Im Märchen des Verwahrlosten

Aus Sicht eines Heranwachsenden fängt Lorenz Just in „Am Rand der Dächer“ die Stimmung der Nachwendezeit in Berlin-Mitte ein

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem Roman-Debüt Am Rand der Dächer entwirft Lorenz Just das Berlin der Nachwendezeit aus Sicht des zunächst achtjährigen und später heranwachsenden Ich-Erzählers Andrej. Der 1983 in Halle an der Saale geborene und seit 1988 in Berlin lebende Autor lässt den Protagonisten mit seinem Freund Simon durch die deutsche Hauptstadt streifen. Geleitet von ihrer natürlich-kindlichen Neugier spielen sie in verwahrlosten Vierteln, betrachten ewige Baustellen und begegnen Hausbesetzern in der Nachbarschaft. Überdies teilen Andrej und Simon ihre Vorliebe auf Dächer zu steigen – ein Platz, in dem sich ihr individuelles Freiheitsgefühl manifestiert. Und auch die anderen Orte entfalten trotz ihrer Verfallserscheinungen für die beiden eine Faszinationskraft und lassen sie zunächst kindlich-abenteuerlichen Spielen nachgehen: 

Seit wir aus dem Kinderschlag erwacht waren, zog es uns in den Leerstand, in die Bruch- und Trümmerbuden, wir spürten ihre schlummernde Kraft, lebten in der Faszination für die Märchenwelt des Verwahrlosten, kannten den Taumel, ein verschollenes, vor Urzeiten verlassenes Gebiet zu betreten, es wie im Rausch zu durchstreifen, zu entdecken, ein rostiges Taschenmesser oder eine bunte Zigarrenbüchse zu finden […]. 

Vor der Kulisse des verwahrlosten Berlin-Viertels wächst Andrej heran, lernt seine erste Jugendliebe Annika kennen, die unter Magersucht leidet, und pflegt seine schier unerschütterliche Freundschaft zu Simon. Als Andrej älter wird, blitzen hin und wieder philosophische Gedanken auf, die kindlich-naive Sicht auf die Welt verblasst allmählich: Als er auf einem Dach über Berlin und in den Horizont blickt, fragt er sich, ob die Apokalypse langsam voranschreite oder ob dies bereits das postapokalyptische Zeitalter sei. Eine Antwort bleibt glücklicherweise aus, der oftmals reflektiert-beobachtende Ich-Erzähler kommt trotz derartiger Denkanstöße nie rechthaberisch oder gar missionarisch daher. Vielmehr festigt sich bei weiterer Lektüre der Eindruck, dass Andrej in seinem kleinen Berlin-Kosmos eine gewisse Schwermut verspürt: „Endzeitstimmung wehte über die schwarze Ebene, lebte im Geruch vom schmelzenden Teer und im leisen Rascheln von Müll, den der Wind in windgeschützten Ecken liegen ließ.“ Diese Schwermut mündet in eine kollektive Sehnsucht gen Westen. „Alles blickte und horchte nach Westen.“ Genauer gesagt nach Amerika, einem Land, von dem Andrej nicht viel weiß, aber das ein diffuses Lebensgefühl widerspiegelt und ihm verheißungsvoll genug erscheint, um dort ein Austauschjahr zu verbringen. 

Aus Andrejs und Simons eher harmlosen Abenteuerspielen entwickeln sich mit zunehmendem Alter handfeste Einbrüche in fremde Wohnungen. Auch hier steht die Beobachtungsgabe des Ich-Erzählers im Vordergrund. Die neuen Wohnungen der Nachwendezeit werden als „seelenlos“ beschrieben „und alles verblieb im unpersönlichen Beliebigen, als wären wir in die Schaufenster des KaDeWe eingestiegen.“ Unter dem Diebesgut der Einbrecher befindet sich aber meist nichts Wertvolles oder Besonderes, da darf es auch mal ein Kasten Schweppes-Limonade sein. Dass die Einbrüche nicht spurlos an Andrejs Gewissen vorbeigehen, zeigt seine gegen Ende des Romans fast schon paranoid anmutende Furcht vor Polizeiwagen, deren Blaulichter ihn bis in seine Träume verfolgen. Vor seinem inneren Auge entstehen Bilder, die sich seinem Einfluss entziehen. „Tiefer und tiefer versank ich in fatalistischen Gedankenschleifen, Bilder tauchten auf, auf denen mein Bruder von einer aus dem Nichts fallenden Wasserbombe erschlagen wurde […].“  

Derartige Traumbilder, angesiedelt in der kaum fassbaren Phase zwischen Wachen und Schlafen, offenbaren Ängste und Wünsche Andrejs und verraten stellenweise mehr über sein Innenleben, als es seine Erzählstimme vermag. Eine Kommentierung oder gar Deutung dieser Träume bleibt aus, Just lässt seine eindrucksvollen und gut durchkomponierten Sprachbilder für sich sprechen: „Während ich Zähne putzte, schloss ich die Augen und spürte schon den Schlaf, der wie ein warmes, dunkles Bad auf mich wartete.“  

Just topographiert in seinem Debüt-Roman das Berlin der Nachwendezeit aus der kindlichen, später jugendlichen Sicht seines Ich-Erzählers, der die Atmosphäre der Nachwendezeit bis zur Jahrtausendwende einfängt. Sowohl die Wahl der Perspektive als auch die damit einhergehenden beobachtenden Beschreibungen, die nie ins Phrasenhafte abrutschen, überzeugen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Lorenz Just: Am Rand der Dächer. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2020.
272 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783832181116

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