Die Enge und Stille endloser Quarantäne

Florian L. Arnold schreibt mit „Die Zeit so still“ eine sprachmächtige Novelle über Mitmenschlichkeit trotz Todesvirus

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die unerhörte Begebenheit, um die es in jeder Novelle geht, wird aus den Erinnerungen eines alten Mannes deutlich. Die namenlose Stadt, in der er lebt, ist seit unbestimmter Zeit von einem Todesvirus gezeichnet. Auch wenn von Corona nicht die Rede ist, könnte es sich um das späte Stadium dieser Pandemie handeln.

Die meisten Menschen dürfen die Wohnung nicht verlassen. Der Staat hat Türschlösser angebracht, die nur von „befugtem Personal“ zu öffnen sind. Das geschah nicht aus Bosheit, sondern unter dem Zwang der Notsituation. Durch die Nachbarn, die Stadt und den Staat wird kontrolliert, dass sich ein jeder die amtlichen Durchsagen anhört, einen prasselnden Schlagworthagel von Banalitäten. Die Normalität ist ausgemustert. Alle zwei Tage bringen städtische Fahrzeuge die Essenrationen mit Brot, Quark, Eiweißnahrung, Püriertem und Kondensiertem. In einem Wagen mit blutrotem Kreuz werden Leute weggefahren.

Der Mann erinnert sich an den zornigen Streit zwischen Befürwortern und Gegnern harter Maßnahmen und an die allgemeine Ahnungslosigkeit. Er war Wissenschaftler und gehörte zu den wenigen Experten, die wussten, dass es keinen Schutz geben würde. Kämpfen konnte oder wollte er nicht. Die sinnlosen Maßnahmen wie Masken, Handschuhe und Warnschilder amüsierten ihn. Den Leugnern der Krise stellte er sich nicht entgegen, in der Hoffnung, alles würde gut, sobald genügend Menschen immun seien. Seine Liebsten konnte er nicht beschützen. Nun kommentiert er seine Einsamkeit: „Besser zu zweit unter der Erde als allein zu Hause.“

Wider alle Verbote verlässt der Mann seine Wohnung und geht durch die menschenleere Stadt, in der es von Tieren wimmelt. Er begegnet einem verletzten Kind. Der Kontakt mit ihnen ist strengstens verboten, denn Kinder tragen das Virus in sich, das bei ihnen nur Unwohlsein auslöst, die Erwachsenen jedoch umbringt. Kurznotizen am Seitenrand zeigen, dass Mann und Kind von Polizei und Seuchenschutz beobachtet und verfolgt werden. Der Autor hat das Buch einschließlich des Umschlagsbilds gestaltet und kreisrunde Grafiken eingefügt, die wie Überwachungsblicke durch ein Teleobjektiv wirken. Der Mann bricht in sein ehemaliges Labor ein und beschafft Medikamente für das Kind. Sein eigenes wurde ihm weggenommen, wobei die „freundlichen Vollzugsmenschen“ ihm die Lüge auftischten, er dürfe es bald besuchen.

An der Endhaltestelle sieht er in einer Straßenbahn den Fahrer, der in einem Buch liest. Der Mann steigt ein und gesteht, dass er ein Ausbrecher ist. Der Fahrer stellt sich als Garham vor. Vorname oder Familienname? Unwichtig. Er erzählt, dass er in jeder Fahrpause liest. Vom Land sei er einst in die Großstadt gekommen, deren wildes Treiben ihn angezogen habe. Jedoch habe er keinen Halt gefunden, sei gar zum Mörder geworden, inzwischen aber ungefährlich. Er bezeichnet das Buch, in dem er liest, als seinen einzigen wertvollen Besitz. Worte aus den 26 Buchstaben des Alphabets könne auch er formen, aber nie etwas wie dieses Buch. Autor sei ein gewisser Geron, sein Bruder und wiederum auch nicht. Geron wurde als Kind verunglückter Eltern in die Familie aufgenommen, als Garham 13 Jahre alt war. Gemocht hat er den kleinen schmächtigen Burschen nicht, sondern sich über dessen Nutzlosigkeit geärgert. „Außer dem Lesen und Wiedergeben von Büchern war er zu nichts verwendbar…“

Die Straßenbahnen, lichterfüllte Kokons in dunkler Umgebung, fahren leer nach Fahrplan, weil die Menschen ohne die Erschütterungen der Häuser wahnsinnig und vielleicht widerständig würden. Unterwegs wird mehrfach angehalten, denn Tiere tummeln sich über den Resten der Zivilisation. Man hört Klänge der Natur, die früher vom menschlichen Lärmen zugedeckt wurden. Der Autor bringt uns die Natur in poetischer Sprache nahe.

