Einer seiner großen Männer

Zu einer abweichenden Lesart von Heinrich Manns Roman „Der Untertan“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Für Gregor Ackermann

1.

Keine Frage, Diederich Heßling ist keine sympathische Figur, geschweige denn ein Vorbild. Und sein Autor hat alles daran getan, dass das im Laufe des Ende 1918 erstmals in Deutschland erschienenen Romans, der den bedeutungsschwangeren Titel Der Untertan führt, auch so bleibt. Die Sympathiewerte werden nicht besser, wenn man den anfangs geplanten, dann aber fallen gelassenen Untertitel berücksichtigt, nach dem es sich beim Untertan um die „Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.“ handeln sollte. Den „durchschnittlichen Neudeutschen“ habe er schildern wollen, betonte Mann selbst, was seinen Protagonisten dann doch aus der Belanglosigkeit hervorhebt und ihn zum Muster macht, nach dem zahlreiche Deutsche dieser Jahre geprägt worden sein sollen.

Interessanterweise wird als Folie des Untertan vor allem der Aufstieg des Nationalismus, die Unterwürfigkeit des Bürgertums und seine Willfährigkeit den alten adeligen Eliten gegenüber gesehen, die dann fließend in die Unterwerfung unter das NS-Regime übergegangen ist. Peter Stein hat dazu Heinrich Mann selbst angeführt, der in einem Text aus dem Jahr 1911 den „widerwärtig interessante[n] Typus des imperialistischen Untertanen, des Chauvinisten ohne Mitverantwortung, des in der Masse verschwindenden Machtanbeters, des Autoritätsgläubigen wider besseren Wissens und politischen Selbstkasteiers“ geißelte. Bertolt Brecht hat, Jahrzehnte nach Erscheinen dieses Romans, an diese Bemerkungen Manns angeschlossen und in Diederich Heßling den bürgerlichen Musterunternehmer gesehen, der sich der Macht andient, weil er stets von ihr ausgeschlossen bleiben wird. Das Defizit wird einfach zur Stärke umdefiniert. Noch der Herausgeber der verdienstvollen Studienausgabe in Einzelbänden, Peter-Paul Schneider, verweist im Nachwort zum Untertan auf das Gefälle zum Faschismus hin, das dem schwachen Bürgerkind dann doch nachzusagen sei und in dem sich die Unterordnung unter das monarchische Regime fortsetze. Der Macht – gleich welcher – gegenüber bleibt nur die Anverwandlung und bereitwillige Unterwerfung. Der Untertan verschwindet damit in der Masse Seinesgleichen.

Damit scheint die Sache klar und das Urteil über den „Helden“ des Romans ebenso. Wenn denn nicht der Roman selbst einen Protagonisten vorstellen würde, der zwar opportunistisch, feige und selbstherrlich zugleich wäre, dennoch aber zweifelsohne ein ungeheuer effizientes politisches Talent besäße, das ihn sein Autor weidlich nutzen lässt. Statt dass dieser Diederich Heßling schnell wieder in der Masse gleichförmiger Standes- und Gesinnungsgenossen verschwindet, steht er am Ende des Romans als Totengräber und personifizierter Gottseibeiuns des vergehenden liberalen Zeitalters da. So lieb es einem wäre, Diederich Heßling untergehen oder unter der Knute der adeligen Machthaber ächzen zu sehen, so wenig geht dieser Wunsch in Erfüllung. Was weder das politische, moralische noch das persönliche Urteil suspendiert, aber zur höchsten Wachsamkeit vor einem solchen Bürgertum mahnen müsste, das alle Erwartungen enttäuscht, selbst wenn es scheitert: Heßling kennt weder Selbstachtung noch Zweifel, und der Erfolg gibt ihm recht.

