Weiblich – männlich – androgyn?
Johanna Meixner gibt in ihrer Dissertation „Androgynie in der Prosa Else Lasker-Schülers“ tiefe Einblicke in einige dieser Werke
Von Karl Bellenberg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMeixner hat mit ihrer im Juni 2020 an der Georg-August-Universität Göttingen erschienenen Dissertation ein opulentes Werk von 630 Seiten vorgelegt, das die „Androgynie in der Prosa Else Lasker-Schülers“ zum Thema hat. In sieben verschieden umfangreichen Teilen entfaltet sie ihr Thema, erläutert die Problemstellung und Forschungslücke und geht dann ein auf die Forschungsdiskussion. Sodann entwickelt sie die begrifflichen und theoretischen Voraussetzungen ihrer Arbeit mit zwei nachgestellten Teilen, die sich mit der Androgynie in der Romantik und einem Geschlechterdiskurs in der Zeit befassen, in der die betrachteten Prosawerke der Else Lasker-Schüler (im Folgenden abgekürzt: ELS bzw. LS) erscheinen: Das Peter Hille-Buch (1906), Die Nächte Tino von Bagdads (1907), Briefe nach Norwegen (1912), Der Prinz von Theben (1914) und Der Malik (1919). Dies ist die Prosa, die Meixner betrachtet. Außen vor bleiben Die Wupper (1909), Ich räume auf! (1925), Arthur Aronymus (1932), der zentrale Roman Das Hebräerland (1937) und ihr opus ultimum IchundIch (postum). Entgegen dem Buchtitel wird also nur die Prosa zwischen 1906 und 1919, der ersten, gleichwohl bedeutendsten Schaffensphase der LS untersucht; das sind etwa 300 Seiten Prosatext (im Vergleich zu den 11 Bänden der Kritischen Ausgabe des Gesamtwerkes). Diesen Texten gilt der sechste und auch mit Abstand umfangreichste, buchtitelgleiche Teil, der die genannten Werke chronologisch in den Blick nimmt. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis beschließt die Arbeit. Zum Formalen gehört auch die Betrachtung des Fußnoten-Apparates. Mit über 3.000 Fußnoten ist dieser gewaltig. Manchmal verdrängt er den Primärtext, oder beinhaltet Text, etwa Thesen, der besser in den Fließtext gehört hätte. Ein flüssiges Lesen wird dadurch erschwert.
Zweifellos ist das Thema der Androgynie im Werk der Lasker-Schüler bisher nicht so umfassend und als Einzelthema behandelt worden wie in der vorliegenden Arbeit. Gleichwohl wurde Androgynie in der Lasker-Schüler-Forschungsliteratur mehrfach berücksichtigt – nicht immer allerdings unter diesem Begriff – insbesondere bei Liska, Feßmann und Hallensleben, zum Teil auch Bluhm, die Meixner eingehend behandelt. Eine gleich umfangreiche Dissertation von Wolf Borchers (2001), die sich gleichfalls mit Androgynie zur Weimarer Zeit befasst und im einzelnen ELSs drei Schauspiele untersucht, bleibt unerwähnt. Gleichwohl ist Meixners Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur zum Thema sehr ausführlich und in der Breite und Tiefe erschöpfend. Hin und wieder, so will es scheinen, droht in den Exkursen bei aller Breite und Detailliertheit der Faden zu reißen. Schnell findet man sich beim synoptischen Lesen in der Auseinandersetzung mit den Gedankenführungen von Meixner umgeben von weiteren sieben bis acht Büchern der Primär- und Sekundärliteratur, die sie heranzieht.
Meixner stellt zunächst den wissenschaftlichen Klärungsbedarf zur Androgynie in der Prosa ELSs fest, grenzt jedoch den weitgefassten Titel ihrer Arbeit zeitlich auf die erste Schaffensperiode der Dichterin bis etwa 1919 und literarisch auf die Figuren Tino und Jussuf ein. Schwerpunkte der Fragestellung sind a) das androgyne Geschlechterspiel dieser Figuren, b) seine Bedeutung (Stellvertreterfunktion) für die eigene Autorinszenierung ELSs und c) die damit einhergehenden historischen, poetologischen und motivgeschichtlichen Aspekte.
