Der Untergang des Hauses Wenksterman

In „Das Haus an der Keizersgracht“ brilliert Rinske Hillen mit der realistischen Re-Inszenierung einer Horror-Story

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keizersgracht 268 – es ist das Haus mit der Goldenen Kette, das man auch Spukhaus von Amsterdam nennt, weil sich zwischen den Bäumen in seinem Garten mitunter die Wiedergänger der Familie Wenksterman tummeln. Über Generationen hinweg wurde für jede und jeden Verstorbenen eine Eiche gepflanzt, nur für einen noch nicht, dessen Asche in einer Urne in der Standuhr im Gartenhaus ruht. In dem mehr als 300 Jahre alten Haus, durch dessen Wände sich ein Riss zieht und dessen Pfähle verrotten, wohnen der Biologe Bram Wenksterman und seine Geliebte Ella. Seine Frau Veerle wurde nach langen Jahren schwerer Depressivität in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen.

Kurz vor Wenkstermans 55. Geburtstag kehrt seine Tochter Amber aus Cambridge zurück, wo sie gerade ihr Studium der Philosophie abgebrochen hat. Während Ella eine Geburtstagsparty organisiert, versucht Wenksterman, seinen betagten und geldschweren Schwiegervater davon zu überzeugen, ihm eine hohe Summe für die Renovierung des Grachtenhauses zu überlassen. Diesem Ansinnen komme er nur dann nach, so Opa Apeldoorn, wenn der Bittsteller endlich Klartext mit Amber rede und ihr ein lang gehütetes Geheimnis offenbare. Wenksterman ist fest entschlossen, dies zu tun, doch das Gespräch läuft ins Leere. Schließlich offenbart Veerle ihrer Tochter, dass sie einen Zwillingsbruder hatte, der im Alter von vier Monaten zu Tode kam. Als Opa Apeldoorn stirbt, erbt Amber sein Vermögen. Wenksterman lebt nun allein im Haus mit der Goldenen Kette. Das Wasser steigt weiter, die Risse verbreitern sich und schließlich implodiert das Gebäude.

Rinske Hillens Romanerstling sprüht vor einer Vielfalt grundlegender Themen und Motive: Macht der Vergangenheit, Familie, psychische Erkrankung, Musik, plötzlicher Tod eines Säuglings. Einen passenden Rahmen dafür formiert die Parallelität von Haus und Familie. So wie das Haus, ist auch die Familie Wenksterman in Auflösung begriffen, so wie das Wasser unter dem Haus, so die vor der Tochter verborgene Katastrophe aus der frühen Kindheit. Das Wasser zersetzt das Haus, der rätselhafte Tod des Zwillingsbruders zerstört die Familie. Hat Veerle, die zu dieser Zeit schon krank war, ihn im Schlaf totgewälzt? Hatte sie zuvor Alkohol getrunken? War es doch der plötzliche Kindstod?

Wie überwältigend das Unglück, wie allgegenwärtig der Sohn – das manifestiert sich im Roman von Anfang an, um schließlich auf der Geburtstagsfeier zu eskalieren. Obschon „die Tragödie mit diesem Jungen Thomas“ unablässig in Wenkstermanns Erinnerungen ploppt und diese Veerles Leiden in einen Zusammenbruch münden lässt, bleibt das klärende Gespräch mit Amber aus. Die Erschütterung im familiären Mikrokosmos nähert sich der Zwillingsschwester vielmehr im Gewand einer subliminalen Bedrohung, lässt sie gruseln, wenn sie meint, im Gartenhaus die Erscheinung ihrer Großmutter zu sehen oder nachts neben ihrem Bett eine mysteriöse Präsenz zu spüren. Diese Atmosphäre des Zerrütteten und Phobischen spiegelt sich im dräuenden Kollaps des Hauses perfekt wider: Überall hakt und knirscht es, in der Bibliothek lässt sich nur das linke Fenster öffnen, das rechte Fenster ist verrottet. Kurz vor Beginn seiner Party stellt Wenksterman fest, dass sich Schimmel auf der Hauptmahlzeit gebildet hat, den er kurzerhand abschöpft. Zu beteuern, dass „das älteste Haus an der Gracht“ zwar wanke „wie ein alter Mann mit dem Stock“, es dabei aber „selbstbewusst und stolz“ sei, heißt, die Wahrheit zu verleugnen.

