Hambi bleibt!

In Andreas Wagners Debütroman „Jahresringe“ erleben wir drei Generationen einer Familie, deren Schicksal eng verflochten mit dem Tagebau um den Hambacher Forst ist

Von Saskia ZiemackiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Saskia Ziemacki

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heimat, Krieg, Klimawandel – große gesellschaftspolitische Themen, die der Autor Andreas Wagner durch eine Familiengeschichte erfahrbar macht. Sein Roman Jahresringe ist in drei Teile gegliedert, die vom Leben der Nachkriegszeit bis zum aktuellen „Kampf“ gegen den Braunkohletagebau und die Abholzung des Hambacher Forstes reichen. Doch wirkt es dabei keinesfalls, als würde man eine historische Dokumentation oder die Nachrichten sehen. Wagner schafft ein bisher ungekanntes Verständnis für die einzelnen Personen im Roman, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben und an der Umsiedlung ihres Dorfes und an den Baumbesetzungen beteiligt waren. Er thematisiert die Fragen, was wir tun, um unsere Heimat zu beschützen und ob wir überhaupt eine Wahl haben.

Jahresringe ist Andreas Wagners erster Roman. Dabei schafft er es bereits, dass wir nicht nur etwas lernen können, sondern auch unsere Gefühlswelt angeregt wird. Der Autor wuchs in der Nähe der Braunkohlekraftwerke im Rheinland auf und wurde seit seiner Jugend mit der Zerstörung der Dörfer durch den Tagebau konfrontiert. In dem Roman bringt er Wissen und persönliche Empfindungen zusammen. 

Es scheint, als schauten wir selbst auf einen abgesägten Stamm und blickten genau auf einzelne Jahresringe. Auf den Ringen von 1946 bis 1964 tauchen wir in die emotionale Lebensgeschichte von Leonore Klimkeit ein, die als Geflüchtete aus Ostpreußen nach Westdeutschland kommt. In dem kleinen Ort Lich-Steinstraß, zwischen Köln und Aachen, wird die Waise von einem Bäcker aufgenommen. Als Flüchtling in einem Dorf sowie als Protestantin unter Katholiken hat Leonore es ihr Leben lang schwer, akzeptiert zu werden. Der Bürgewald, später Hambacher Forst genannt, der ans Dorf angrenzt, wird zu einem Zufluchtsort – zu ihrer neuen Heimat. 

Als sie den Wald betreten hatte, war es, als ob die Baumriesen hinter ihr ihre Reihen schließen würden. Sie stand inmitten eines tiefen, uralten Waldes. Unter ihren Füßen knackten Eicheln und die Nüsschen der Hainbuchen.

Die Liebe zum Wald und auch einzelne Freundschaften werden detailliert beschrieben und schaffen eine besondere Atmosphäre, durch die man sich in die Protagonistin hineinversetzen kann. Durch Leonore sind die Teile des Romans verbunden, ihre Lebensgeschichte rahmt die Handlung. So können zwischen ihrer Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und der Zerstörung ihrer neuen Heimat durch den Tagebau Parallelen gezogen werden.

Im zweiten Teil springen wir in die Jahresringe von 1976 bis 1986 und somit in eine neue Generation. Auch Leonores Sohn Paul begleiten wir von seiner Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter. Wir erleben seine Beziehung zu seinem besten Freund John, zu seiner Mutter, zum Dorf und dem Wald. Die anfängliche Idylle ist nicht von Dauer: Paul muss einige Schicksalsschläge erleiden und auch sein geliebter Bürgewald ist dabei, „einen langsamen und geräuschvollen Tod“ zu sterben. Ein positiver Gegenpol zu den zerstörerischen Motorengeräuschen und zum gesamten Geschehen ist dabei immer wieder die Musik der Beatles. Die Lieder sind eng verflochten mit Pauls Leben: 

Er wollte wieder Kind sein und mit seiner Mutter an der Hand die Bürge durchstreifen. »Es geht nicht«, sagte Leonore. Beide schwiegen. »Nothing to kill or die for«, hörte er eine vertraute Stimme singen, »and no religion, too«.

John Lennons Song Imagine steht hier für alles, was sich die Familie von Generation zu Generation wünscht: Ein Leben ohne Kampf um die Heimat und ohne Ausgrenzung. Doch die Bagger, die Leonore in ihrer Jugend bereits als Höllenmaschinen bezeichnet hat, werden in Pauls Kindheit immer präsenter. Das Braunkohleunternehmen Rheinbraun beschließt, das Dorf und den Wald zum Tagebau zu nutzen und es dem Erdboden gleichzumachen. Lich-Steinstraß wird umgesiedelt, der Wald zum Großteil gerodet und damit Pauls und Leonores Heimat zerstört.

In Teil drei des Romans blicken wir auf die Baumringe 2017 bis 2018 und machen erneut einen Sprung in die nächste Generation – in die von Pauls Kindern Jan und Sarah. Der Konflikt um den Tagebau nimmt hier sein volles Ausmaß an. Während Jan die Schaufelradbagger für RWE bedient, kämpft Sarah als Aktivistin gegen die Abholzung des vom Bürgewald übrig gebliebenen Stück Waldes – des Hambacher Forstes. 

Da die gesamte aktuelle Debatte um den Klimawandel und eine Energiewende in diesem Teil abgehandelt wird, scheinen wir nur noch oberflächlich an den Personen und der Atmosphäre zu kratzen. Kurze Abrisse wie der über die Homosexualität des Sohnes wirken hier, als wollte der Autor noch möglichst viele Themen abarbeiten. 

Doch vermutlich will der Autor hier auf eins hinaus: Dass auch der letzte Charakter des Romans eine Verbindung zum Wald aufbaut. Denn das ist es, was sie alle verbindet, was wie ein roter Faden durch die gesamte Zeitspanne läuft. 

Auf 256 Seiten wird es bei so vielen Protagonist*innen schwer, überall in die Tiefe zu gehen. So begleiten wir Leonore von Anfang bis Ende und auch Jan und Sarah tragen mit den Entscheidungen, die sie treffen, zu einem runden Ende des Romans bei. Aber die Geschichte von Paul verliert sich. Da man seine Figur im zweiten Teil noch so gut kennengelernt hat, ist es schade, dass man nicht mehr weiter miterlebt, wie auch er sein Schicksal in die Hand nimmt und eine eigene Wahl trifft. 

Der Roman hätte daher durchaus mehr Seiten gebrauchen können. Denn mit seinem klaren Schreibstil sorgt der Autor dafür, dass wir das Buch schnell verschlingen. Er bringt uns auf einfache, authentische und gefühlvolle Weise schwere Themen nah. 

Titelbild

Andreas Wagner: Jahresringe.
Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2020.
256 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783426282502

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch