Frauenmorde und Frauenmörder

Patrícia Melo berichtet in ihrem aufwühlenden Roman „Gestapelte Frauen“ in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion vom alltäglichen Töten in Brasilien

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Statistik der Frauenmorde zeigt seit Jahren einen unaufhaltsamen Anstieg – in Lateinamerika wie in vielen anderen Regionen der Welt. Mexiko steht im Mittelpunkt der unvorstellbar brutalen Gewalt gegen Frauen. Roberto Bolaño hat in seinem gewichtigen Roman 2666 einhundertacht anonymen Toten aus nur wenigen Jahren eine postume Hommage erwiesen, wollte damit ihre Schicksale vor dem Vergessen bewahren. Sie alle waren im fiktiven Santa Teresa – eigentlich der Grenzstadt Ciudad Juárez – umgekommen. Seitdem hat das Thema in der Literatur Mexikos einen festen Platz: Antonio Ortuño, Fernanda Melchor und viele andere haben sich damit beschäftigt: Politiker, Soziologen, Menschenrechtskommissionen, Selbsthilfeorganisationen, die Kirchen. Offensichtlich gelingt es dem Staat nicht, die systematischen Femizide aufzuklären und diese Hydra zu besiegen.

Aber nicht nur in Mexiko, auch in anderen Ländern Lateinamerikas weisen Autoren und Autorinnen immer energischer auf das Problem hin und verlangen Gerechtigkeit und Schutz. Soeben hat die Brasilianerin Patrícia Melo einen aufwühlenden Roman publiziert, Gestapelte Frauen (2021), der nicht nur eine fiktive Geschichte erzählt, sondern darüber hinaus eine Vielzahl von dokumentierten Morden auflistet. Jedes Kapitel hat einen realen Vorspann – das jeweilige Opfer wurde getötet vom Ehemann, Ex-Freund, Vater, Schwager, aus Willkür oder Eifersucht usw., und alle Altersklassen und Gesellschaftsschichten sind vertreten: „Das wahre Schafott der Frauen ist die Ehe.“  

Die Autorin, berühmt für packende Kriminalromane, thematisiert die zahllosen Frauenmorde in Brasilien. Auch hier ist die Statistik erschreckend hoch. Die weiße und nicht arme Protagonistin und Ich-Erzählerin, eine junge Anwältin, soll im Auftrag ihrer Kanzlei nach Cruzeiro do Sul in der entlegenen, an der Grenze zu Bolivien und Peru gelegenen Urwaldprovinz Acre reisen und dort „im Rahmen einer gemeinsamen Aktion der Justiz zur Abarbeitung aufgestauter Verfahren von Femiziden an Gerichtsproverhandlungen im ganzen Land teilnehmen“. Die Hauptgesellschafterin der Kanzlei möchte Material für ein Buch sammeln, „wie der Staat Mörder produziert, indem er asymmetrische Geschlechterverhältnisse billigt“. Zehntausende ungeklärter Fälle schlummern in den Gerichtsarchiven.

In Acre ist die Mehrzahl der Bevölkerung indigen oder ‚gemischt´ wie der Sohn des Hotelbesitzers, Marcos, der die Anwältin unbedingt in die für sie völlig fremde Welt einführen möchte. Sie findet bald Kontakt zu einer engagierten Staatsanwältin, Carla, später zu einer mutigen Journalistin, Rita. Und sie interviewt gewissenhaft Verteidiger, Richter, Zeugen und alle, die an einem Mord oder seiner Aufklärung bzw. Vertuschung mitwirken. So erfährt sie vom Schicksal der vierzehnjährigen Indigenen Txupira, die von drei jungen Männern aus den besten Familien vergewaltigt, gefoltert und umgebracht wurde. 

Während sie an dieser und ein paar anderen Verhandlungen teilnimmt, erklärt ihr der Pflichtverteidiger nach dem Freispruch eines Millionärs und eines Zahnarztes: „Das Einzige, was wir in Brasilien mit der Anwendung des Strafrechts erreichen, ist, Schwarze und Arme länger ins Gefängnis zu bringen.“ Aber sie lernt noch mehr: „Im brasilianischen Kastensystem, an dessen Spitze die Reichen und die Weißen stehen, rangieren die Indigenen noch unter den Schwarzen, die noch unter den Armen kommen und unter den Frauen… unsere Indios sind uns scheißegal.“