Eine solche evasive Haltung ist typisch für Wenksterman. Mehr noch als die anderen Romanfiguren erscheint er als zwar leicht stereotypisierter, dennoch rundum plastischer Charakter. Er, der intellektuell hochkompetente, emotional jedoch verkümmerte Wissenschaftler, ist ein eingefleischter Realitätsflüchtling, der es liebt, tagelang unter freiem Himmel herumzustreifen, um Ideen für seine Kolumne, „Wanderungen eines Naturliebhabers“, zu sammeln und sich mit dem Schreiben und Forschen in eine Parallelwelt zu begeben. Wölfe und Regenwürmer zieht er menschlicher Gesellschaft vor und anstatt zu feiern, möchte er nur eines tun, nämlich ein Buch lesen. Das Zusammensein mit Ella basiert auf physischer Erregung, nicht jedoch auf Zuneigung und Vertrautheit. Es erstaunt nicht, dass er dem Topos des „puer senex“ entspricht, „ein Mann, der ein Junge geblieben war“, der „noch nicht einmal pubertiert“ hatte. Transgenerationale Verstrickungen haben die intraindividuelle Entwicklung hin zu einer psychosomatischen Entität abgeblockt. Wenksterman bleibt der kleine Junge, der die Tür zum Keller schließt, wenn das Wasser steigt. Er ist der einsame Nomade, dessen Queste nach sicherer Bindung und nach Stabilität sich in die Natur-Expeditionen hinein fortsetzt. Wegen seiner inneren Verwahrlosung taugt er nur bedingt als Vater.

Wenksterman ist von drei Frauenfiguren umgeben, die bei aller Ähnlichkeit und verwandtschaftlicher Beziehung zueinander sehr unterschiedlich akzentuiert sind: Da ist seine Ehefrau Veerle, die im Alter von 18 Jahren Mutter von Zwillingen wurde und sich erst mehr als 20 Jahre später, gekleidet in einen explosiv roten Samtanzug, mit Heckenschere bewaffnet, aus ihrer postnatalen Psychose befreien und ihrer Tochter die Wahrheit sagen kann. Amber wirkt labil, ein „herumirrendes Mädchen“, so tituliert sie ihr Vater. Früh musste sie selbstständig werden, weil sich ihre Mutter kaum um sie kümmern konnte, trotz ihrer Anwesenheit abwesend war.

Amber ist mit einem jungen Mann zusammen, der das exakte Gegenbild ihres Vaters ist: zupackend und pragmatisch, nichts prokrastinierend. Bevor sie sich zu einer spirituell motivierten Reise durch Asien aufmacht, singt sie auf der Feier ihres Vaters ein afrikanisches Wiegenlied, dessen Klang in ihr „wie ein Urknall entstand“. Sie wird Gesang studieren und dabei, so wie Ella, die sie auf dem Klavier begleitet, insinuiert, „den Keller“ in sich öffnen. Ella selbst, Veerles Cousine, klarsichtige, körperorientierte „femme fatale“ und Konzertpianistin, verzaubert ihren Geliebten mit Rachmaninow. Die Magie dieser Musik, insbesondere die Stille zwischen den Anschlägen, triggert Wenkstermans Erregung und katapultiert ihn gleichermaßen in die Vergangenheit hinein, lässt ihn an seinen Vater denken, einen begnadeten Geiger, der nie aus dem Krieg zurückkehrte, so dass er allein unter Frauen aufwuchs.

Von den drei gegenwärtigen Frauen gelingt es keiner, die Oberhand gegenüber dem Haus und der Macht der Vergangenheit zu gewinnen. Keine von ihnen möchte in der Keizersgracht 268 wohnen. Als Wenksterman allein zurückbleibt, ruht die Narration auf ihm, zuvor changiert die homodiegetische Erzählstimme zwischen ihm, Ella und Amber. Die alternierende Fokussierung auf einem der Charaktere lebt von mannigfachen Rückblenden und Dialogen.