Was wäre also, wenn Heinrich Mann unter der Hand weniger die persönliche Schwäche dieses Diederich Heßling, weniger die Schwäche des machtlosen Bürgertums, sondern – wenn denn schon vom Einzelnen aufs Allgemeine geschlossen werden soll –, seine unerhörte Kompetenz vorgeführt hätte, sich aus einer Position der Schwäche heraus zum starken Machtfaktor, aus einer nachrangigen Position in die des Repräsentanten eines Gemeinwesens, wenigstens einer Stadt zu entwickeln. Was wäre, wenn nicht von der Vorbildlichkeit der entwickelten Persönlichkeit, sondern von der Gefahr erzählt wird, die gerade von denen ausgeht, die sich keiner eigenen Persönlichkeit gewiss sein können, sondern sich auf ein Rollenbild, das meinetwegen eklektizistischen Ursprungs ist, stützen müssen? Was wäre, wenn Diederich Heßling als Urbild eines bürgerlichen Politikers präsentiert würde, mit dem der Aufstieg des Wilhelminischen Regimes, die Apotheose des Nationalismus überhaupt erst möglich gemacht worden ist? Und zwar nicht aufgrund der vorbehaltlosen Bewunderung der Bürger für das Kaisertum, sondern aufgrund der beiderseitigen Interessen, die mit dem Aufstieg dieses Bürgertums und dieses Kaisers befriedigt werden konnten. Diesen Deal hat, wenn überhaupt, erst die Militärdiktatur zu Kriegsende aufgekündigt, was dann zu den für alle Beteiligten unerfreulichen Ereignissen im November 1918 geführt hat. Wenngleich vor allem die Hohenzollern und ihre adelige Clique das Nachsehen hatten. Ihre langjährigen bürgerlichen Partner hingegen waren politisch klug genug, auch eine Revolution zu überleben.

2.

Das schwache Kind, das die Prügel des Vaters als Auszeichnung erfährt, scheint sich auch als Erwachsener Autoritäten bereitwillig und mit Lust unterzuordnen. Mehr noch: Bereits der junge Heßling identifiziert sich mit der Autorität an sich, dem Kaiser selbst. Er nähert sich seinem Vorbild soweit an, dass er ihm nicht nur im Erscheinungsbild immer ähnlicher wird (aber da gibt es auch andere), sondern meint, stets in seinem Sinne und als Ausdruck seiner Persönlichkeit sprechen zu können. Das geht soweit, dass Diederich Heßling nicht nur Kaiserzitate im Munde führt, sondern gleich selber welche erfindet. Eine sympathetische Existenz also, dieser Heßling, die sich vom Ruhm des Größeren nährt. Weniger also die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit als die Übernahme einer fremden ist das Naheliegende und Angemessene für diesen Studenten der Chemie, den seine Alma mater auch noch promoviert.

Freilich krankt diese identifikatorische Annäherung an einem Grundmangel des Wilhelminismus selbst, nämlich an seinem mangelnden Gehalt. Der Kaiser ist nicht mehr, um einer Überlegung aus Heinrich Manns Essay Geist und Tat aus dem Jahr 1911 zu folgen, als das, was seine Untertanen – und erst recht dieser Untertan – in ihm sehen: reine Oberfläche, reine Wirkung, reine Repräsentation, „eine Larve, eine Maske, ja ein Popanz“ (Peter-Paul Schneider). Und wenn sie sich ihm soweit anverwandeln, wie dies Diederich Heßling tut, dann übernehmen sie eben vor allem die Redeweisen, das Auftreten, die Manier, in dem irrigen Glauben, auf diesem Wege zu einer Persönlichkeit, zur „persönlichsten Persönlichkeit“ aufgeschlossen zu haben und so an ihrem Glanz teilzuhaben.

Dass dies möglich ist, ist vielleicht nicht einmal so abwegig, wenn man der Gerichtsrede Wolfgang Bucks im Prozess wegen Majestätsbeleidigung gegen den Fabrikanten Lauer folgen mag. In seinem Plädoyer arbeitet Buck nämlich die Theatralik, das Dramaturgische im Auftritt des deutschen Kaisers und seines vornehmsten Untertanen in aller fatalen Konsequenz präzise heraus. Da gibt es keine Essenz, sondern nur die Inszenierung des Auftritts, immer auf Wirkung bedacht, nicht auf Überzeugung, nicht aufs Argument. Und was den Kaiser im Großen auszeichnet, kennzeichnet auch diesen Diederich Heßling, der seinen Weg in Netzig machen wird. Und das, obwohl er mit einer geliehenen „persona“ agiert.