Meixner zeigt gleich zu Beginn großes Bemühen um begriffliche Klarheit, zum Beispiel unter bewusster Verwendung des Oxymorons „weiblicher Autor“, um auf die Probleme der zu jener Zeit noch weitgehend männlich konnotierten Autorschaft, -autorität und künstlerischen Autonomie in Bezug auf ELS aufmerksam zu machen. Ihre Hinweise auf Dieter Bänsch sind problematisch, der unter anderem mit seiner Äußerung, ELS bediene sich fast ausschließlich männlicher Symbole, hier (wie übrigens in vielem anderen) falsch liegt und insgesamt einen unsensiblen, psychologisch/pathologischen Ansatz vertritt, der die Poetologie des Werkes der LS außen vor lässt und uns kein bisschen näher an ELS gebracht hat (vgl. Bauschinger).
Eine These Meixners lautet, ELS orientiere sich an frühromantischen, androgynen Vorbildern. Was die Frage provoziert, inwieweit diese ihr literarisch überhaupt bekannt waren. Hierzu zitiert sie Hinze (1972), eine etwas ältere Dissertation, die behauptet, LS habe „profunde Kenntnisse der romantischen Literatur“. Solche Thesen können nach heutigem Wissensstand und der seit Jahren vorliegenden Kritischen Ausgabe schwerlich gehalten werden. Weder in ELSs Werk noch in ihren Briefen gibt es Hinweise, dass sie sich intensiv mit anderer Literatur lesend auseinandergesetzt hat. Eine Ausnahme stellt ihr Werk IchundIch dar, das signifikant Bezug auf Goethes Faust nimmt. LS behauptete gar, dass sie keine Kollegen lese, nur ihre eigenen Werke, was allerdings mit Vorsicht betrachtet werden muss. Sie verfügte allerdings selbst über keine Bibliothek, nicht einmal über eine Hand voll Bücher. Ihre literarische Bildung – Bauschinger, Bluhm und Oellers (Hg. der KA) sehen in ihr eine poeta non-doctus – resultierte im Wesentlichen aus der Zeit mit ihrer Mutter, die die Klassiker sehr schätzte, und unter anderem aus den literarischen Diskursen und Vorträgen, denen sie in der kulturellen Szene Berlins – Die Kommenden und Neue Gemeinschaft – beiwohnte, etwa Rudolf Steiner über Nietzsche, sowie den damaligen Berliner Zeitschriften. Von Nietzsche hat sie, so die heutige Einschätzung, selbst nichts gelesen, obwohl dieser um 1900 en vogue war (vgl. Bluhm). Ihre Kenntnisse des Alten Ägyptens resultieren ebenfalls aus zweiter Hand (Lublinski u.a.). Der zitierte Uerlings weist hier auch nichts in Sachen „poeta non-doctus“ zurück, sondern bleibt wage, „daß sie vieles aufgegriffen hat“. Der Vorbehalt gilt vermutlich und im Gegensatz zu Liska auch ihrer vermeintlichen Kenntnisse zu Platon, zu dem sich ebenfalls nichts bei ELS finden lässt. Auch nichts über den platonischen „Kugelmenschen“, zu dem sich im Gedicht Erfüllung vermeintlich Anklänge finden: „Wir halten uns jauchzend umschlungen / Und kugeln uns über die Erde“, heißt es da. Eher ist dies aber ein volkstümlich gängiges Kinderspiel. Der Gedanke an Platons Mythos taucht bei Meixner auch als „Wiedervereinigung“ von Petrus und Tino auf, ein Bild, das gerade wegen des Altersunterschieds, den Lehrer-Schüler-Rollen sowie fehlender erotischer Beziehung und fehlender Ebenbürtigkeit der Protagonisten fraglich erscheint – trotz aller inneren, tiefen Verbundenheit.