So schreitet das Erzählen munter voran, selbst dann, wenn sich die Autorin im Hintergrund darin gefällt, in die Homodiegese und die Dialoge Maximen und Sentenzen einzustreuen. Sie wirken als authentische Äußerung der sprechenden Figur, sind weder aufdringlich noch vordergründig moralisierend und decken die Bandbreite von Platituden bis hin zu philosophischer Tiefgründigkeit ab. Vermeintliche Binsenweisheiten, wie etwa „Heutzutage wird jeder gleich als depressiv bezeichnet, früher ging man da einfach einmal mit dem Waschlappen übers Gesicht“ oder „Der Mensch kann nicht endlos auf dem Bett sitzen und Trübsal blasen“ stehen neben existenziellen Denkanstößen wie „Ist das nicht das Wesen des Suchens nichts finden zu müssen“, „Was man jeden Tag sieht, sieht man nicht mehr klar“ oder „Wir Menschen spielen uns selbst einen Streich mit Worten wie ‚Schuld‘. Ist dieses Wort ‚Schuld‘ nicht die einzige wahre Sünde der Christen?“. Obgleich solche Aphorismen oft kursorisch fallengelassen werden und sie auch dann, wenn sie profunder werden, nicht unbedingt innovativ sind, erhebt sich die studierte Philosophin Rinske Hillen damit wohltuend erfrischend über ihre Fiktion.

Neben der Anthropomorphisierung des Hauses, die auch mal launisch als Diktum daherkommen kann („Die Bindung an ein Haus ist wie die Bindung an ein Kind“), besticht Hillens Text durch zusätzliche intensive Bildlichkeit. Am „Tag der Bekenntnisse“ sollen die „Luken aufgestoßen“ werden, Gefühlsregungen sind für Wenksterman „wie ein toter Fisch im Aquarium“ und Amber sieht sich „wie durch einen Seilzug mit ihrer Mutter verbunden. Ihre Mutter als Gewicht, sie als der gläserne Aufzug“. Je tiefer jene sinkt, desto befreiter erlebt sich diese.

Rinske Hillen hat einen durchweg realistischen Roman vorgelegt, dessen Prätext jedoch, wenn man Tzvetan Todorovs Kategorien zur Bestimmung fantastischer Literatur bemüht, ein unwahrscheinlich-fantastischer ist. Beim Lesen kann man nicht umhin, an Edgar Allen Poes Der Untergang des Hauses Usher zu denken. Die Ähnlichkeit potenziert sich, wenn man zu ausgeprägten, wohl auch klischeehaften Szenen des Gruselns gelangt, etwas als Amber um Mitternacht am Schreibtisch ihres Vaters steht und ein ganzer Stapel Blätter just in dem Moment durcheinandergeweht wird, als sie ein auseinandergefallenes Buch mit dem Titel Das Haus mit der goldenen Kette entdeckt.

Das Haus Usher hat einen Riss, der einem unterirdischen Fluss zu schulden ist, der Hausherr hat eine Zwillingsschwester, die lebendig begraben wurde, zurückkehrt und erst dann stirbt. Vor allem das Motiv der lebenden Toten begründet eine frappierende Ähnlichkeit, die dennoch kontrastiv ist: Ushers Zwillingsschwester lebt, wird aber als tot deklariert. Thomas Wenksterman ist tot, lebt jedoch als Daueranklage weiter. In beiden Fällen geht es um die existenzielle Paradoxie von Tod und Leben.

Im Gegensatz zu Poe entscheidet sich Hillen zwar gegen einen Ich-Erzähler, sie verzichtet aber nicht gänzlich auf ihn, denn Das Haus an der Keizersgracht beginnt mit einer Art extradiegetischem Auftakt, von dem man meint, dass er einen Rahmen konstruiere. Das ist jedoch trügerisch, denn es ist zu Recht zu unterstellen, dass hier Wenksterman spricht, sich mit der Adressierung an ein „Du“ an seine Tochter wendet und hier also eher Auto- als Extradiegese vorliegt.

Außer an Poes Horrorgeschichte sind feine Reminiszenzen an Der Tod in Venedig, vor allem an Luchino Viscontis Verfilmung mit Gustav Mahlers Musik, zu spüren, was im „Venedig des Nordens“ naheliegt. Es erstaunt kaum, dass Mahlers 3. Sinfonie zu Wenkstermans Lieblingsstücken zählt.

Überhaupt nicht verwunderlich ist es, dass Rinske Hillen im Jahr 2018 für Das Haus an der Keizersgracht mit dem ANV Debütantenpreis ausgezeichnet wurde. Welche Wirkmacht ein Geheimnis, seine immer wieder aufgeschobene Enthüllung entfalten kann, dass dieses zudem in einem transgenerationalen Kontinuum zu positionieren ist, das sich über die Jahrhunderte hinweg in der Atmosphäre eines besonderen Hauses entwickelt hat – all das ist in einem Netz vorzüglicher Narration verwoben. Man darf sich nach dem Debüt weitere Romane der Autorin wünschen.

Titelbild

Rinske Hillen: Das Haus an der Keizersgracht.
Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
272 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783895613678

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