Aber so wahr Wolfgang Buck in seiner Rede spricht, so wenig Erfolg hat er mit seiner Erkenntnis, an der er auch die Netziger Öffentlichkeit teilhaben lässt, die sich in ihrer wesentlichen Zusammensetzung bei Gericht eingefunden hat. Dieser Wolfgang Buck ist dabei nicht irgendwer. Er ist der Sohn des alten Buck, der Zentralfigur der Liberalen in Netzig, die über Jahrzehnte hin die Politik, das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben der Kleinstadt in Frontstellung zur Monarchie bestimmte. Niemand kam am alten Buck vorbei, wer in Netzig sein Vorankommen sichern wollte. Der Bürgermeister nicht, die Gewerbetreibenden nicht, nicht einmal der autoritäre Vater Heßling, der sich die Gunst des großen Mannes von Netzig zu sichern wusste. Bis dann sein Sohn, diese schwache Imitation des Kaisers nach dem Studium in seine Vaterstadt Netzig zurückkehrt, um die väterliche Papierfabrik zu übernehmen. Ein Unternehmen allerdings, das – wie der Repräsentant der Regierung ihrer Majestät des Kaisers, der Regierungspräsident von Wulckow nebenbei bemerkt – eine „ziemliche faule Karre sein“ soll.

3.

Diederich Heßlings Ausgangslage bei seiner Ankunft in Netzig ist in vielerlei Hinsicht randständig. Umso erstaunlicher ist es, was er aus diesen Anfängen zu machen versteht. Das geht nicht ohne Rückschläge, und Heßling lässt sich wenigstens vorübergehend von diesen Rückschlägen auch beeindrucken. Aber er vermag sie stets zu seinem Vorteil und als Plattform zu nutzen, seiner politischen Karriere und damit auch seinem wirtschaftlichen Vorteil einen weiteren Schub zu geben. Er verändert auf diese Weise die Machtverhältnisse in kürzester Zeit gründlich zu seinen Gunsten, was zugleich den Interessen der Monarchie nutzt, die in Netzig über Jahrzehnte hinweg keinen guten Stand hatte. Am Ende dieses Prozesses ist aus dem verkrachten Erben einer veralteten Papierfabrik der Mehrheitsaktionär und Generaldirektor des übermächtigen Konkurrenten, der Gausenfeldschen Papierfabrik geworden. Er ist damit nicht nur wirtschaftlich erfolgreich, sondern übernimmt zugleich auch die politische Zentralposition der Nationalen in Netzig und damit der Stadt überhaupt. An Heßling vorbei oder ohne ihn geht nichts mehr. Der wirtschaftliche Erfolg ist die Belohnung für die Politik, die Heßling verfolgt. Anders gewendet: Das Ziel dieser Art von Politik ist die persönliche Bereicherung, wie ja gerade Heßlings Verbindungen mit seinem sozialdemokratischen Maschinenmeister Napoleon Fischer zeigen, der dank Heßling zum Mitglied der Nationalversammlung wird, oder auch die Unterredungen mit dem Regierungspräsidenten von Wulckow, der mit Hilfe Heßlings nicht nur die liberalen Widersacher ausschalten kann, sondern – wie das Geschäft um die Arrondierung der Grundstücke um das spätere Kaiser-Wilhelm-Denkmal zeigt – Politik auch mit Selbstbereicherung zu verbinden weiß.

Der Aufstieg Heßlings ist um so bemerkenswerter, wenn man den Ausgangspunkt berücksichtigt: Das Unternehmen des verstorbenen Vaters ist technisch überholt, wie nicht nur an der Episode mit dem Holländer zu erkennen ist, sondern auch daran, dass die Papierfabrik als Rohstoff Lumpen einsetzt. Die Produkte der Fabrik sind also für die industriellen Verwendungen wie Buch- und Zeitungsdruck, die im Laufe der 1890er Jahre in neue Dimensionen vorstoßen, entweder nicht geeignet oder zu teuer, vor allem im Vergleich zur direkten Konkurrenz, der Gausenfeldschen Papierfabrik, die größer und produktiver ist und deren Produkte billiger sind.