LS legitimiert sich (als poeta non-doctus) im Wesentlichen durch die eigene, genialische Erfindungsgabe und ist gleichwohl (nicht nur) literarische Ausnahmeerscheinung und eine der bedeutendsten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Es wird nicht bestritten, dass romantische Elemente wie Motive bei LS zu finden sind; kein Wunder, war doch diese Epoche noch nicht lange vorbei. So tragen die Begriffe von Genie, Prophet und Gott-ähnlichem Künstler natürlich nach wie vor in der Folgezeit und auch bei ihr. Doch was heißt das? Feßmann dazu: „Die moderne Figurenimagination der Jahrhundertwende (~1900) ist jedoch nicht aus der romantischen Tradition abzuleiten. Die beiden Autoren […] Jean Paul und Clemens Brentano [auf den Meixner mehrfach rekurriert] wurden nicht als Romantiker ausgewählt, sondern, weil sich [dort] der Begriff der Spielfigur profilieren lässt.“ Feßmann sieht auch die Schreibfiguren um diese Zeit unter anderem Vorzeichen, nämlich gerade dem der Befreiung von der romantischen Dichtungstheorie. Im Übrigen sind Brentano und Lasker-Schüler schlecht zu vergleichen, sind ihre Autorschaft-Strategien doch diametral, wie Meixner selbst feststellt: hier Umgehung („Maria“) und Ablehnung, dort Bejahung der Autorschaft („ich bin die Else Lasker-Schüler“), allerdings mit Applaus ihres „Hofstaates“ all ihrer Spielfiguren. Die Bejahung ihrer Autorschaft stand bei aller Stellvertreterinszenierung nie infrage, auch nicht bei Meixner. – Nach diesen Überlegungen erscheint es problematisch, Folgerungen aus Platon- und Romantik-Bezügen des Lasker-Schüler‘schen Werkes zu ziehen, im Kern auch in Hinblick auf „romantische Vorprägungen von Androgynie-Motiven“ (Meixner). Ob ihre „Autorposition […] durch Vermännlichung mit zusätzlicher Autorität aus[ge]stattet“ wird (Meixner), sei dahingestellt. ELS bedurfte derer angesichts ihres bekanntermaßen großen Selbstbewusstseins (vgl. unter anderem Ich räume auf!) und Durchsetzungsvermögens nicht.
Das Fazit zum theoretischen Teil der Arbeit wäre – trotz der soeben gemachten Anmerkungen – eine detaillierte, kenntnisreiche Auseinandersetzung und Grundlegung zum eigentlichen Hauptteil der Dissertation, nämlich der genannten Prosa selbst. Dieser Hauptteil setzt sich akribisch und kleinteilig mit der literarischen Vorlage auseinander: zunächst mit den beiden Tino-Werken, auf die (aus Platzgründen) stellvertretend im Folgenden näher eingegangen werden soll.
Unbestritten ist Tino ein androgynes Konstrukt mit seiner häufigen Ineinssetzung von Figuren-Ich und Autor-Ich, wie Meixner richtig herausstellt (vielleicht hätten aber die zahlreichen Wiederholungen dazu vermieden werden können). Die Androgynie zeigt sich bereits im männlichen Namen ‚Tino’ selbst und seiner weiblichen pronominalen Zuordnung: ‚die Tino‘. Die weibliche Form wäre richtig ‚Tina‘. Von daher sind die Weichen klargestellt und das Knabenhafte in der Figur angelegt: „Tino, das kleine Mädchen mit den Knabenaugen“. Frühe Fotografien der Dichterin, das Brautbild 1894, die Fotos von 1896 und als junge Frau, zeigen uns überdies eine ephebenhaft schlanke Gestalt mit Pagenhaarschnitt, wie sie auch Hille gegenübertrat, und die womöglich ganz unmittelbar zu dieser Namensgebung geführt haben mag, ohne dass Rückgriff auf Romantik und Klassik (Goethe/Mignon) genommen werden muss. Und noch Herzfelde schreibt in seinem Tagebuch: „Als sie [ELS] mit dem Vortrag fertig war, machte sie gerade wie beim Anfang eine sehr ulkige Verbeugung, wie ein Knabe, aber nicht scheu, sondern fröhlich.“