Der Fahrgast überlegt, ob er sich vorstellen soll, und entscheidet sich für einen falschen Namen: Goudeau. Das mag wegen des überdeutlichen Hinweises auf den Godot von Samuel Beckett irritieren – und auch, weil Godot kein Akteur im absurden Drama ist, sondern vergeblich erwartet wird. Graham jedenfalls durchschaut die Lüge und will wenigstens den richtigen Vornamen wissen.

„Max“, sagt der Mann, der als Mitarbeiter eines Labors systemwichtig war, die Wohnung verlassen und echte Äpfel essen durfte, „nicht das furchtbare Zeug aus den Laboren“. Als er Versuche an Heimkindern durchführen sollte, täuschte er Wahnsinn vor. Ihm lag nichts an der Wiederherstellung einer Normalität mit Benzinduft, Krach und all den Überflüssigkeiten.

Garham hat erst dank Geron die Schönheit und Besonderheit der Vogelwelt erkannt. Hinter Gerons Interesse dafür sah er dessen Liebe zu allem Lebendigen. Max berichtet ihm, dass er zwei Dohlen freiließ, die er vergiften sollte.

Der 24-jährige Garham verliebte sich in ein unterernährtes Mädchen voller Energie. Von ihr lernte er, „dass Bücher nicht nur Staubfänger und alter Leute trauriger Zeitvertreib sind“. Das Mädchen freundete sich mit Geron an. Daraus wurde keine Romanze, doch Garham blieb ausgeklammert. Als bekannt wurde, dass man in den Krankenhäusern nur noch jeden Fünften behandelte, kam es zu einem Massenprotest im Stadtzentrum. 

Die Polizei setzte zunächst nur Knüppel und Blendgeschosse ein, doch dann fielen Schüsse. Geron lag tot in seinem Blut, und das wütende Mädchen wurde von vier Polizisten gebändigt und festgenommen. In wütender Verzweiflung erschlug Garham einen blutjungen Polizisten. Dessen Augen im bartlosen Kindergesicht konnte er nie vergessen. Lebenslänglich lautete das Urteil, doch nach 15 Jahren kam Garham frei. Er fand weder das Mädchen noch Gerons Grab. Doch einige Bücher hatte sein Nachmieter gerettet.

Nach Auskunft des Autors entstand das Buch in wenigen Tagen des ersten Lockdowns im April 2020. Erste Motive waren die Enge und die Stille. Doch der Leser solle „auch die Sprache, die Erinnerung, die menschliche Wärme und das Miteinander als Sehnsuchtsort“ im Blick haben. Nachdrücklich bekräftigt die stilistisch meisterliche Novelle den Wert der Mitmenschlichkeit und der Erinnerung an unwiederbringlich Verlorenes. Verloren bleibt es dennoch. Und es stellt sich die Frage, ob die Menschen eine Seuche waren, die zugunsten der Tierwelt verschwindet.

Die beiden gescheiterten Männer – der eine ein Totschläger, der andere ein Feigling – sitzen bei der Beobachtung von Vogelwolken wie am Ufer eines neuen Kontinents. Garham legt das Buch in Goudeaus Hände. Er soll ihm sagen, ob das gedankliche Labyrinth, festgehalten in Mikroschrift und Vogelpiktogrammen, als letzte Botschaft seines Bruders zu ergründen ist. „Die Sprache ist ein Haus mit vielen Stockwerken und ich habe mich womöglich schon im ersten Geschoss verirrt.“ Bis weit in den Morgen beobachten sie die Vögel. In deren Mitte sieht Garham seinen Bruder Geron, frei von aller Erdenschwere.

Titelbild

Florian L. Arnold: Die Zeit so still. Novelle.
Mirabilis Verlag, Miltitz bei Meißen 2020.
108 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783947857104

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