Auch gesellschaftlich ist Heßling zu diesem Zeitpunkt isoliert und steht völlig ohne Kontakte oder Verbündete da. Mehr noch, er ist bei seiner Ankunft zwar bereits dem Kaiser verpflichtet, dieses Bekenntnis hilft ihm vor Ort aber nicht, ganz im Gegenteil, es schadet: Nationale und Monarchie haben es in Netzig zu keiner politischen Verbindung, keiner Gruppe oder Partei gebracht. Ihre konventionellen Repräsentanten, das Militär, die Kirche, das Gymnasium und die Medien haben sich nie gegen die Liberalen durchsetzen können. Einzig der Regierungspräsident von Wulckow, der direkt von Berlin eingesetzt ist, hält die Stellung der Monarchie. Er ist wie Heßling ansonsten isoliert (was nur bedingt stimmt, wie an der Wirkung seiner Interventionen und an der Bedeutung des von seiner Frau geschriebenen und inszenierten Theaterstücks zu sehen ist).

Heßlings Nachrang wird vor allem im Vergleich zu seinem Altersgenossen Wolfgang Buck erkennbar, dessen Braut er zufällig auf der Zugfahrt ins heimische Netzig kennenlernt und als die ihm Gemäße erkennt. Heßling ist im Vergleich zu Wolfgang Buck deutlich im Nachteil: Buck weiß sich in Gesellschaft zu bewegen, hat seine Zeit in der Großstadt genutzt, um seinen Horizont zu erweitern, ist redegewandt, kulturell bewandert, er ist intelligent, gebildet, gut ausgebildet – und er ist mit genau jener Frau verlobt, die im Besitz der wohl wichtigsten Ressource ist, die Heßling für sein Weiterkommen benötigt, ein sagenhaftes, nie genau gefasstes Vermögen, das als Mitgift winkt.

Wolfgang Buck ist mithin der offensichtliche Nachfolger seines Vaters und müsste die Nachfolge nur angemessen antreten, um dessen Vorrangstellung zu übernehmen. Die Bedingungen dafür sind optimal, seine Voraussetzungen nicht minder. Wolfgang Buck ist der Kronprinz der liberalen Partei.

Aber es fehlt ihm an den zentralen Eigenschaften, die für eine Nachfolge Bedingung sind: am Willen, diese Vorrangstellung zu übernehmen, an dem, was man gemeinhin politischen Instinkt nennt, und an der Begabung, mögliche Verbündete überhaupt zu erkennen, politische Verbindungen zu knüpfen und eigene Interessen durchzusetzen. Wolfgang Buck ist an Politik desinteressiert, er hat kein politisches Projekt oder wenigstens, wie sein Vater, eine Vergangenheit, die ihn politisch positioniert. Er ist schlicht ein machtpolitischer Dummkopf. Was er über den Kaiser und seine Untertanen zu sagen weiß – ihre Hohlheit, das Inszenierte ihres Auftretens –, trifft zwar den Kern des Wilhelminischen System. Man meint Heinrich Mann, wie er sich in den Essays dieser Jahre zeigt, wiederzuerkennen. Dennoch ist Bucks Rede nicht nur politisch ein Desaster, sie liefert auch den Mandanten Bucks, der ihm und seinem Vater politisch und persönlich nahesteht (er ist sein Schwager), zugleich ans Messer und ins Gefängnis. Und schließlich beginnt mit diesem Plädoyer die Erosion der Machtbasis der liberalen Partei, die ihre politischen Leitlinien aus dem Kampf der 1848er-Revolution ableitet. Sie verliert an Durchsetzungskraft, an Einfluss und damit rasant an Gefolgschaft. In dem Moment, in dem sie ihre eigenen Gefolgsleute nicht mehr schützen kann, ist sie für alle anderen, die ihr nur aus Opportunismus folgen, erst recht nicht mehr attraktiv, weder zur Durchsetzung der eigenen Interessen, noch zu Absicherung ihrer Position in Netzig.

