loch.

Dennoch ließ er nichts unversucht, sich schreibend eine neue Existenz aufzubauen. Seine Versuche schlugen fehl. Insgesamt schrieb er in Los Angeles noch drei Romane, für die er aber keine amerikanischen Verleger fand. Er war fleißig, aber erfolglos. Große Hoffnungen setzte er auf sein Erinnerungsbuch Ein Zeitalter wird besichtigt, an dem er bereits zu Beginn der vierziger Jahre schrieb. Es schien, dass er damit mehr Glück haben würde. Doch die Drucklegung verzögerte sich ohne sein Verschulden über das Ende des Krieges hinaus. Die Zeit ging über das Buch hinweg. Ausschlaggebend für diese neuerliche Enttäuschung waren vor allem politische Gründe. Heinrich Mann glaubte nach wie vor an Stalin und die Zukunft des Kommunismus. Zwar rühmte er in seinen „Besichtigungen“ auch Roosevelt und Churchill als große Staatsmänner, aber in Stalin sah er einen Kameraden, einen genialen Weltenlenker, einen Mann der „Freiheit einer Nation mit hohem sittlichen Anspruch“. Die Schauprozesse verteidigte er als ein Ringen um die Wahrheit. Stalin war für ihn ein leuchtendes Vorbild.

Bei seinen Äußerungen in Ein Zeitalter wird besichtigt, die er wenige Tage nach dem D-Day 1944 abschloss, ist zu bedenken, dass damals noch die Kriegskoalition bestand und die Waffenbrüderschaft als unverbrüchlich galt. Sein tiefsitzender Hass gegenüber dem Nationalsozialismus, der sich mit seiner Emigration verstärkt hatte, verleitete ihn zu der irrigen Annahme, dass Lenin und Stalin, die Gründer der Sowjetunion, diese aufgrund des normativen Gehalts der kommunistischen Ideologie zwangsläufig zu einer menschlichen Gesellschaftsordnung führen würden. Er verkannte, dass die kommunistischen Ideale nur der Camouflage ihrer Diktatur dienten.

Diese Verblendung mutet uns heute äußerst befremdlich an. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es damals zwei Wahrheiten gab. Nach der einen war Stalin ein Gott, nach der anderen ein Teufel, ein Menschenschänder und Diktator. Viele Intellektuelle glaubten bis 1956, als Chruschtschow Stalin auf dem XX. Parteitag der KPdSU entweihte, dass die Berichte über ihn raffinierte Lügen und bösartige Propaganda seien. Erst danach brachen die Illusionen – einem geistigen Erdbeben gleich – zusammen. Heinrich Mann erlebte dies nicht mehr. Die Einladung aus Ostberlin, Los Angeles zu verlassen und das ehrwürdige Amt des Präsidenten der neu geschaffenen Akademie der Künste anzutreten, nahm er nach langem Hin und Her schließlich nicht an. Als Grund für sein Zögern nannte er sein Alter und seine Gesundheit. Sicherlich spielte beides eine Rolle, aber entscheidend war wohl vor allem, dass er unter Ulbrichts Gnade nicht der DDR dienen wollte. Ruhm und Ehre gern, aber Unterwerfung als Preis dafür, das kam ihm nicht in den Sinn. Eine solche Haltung hätte sein Lebenswerk in Frage gestellt. Denn aller Irrungen und Verblendungen zum Trotz: Heinrich Mann stand auf der Seite der Freiheit. Als er für die SED ein Vorwort zur neuen Verfassung schrieb, wandte er sich gegen jedwede Parteidiktatur und setzte sich für die Vielfalt der Meinungen ein. Sein Appell an die Vernunft wurde von der Nomenklatura beiseitegeschoben.  

Als er im März 1950 verstarb, hatte er seine erste Frau Maria und seine zweite Nelly bereits verloren. Nelly nahm sich 1944 das Leben. Sie kam mit den widrigen, sich verschlechternden Lebensbedingungen im Exil nicht zurecht. Trotz ihrer Eskapaden und ihrer Alkoholsucht hatte Heinrich Nelly innig geliebt. Sein Roman Der Atem gibt darüber Auskunft. Ihr Tod stürzte ihn in eine tiefe Krise. Maria verstarb 1947 an den Folgen des KZs Theresienstadt in Prag.

Wie zu Lebzeiten ehrte zunächst die SBZ, dann nach seinem Tod die DDR Heinrich Mann. Doch dies geschah nicht uneigennützig; sie instrumentalisierte sein Werk für ihre politischen Ziele zum Aufbau eines neuen sozialistischen Deutschlands. Zu seiner Beerdigung sandte die Staatsführung eine Trauerbotschaft nach Los Angeles und zu seinem Gedenken veranstaltete sie wenig später eine ihn ehrende Veranstaltung im Deutschen Theater in Berlin. Sie benannte öffentliche Plätze mit seinem Namen und vergab von 1953 an einen Heinrich Mann Literaturpreis. Sein Werk wurde umsichtig und großzügig verlegt, in einzelnen Bänden und in einer Gesamtausgabe. In der Schule gehörte es in den oberen Klassen zur Pflichtlektüre. Kurz vor seinem 90. Geburtstag, elf Jahre nach seinem Tod, setzte Walter Ulbricht nach einem diplomatischen Balanceakt seine Urne auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin bei. Er tat es mit den denkwürdigen Worten: „Heinrich Mann ist unser.“ Damit fügte er seinem Werk schweren Schaden zu. Denn Heinrich Mann verstand sich als gesamtdeutscher und europäischer Schriftsteller. Der Kalte Krieg und die Zweiteilung Deutschlands missbilligte er. Beides verhinderte, dass ihm dies- und jenseits der Grenze die gleiche Aufmerksamkeit zuteilwurde.

Im Westen galt er lange Zeit als Kommunist und Sympathisant Ulbrichts. Sein Werk wurde weitgehend ignoriert. Erst in den achtziger Jahren begann der Fischer Verlag damit, es in einer Taschenbuch-Ausgabe nach und nach zu popularisieren. Eine kritische Gesamtausgabe seiner Essays ist im Entstehen. Von neun geplanten Bänden liegen sieben vor. Die Jahre von 1938 bis 1950 stehen noch aus. Ebenso mangelt es an einer Gesamtausgabe seiner Briefe. Heinrich Mann ist auch dreißig Jahre nach der Einheit noch nicht in Deutschland angekommen. Doch sein vielschichtiges spektakuläres Werk verdient weit mehr Beachtung als bisher. Sein 150. Geburtstag wäre der richtige Anlass, es aus seinem Schattendasein zu lösen.

Anmerkung der Redaktion: Einen Hinweis auf Günther Rüthers 2020 erschienene Biographie „Heinrich Mann. Ein politischer Träumer“ haben wir in der Oktober-Ausgabe 2020 von literaturkritik.de veröffentlicht.