Zeitweise, so will es scheinen, gehen die Interpretationen und Schlussfolgerungen Meixners recht weit, etwa wenn Petrus Tino einen Dolch zusteckt – als „abnehmbarer Phallus“ –, der später blutet. Das geht bis zu dem Gedankenschluss: „Demnach wäre es Petrus, der Tino hier ‚defloriert‘.“ Dies verkennt, dass diese ganze Episode – wie weitere im Werk ELSs – „blumenreich“ und Geschehnis-verschleiernd geschrieben und wie das ganze Buch mythisch ist (ELS). Dies ist die Fabulierkunst und orientalische Denk- und Schreibweise ELSs, wie ebenfalls in ihrer Lyrik nachweisbar: „Der Himmel trägt im Wolkengürtel / Den gebogenen Mond“ (An den Herzog von Vineta). Bilder und Wortklang, weniger die Handlung, stehen im Vordergrund – auch hier. Es bleibt unklar, wie aus einer kaum oder nicht erkennbaren Prüfung – Petrus erprobt meine Leidenschaft – überhaupt eine These formuliert werden kann. Ebenso scheint der Gürtel als „Keuschheitsgürtel“ überinterpretiert, schließt letzterer doch zusätzlich die Scham selbst ab. Das bekannte Foto ‚Else Lasker-Schüler Flöte spielend im Linksprofil‘ mit Dolch in orientalischer Verkleidung und die fehlenden Blutspuren an Tinos Händen/Körper sprechen eine andere Sprache: – Waffe, Wunde, Stigma (Meixner)? Das scheint wenig stringent, denn Petrus an anderer Stelle: „Freue Dich über Deine springende Liebe, sie ist ein Kind[!] und will spielen.“
Der nun folgende Abschnitt über Die Nächte Tino[!] von Bagdads[!] [Nächte] hat in der Dissertation von Liska (1998) einen gewichtigen Vorläufer, allerdings unter dem feministischen Gesichtswinkel der Weiblichkeitsentwürfe der LS und weniger der Androgynie, jedoch in vollständiger Interpretation aller Episoden der Vorlage. Zunächst stellt uns Meixner eine Gesamtwürdigung und -interpretation der Erzählungen vor, inklusive Freud‘scher Traumdeutungen. Der Exkurs über den Orientalismus bei ELS als unter anderem die „Projektion des Eigenen in der Fremde“ und dessen Fremdsein gehört zu den Nächten, wiewohl eigentlich ein Topos. Sodann legt Meixner die in den Nächten inkorporierte Geschlechterhierarchie (Haremsdamen/Fürsten) dar.
Meixner arbeitet feinsinnig die Entwicklung der Figur Tino und ihre gewandelte Konzeption vom Peter Hille-Buch zu den Nächten heraus – Brüche und Subversionen –, deutet stellenweise jedoch etwas gewollt, etwa das Verschonen Tinos durch den Fakir von Theben als ihre androgyne Sonderrolle; vielmehr aber ist es wohl ihr vom Fakir gierig begehrter Ring, der sie vom blutenden Schicksal der anderen Frauen verschont. Gleichwohl! Einige Lesarten bei Meixner sind schwer nachvollziehbar: der Tanz der Mumie in Ich tanze in der Moschee enthalte androgyne Züge; wiegende Lenden und bunte Perlen zeigen jedoch eine ganz weibliche Tänzerin; und die Flucht aus dem Harem in Das blaue Gemach habe „androgynen Gehalt“? Dagegen sind die Episoden Ached Bey, Der Großmogul und Minn… mit den Accessoires Knabenkleider, Dolch, Perlen, Tanz und Schleier von offenkundiger Androgynie, ja auch inzestuös, wie Meixner treffend herausarbeitet.
Fazit:
Meixner verschafft uns eine Reihe neuer Einsichten und Einblicke, die wirklich bereichern. Sicher stellen ihre Androgynie-Betrachtungen in ihrer detaillierten Zusammenschau und sehr qualifizierten Auseinandersetzung mit der – mittlerweile fast unüberschaubaren – Forschungsliteratur einen begrüßenswerten Baustein in der Else Lasker-Schüler-Forschung dar. Die zum Teil spekulativ bleibenden Ansichten schmälern dies durchaus nicht, sondern bieten willkommenen Anlass zu weiterem Fachdiskurs (unangreifbar „glatte“ Wissenschaftlichkeit mag man ja nicht mehr lesen). Der Selbstinszenierungsprozess LSs mit den verschiedensten Figuren inklusive dem Autor-Ich läuft zuletzt auf eine Ich-Spaltung hinaus, nämlich manifestiert in ihrem letzten Drama IchundIch. Damit ist Androgynie nur eine der vielen (fantastischen) Spielarten Else Lasker-Schülers.
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