Einen schlechteren Gefallen hätte Wolfgang Buck also sich, seinem Mandanten und seiner Partei nicht tun können. Und keinen besseren seinem aufsteigenden Antipoden Diederich Heßling, der die Gelegenheit gleich beim Schopfe fasst.

Heßling erkennt die Chance, die ihm Wolfgang Bucks Plädoyer eröffnet und erhebt – sich von seiner ersten, zaghaften Aussage distanzierend – massive Vorwürfe gegen Lauer und das System Buck, die vom Gericht bereitwillig aufgenommen und zur Verurteilung genutzt werden. Anders gewendet: Vor Heßling wäre die Situation nie derart eskaliert, es wäre zu keiner Anzeige, zu keiner Anklage, zu keinem Verfahren und zu keinem Urteil gekommen. Erst Diederich Heßling setzt diesen Prozess in Bewegung und ermöglicht es, dass er konsequent zu Ende geführt wird.

4.

Der Weg Diederich Heßlings zur Macht führt über mehrere Etappen, mehrere Arrondierungsstufen, wofür er die Hilfe einiger, politisch teilweise gegensätzlicher Kombattanten benötigt. Dabei muss er Rückschläge einstecken, die ihn zwar offensichtlich beeindrucken, aber nicht nachhaltig daran hindern, das Projekt, das für Mann-Leser mehr und mehr erkennbar wird, weiter zu verfolgen.

Allerdings ist die Decke, an die Heßling immer wieder stößt, für ihn nicht zu durchdringen. Das adelige Machtprivileg, das ihre Repräsentanten uneingeschränkt nutzen, bleibt erhalten. Das ist gerade während der Eröffnungsfeierlichkeiten für das Kaiser-Wilhelm-Denkmal erkennbar, als Heßlings Platz von der Mätresse eines adeligen Offiziers (des „Flügeladjutanten“, „Donnerwetter“) eingenommen wird und Heßling diese offensichtliche Missachtung hinnimmt. Sein Aufstieg erweist sich hier als begrenzt, wobei es vor allem symbolische Begrenzungen sind, auf die er stößt. Doch zugleich ist sein Aufstieg unaufhaltsam.

Zwar schwingt er zu Beginn nur machtgeschwängerte, wenngleich ein wenig peinliche Reden im Kreis der Familie und in der Fabrik, faselt von der kommenden Größe, davon, dass jetzt ein neuer Schwung in die Bude komme und dass ab sofort sein Wille absolut gesetzt sei. Zur Demonstration seines Durchsetzungswillens wirft er das Arbeiterpärchen, das er im Lumpenlager erwischt, in hohem Bogen und mit machtvoller Geste hinaus.

Aber er begnügt sich nicht mit einer solchen Geste, er startet sogleich eine Reihe von Aktivitäten, mit denen er seine Position vor Ort zu verbessern sucht. Er beginnt am selben Tag seine Antrittsbesuche bei den lokalen Machtfaktoren, deren erster ihn zum alten Buck führt, von dessen Rolle im Machtgefüge Netzig er immerhin genug weiß. Hier agiert er unterwürfig und kleinlaut, sehr wohl wissend, dass ihm Buck das Fortkommen in Netzig unmöglich machen könnte, wenn er sich gleich zu Beginn allzu deutlich als kaisertreuer Nationaler zu erkennen geben würde – davon abgesehen, dass Heßling nicht auf die Idee käme, sich mit einer derart anerkannten Autorität anzulegen. Aber auf den Besuch bei Buck folgen noch weitere Besuche: beim Bürgermeister Scheffelweis, bei dem Heßling den Staatsanwalt Jadassohn kennenlernt, und beim Pastor Zillich. Schließlich kehren Heßling, der Pastor Zillich und der „jüdische Herr von der Staatsanwaltschaft“ in ein Wirtshaus aus.