Wenig wahrscheinlich ist es also, dass die Mörder von Txupira bestraft werden. Und so verlassen diese bald triumphierend den Gerichtssaal, während die Staatsanwältin und die Anwältin ohnmächtig und wütend zusehen müssen, wie wieder einmal das Unrecht siegt. Sie sammelt die Fälle, die Geschichten dieser toten Frauen in einem Heft, berichtet der Kanzlei. Ihre Freundin und Kollegin erläutert ihr, nachdem sie das Material des Txupira-Prozesses gesichtet hat: „Wo lernen diese Arschlöcher, so was mit uns zu machen? Im Porno-Unterricht, den sie das ganze Leben lang erteilt bekommen…. Pornographie wurde von denselben Kerlen erschaffen, die die Hexen verbrannt haben. Als sie sich nicht mehr mit Hexen und Feuerwerk vergnügen konnten,  haben sie eine andere Form erfunden, Frauen umzubringen: Pornographie… eine wahre Fabrik zur Produktion von Frauenmördern.“   

In diesen Tagen lernt die Erzählerin auch mehr und mehr über die Bräuche, das Leben, die Mythen der Indigenen, zu denen Marcos ihr Zugang verschafft hat. Mehrfach reist sie ins Dorf der Familie von Txupira  und gewinnt nach und nach das Vertrauen einzelner Frauen. Manchmal nimmt sie Ayahuasca und hat dann sehr unterschiedliche Halluzinationen, in denen sie sich auch selbst erkennt, denn sie trägt ein Leiden in sich, über das sie noch immer nicht sprechen kann: als Vierjährige verlor sie ihre Mutter, ermordet vom Vater. Sie lernt  – in diesen Wachträumen –die Legenden der kriegerischen Amazonen kennen, die gegen die Unterdrückung durch die Männer kämpfen. Marcos bringt ihr auch die Geschichte von Acre näher: Dutzende von Dörfern wurden von den Kautschukpflanzern ausgelöscht, die Indigenen versklavt oder vertrieben. Heute sorgt die aus Peru oder Bolivien eingeschmuggelte Droge für lukrative Geschäfte: „Diese Geldbarone, nach denen heute die Städte hier heißen, sind allesamt Mörder.“ Auch Carla, die seit vier Jahren in Acre lebt, erläutert ihr: „Die Indigenen sind in unserer Gesellschaft… schlicht und einfach nicht existent. Sie sind ausgerottet worden. Schau dir nur das Ministerium für Soziale Gleichstellung an: Es gibt keinerlei Indigenenpolitik. Sie gehören einfach nicht zu unserer Gesellschaft.“

Als die Anwältin ihre Arbeit beendet hat und zurückfliegen soll, beschließt sie, noch etwas länger zu bleiben. Sie will sich, wie auch Carla und die Journalistin, nicht mit dem Freispruch für die Mörder Txupiras abfinden, denn sie hat noch einen Beweis gefunden… und schon bald überstürzen sich die Ereignisse, die hier nicht erzählt werden sollen.

Patrícia Melo hat einen packenden und exzellent konstruierten Roman über ein aktuelles, brennendes Problem geschrieben, der vermutlich jeden Leser und jede Leserin in einen Strudel von Wut, Fassungslosigkeit, Entsetzen und Grauen reißt. Das darf so nicht weitergehen, Femizide müssen endlich mit aller Härte des Gesetzes bestraft werden – ohne irgendwelche Privilegien und Schlupflöcher für korrupte Täter. In den letzten Jahren haben sich mehr und mehr Schriftstellerinnen zu Wort gemeldet. Sie alle sagen: Es reicht, basta, Schluss, enough is enough!

Und vielleicht sollte man wirklich untersuchen, welche Wirkung Pornographie und die zahllosen Krimis, mit denen wir in Film und Fernsehen überhäuft werden, auf die Gesellschaften haben, welchen Anteil sie tragen an der Verrohung der Sitten, der Abstumpfung oder des Fehlens jeglicher Empathie der Mörder mit ihren Opfern – ich verweise lediglich auf die schauerlichen, sadistischen Praktiken der Narcobosse, die an Dantes tiefsten Höllenschlund erinnern: sie sind Realität.

Ein Buch, dessen Lektüre nicht immer einfach ist, das man eigentlich lieber vergessen möchte – und das ich eindringlich empfehle: Nur wenn die Gesellschaft die zahllosen Femizide nicht länger totschweigt oder tabuisiert, Frauen und Männer gemeinsam und mit aller Kraft die Politik zum Handeln zwingen, damit endlich Abhilfe geschaffen wird und das Recht siegt, kann sich die unerträgliche Situation von Machtmissbrauch, Machismus und systemischer Gewalt ändern. Das brauchen wir dringlich: Sofort!

Titelbild

Patricia Melo: Gestapelte Frauen.
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita.
Unionsverlag, Zürich 2021.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005686

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