Der erzählerischen Verdichtung ist es möglicherweise zu verdanken, dass die erste Eskalationsstufe, aber auch der erste Rückschlag bereits zu diesem frühen Zeitpunkt, am ersten Tag, in der ersten Nacht in Netzig erreicht werden: Denn der junge Arbeiter, den Heßling mit seiner Freundin im Lumpenlager aufgescheucht und fristlos entlassen hat, wird vor dem Haus des Regierungspräsidenten von einem überforderten Wachsoldaten erschossen. Die herbeigeeilten Zecher geraten in einen heftigen Streit mit den Liberalen, dem lokalen Arzt Doktor Heuteufel (der auch Heßling den Rachen pinselt, weshalb der sich vor ihm ängstigt) und dem Fabrikanten Lauer. Der Streit eskaliert im Wirtshaus, in das alle einkehren und sich an verschiedenen Tischen niederlassen. Die einen, die Liberalen, fordern die „Führung im Staat“ für das Bürgertum, die anderen sehen in dem Vorfall die heroische Demonstration der Macht an sich. Im Ergebnis wird Heßling seinen Kontrahenten Lauer wegen Majestätsbeleidigung anzeigen, und Jadassohn wird das Verfahren vorantreiben – was dazu führt, dass Heßling, der als Hauptzeuge geladen ist, umgehend von der Netziger Gesellschaft in Acht und Bann geschlagen wird.

Heßling hat freilich mit diesem Abend bereits die „natürlichen“ Mitglieder der nationalen Partei arrondiert, die alle an seiner Tischrunde teilgenommen haben, eine Zusammenkunft also mit den relevanten nationalen Gesinnungsgenossen aus Kirche, höherem Bildungssystem, Militär, Rechtssystem, Medien: Pastor Zillich, Staatsanwalt Jadassohn, Gymnasialprofessor Kühnchen, Major Kunze, der im Vorstand des Kriegervereins ist, und der Journalist Nothgroschen, Redakteur der Netziger Zeitung. Heßling knüpft förderliche Kontakte, sucht Mitstreiter oder Verbündete zu identifizieren und ist bemüht, sich in die Zentralposition einer überhaupt erst noch zu gründenden nationalen Partei zu positionieren. Der Erfolg der ersten Sondierungsversuche, die den Nukleus einer nationalen Gruppierung in Netzig erkennen lassen, wird aber mit dem Verfahren gegen Lauer sofort suspendiert.

Das muss Heßling wenigstens am kommenden Morgen so erscheinen, als er sich – aus dem Rausch erwacht, der sich aus nationalistischem Größenwahn und allzu starkem Alkoholgenuss zusammensetzt – mit der offensichtlichen Missachtung seiner Netziger Mitbürger konfrontiert sieht. Heßling hat zwar erste Kontakte geknüpft und sich positioniert, aber er hat bis dahin die Machtposition Bucks nicht antasten können, was man ihn spüren lässt.

Das ändert sich erst mit der Gerichtsverhandlung, in der Wolfgang Buck unabsichtlich die Sache Heßlings befördert: Dieser Prozess wird durch die Anerkennung von Wulckows verstärkt; die Anerkennung erfährt ihre erste Konsolidierung während der Theateraufführung, die Heßling als direkter Gesprächspartner Frau von Wulckows absolviert, wird durch die Abwerbung Guste Daimchens, der Verlobten Wolfgang Bucks, bestätigt und erreicht schließlich in den komplexen politischen Verhandlungen ihren Höhepunkt, die Heßling im Geheimen mit den Repräsentanten der gegensätzlichen Parteien führt: In ihnen werden Projekte wie die Kandidatur Heßlings für den Stadtrat, die Wahl Napoleon Fischers zur Nationalversammlung, die Realisierung des Gewerkschaftsheims und des Kaiser-Wilhelm-Denkmals – beides Prestigeprojekte ihrer jeweiligen Partei –, die Suspendierung des Waisenhauses, das von den Liberalen als Leuchtturmprojekt durchgesetzt werden soll, die Grundstücksspekulationen um das Kaiser-Wilhelm-Denkmal und die Übernahme der Gausenfeldschen Papierfabrik besprochen und vorbereitet. Dabei vereinbaren Nationale und Sozialdemokratie eine Reihe von verdeckten Ausgleichsgeschäften, bei denen beide Seiten ihr Gesicht wahren, die jeweilige politische Fassade sichern und zugleich politische und persönliche Projekte realisieren können. Das Ganze, wie es Heinrich Mann vorführt, ist Hinterzimmerpolitik par excellence und korrupt gleichermaßen. Aber es ist zugleich lehrbuchmäßig umgesetzt.

Vor allem die Durchsetzung Napoleon Fischers bei der Wahl zur Nationalversammlung ist von der Umsicht Heßlings und seiner präzisen Einschätzung der Möglichkeiten geprägt, die ihm zu Gebote stehen. Er baut den Kandidaten der eigenen Partei nicht zuletzt auf, um ihn bei der Wahl möglichst kläglich scheitern zu lassen: Major Kunze ist weder politisch erfahren noch hinreichend intelligent genug, um komplexere Sachverhalte angemessen einschätzen zu können. Auch seine rhetorischen Fähigkeiten sind zu begrenzt, um für die nationale Sache mobilisieren zu können. Kunze geht mit Bausch und Bogen unter – und befördert damit nicht nur das konkrete politische Projekt Heßlings, die Wahl Fischers, sondern auch den Aufstieg Heßlings.

Die Auswirkungen dieser Aktivitäten machen sich in der Öffentlichkeit Netzigs direkt bemerkbar, beginnend in der Schlussphase der Gerichtsverhandlung, in der die ersten treuen Gefolgsleute des alten Bucks wegbleiben, über den schmaler werdenden Cercle, den der alte Buck bei der Laientheateraufführung der Frau Regierungspräsidentin hält, bis zu dem Moment, in dem Buck vom Granden Netzigs zum ausgestoßenen und verarmten Alten wird, der durch die Netziger Straßen streift und wirr von vergangener Größe faselt.

5.

Es ist kein sehr freundliches Bild, das Heinrich Mann von Politik zeichnet. Nicht das Webersche „Bohren dicker Bretter“ steht im Untertan im Vordergrund, kein parteipolitisch indiziertes Projekt, das es gegen Widerstand durchzusetzen gilt. Stattdessen wird Politik als schmutzige, den persönlichen, meist materiellen Interessen ihrer Akteure verpflichtete, selbstsüchtige Aktivität präsentiert. Die öffentliche Rede solcher Politiker ist stets Fassade, hinter der sich die die eigentlichen Interessen verbergen: Geld, Einfluss, gesellschaftliche Stellung. Zugleich rührt diese Politik nicht an der Macht der „Herrenkaste“, wie Heinrich Mann die adelige Kamarilla 1911 im Essay Geist und Tat nennt, ganz im Gegenteil, sie wird Mal um Mal bedient, um im Gegenzug den eigenen Interessen unbehelligt nachgehen zu können. Das mag dem Profil der „öffentlichen Seele unter Wilhelm II.“ entsprechen, wobei zu fragen wäre, ob sich das Deutsche Kaiserreich um 1900 darin wesentlich von anderen Industriegesellschaften dieser Zeit unterscheidet. Aber das ist zweitrangig.

Wesentlich daran aber ist, dass die Priorität von Politik, also das öffentliche Aushandeln gesellschaftlich relevanter Entscheidungen, in diesem Roman in vielerlei Hinsicht bestätigt wird, und zwar durch die Überzeichnung Diederich Heßlings hindurch. Anders als in Geist und Tat steht freilich hier nicht der Intellektuelle, der sich an die „Herrenkaste herangemacht“ hat, im Fokus, sondern einer jener großen Männer, die sich eine moderne Gesellschaft, ein „Volk von heute“ eben, nicht leisten kann. Die Kosten sind zu hoch. Der Blick ist also nicht auf das schwache Kind zu richten, das alles tut, um Bestätigung zu erfahren, sondern auf den skrupellosen Akteur im öffentlichen Leben, für den Öffentlichkeit eine Bühne ist, auf der er alles spielen kann und für den Nutzen nur im eigenen Profit besteht.

Dieser Text ist auch das Resultat eines Lektürekurses zu Heinrich Manns „Untertan“ an der Leibniz-Universität Hannover im Wintersemester 2020/21. Den Studierenden, die daran teilgenommen haben, gilt mein Dank.